SZ-Magazin: Herr Jacobs, haben Sie als Kind irgendwelche Dinge gesammelt?
Frank Jacobs: Nur Panini-Bilder von Fußballspielern, aber ich bekenne mich schuldig: Ich bin ein Sammler-Typ, schreibe gern Listen und horte alle möglichen Dinge. Liegt in meinem Charakter.
Wie kommt ein Mensch nur auf die Idee, Landkarten zu sammeln?
Ich habe schon als kleiner Junge gern in Atlanten geblättert. Ich las meinen Atlas, als ob er ein Roman gewesen wäre. Ich schaute mir Afrika an und stellte mir vor, wie es wohl wäre, dort zu sein. Wie könnte ich überleben? Wie könnte ich von A nach B segeln? So funktionieren Karten: Sie regen die Fantasie an. Schulatlanten werden irgendwann langweilig. Sie zeigen Berge, Straßen, Flüsse, lassen aber zu wenig Platz für andere Dinge. Vor sieben Jahren bekam ich einmal eine Karte mit psychiatrischen Einrichtungen in Pennsylvania in die Hand. Die faszinierte mich gleich, so etwas hatte ich nie zuvor gesehen.
Wo findet ein Kartensammler Karten?
Beim Stöbern in Antiquariaten, in Büchereien wie der British Library oder der des amerikanischen Kongresses, in Universitätsbibliotheken, die von Texas etwa ist sehr gut. Zum Reisen fehlt mir selbst allerdings die Zeit. Ich suche ausschließlich im Internet und bekomme jeden Tag einige Dutzend E-Mails aus der ganzen Welt. Seit sechs Jahren führe ich mein Blog Strangemaps.com, 6000 Leute besuchen es jeden Tag und schicken mir, was ihnen über den Weg läuft. Sogar unveröffentlichte Unikate. Einmal irgendwo auf eine Tischdecke hingeschmiert reicht theoretisch schon, um in meinem Blog gesammelt und besprochen zu werden. Ungefähr 500 habe ich schon ins Internet gestellt. Der Nachschub an ausgefallenen Karten scheint unendlich. Kartensammeln ist ein sehr spezielles Hobby: Man kann sie nie alle besitzen.
Sie sammeln gar keine Originale?
Ich besitze nur wenige Kopien auf Papier. Originale können leicht einige 10 000 Euro kosten. Eine Karte von Martin Waldseemüller, einem deutschen Mönch, hat der Amerikanische Kongress für mehrere Millionen Dollar ersteigert; auf ihr tauchte 1507 zum ersten Mal der Name »America« auf. Antike Karten sind generell die teuersten.
Sie sind also nicht der einzige Kartensammler?
Wir sind viele Tausende. Hier in London gibt es eine Reihe von Läden und eine eigene Messe, auf denen man ältere reiche Sammler trifft, mit denen man sich stundenlang austauschen kann. Mehrere Blogs haben sich auf die unterschiedlichsten Karten spezialisiert: auf große, auf amerikanische, auf Karten mit hoher Auflösung, in die man
hineinzoomen kann, sogar auf Blindenkarten, die in Braille gezeichnet sind. Der Markt für Karten boomt. Inzwischen gibt es sogar Diebe, die sich auf Karten spezialisiert haben und sie in Bibliotheken aus antiken Büchern herausreißen, um sie einzeln zu verkaufen.
Welche Karten sammeln Sie?
Sie dürfen in keinem gewöhnlichen Atlas veröffentlicht worden sein. Sie müssen irgendeine Geschichte zu erzählen haben und sie müssen schön sein, müssen mich reizen.
Welche Karten sind ungewöhnlich genug?
Landkarten für den Geografieunterricht können schon sehr eigenartig aussehen, wenn sie Berge, Inseln oder Seen aus der ganzen Welt direkt nebeneinandergestellt zeigen und so Kuba gleich neben Neuseeland liegt. Historische Karten können zeigen, wie die Welt aussähe, wenn Deutschland den Ersten Weltkrieg gewonnen hätte oder wenn ganz Flandern aufgrund der globalen Erwärmung überflutet werden würde und in den wallonischen Teil Belgiens fliehen müsste. Dann gibt es noch interessante fehlerhafte Karten: Der Kartograf Gerardus Mercator wollte immer nur Gegenden verzeichnen, bei denen er sich völlig sicher war. Beim Nordpol allerdings flippte er total aus und saß einer Legende auf, nach der es Festland unter dem Nordpol gäbe. Es dauerte Jahrzehnte, bis sein Fehler aus all den Atlanten verschwand. Mercators Nordpolkarte wurde oft kopiert, sie ist ein schönes Beispiel für kartografische Irrtümer. Es gibt übrigens auch Fehler, die absichtlich versteckt werden: sogenannte Ostereier, falsche Straßen in Stadtplänen. Verlage benutzen solche Straßen als Fallen und Schutz vor Plagiaten. Man erfindet winzige Sackgassen, die es gar nicht gibt, und verzeichnet sie auf einem Stadtplan. Wie sonst sollen Verlage es nachweisen, wenn ein Konkurrent ihr Kartenmaterial einfach kopiert hat?
Kennen Sie in London so eine falsche Straße?
Einmal glaubte ich, eine auf einem Plan entdeckt zu haben: Eine winzige Sackgasse namens Elvis Street - das muss ein Fake sein, dachte ich und stieg aufs Fahrrad, um sie im Norden Londons aufzusuchen, aber es gibt sie dort tatsächlich. Ich kenne leider auch keine dokumentierten Beispiele aus dem Internet. Wahrscheinlich hängt das damit zusammen, dass Kartenverlage schnell jeden verklagen, der Namen von falschen Straßen öffentlich macht. Ich bin mir aber sicher, dass sie existieren. Die Verlage haben diesen Trick auch nie abgestritten. Es muss ja auch nicht unbedingt ein Straßenname sein, es könnte genauso gut eine erfundene Bergspitze, ein kleiner Bach oder ein nicht-existentes Kloster sein.
Haben Sie eine Lieblingskarte?
Eine bildet die Welt in Form eines dreiblättrigen Kleeblatts ab, sie gibt eine religiöse Perspektive wieder, mit Jerusalem in der Mitte; Asien und Europa erscheinen in etwa gleich groß, einige Städte sind viel zu groß geraten. Sie ist sehr schön. Man erkennt, dass sich die Geografie im 16. Jahrhundert allmählich wandelte und von der eher symbolischen Darstellung zu einer realistischeren überging. Auf der linken Seite der Karte ist ein kleines süßes Monster gezeichnet, solche Monster finden sich auf den meisten Karten aus dem Mittelalter. Meine zweite Lieblingskarte zeigt Napoleons Russlandfeldzug: Auf ihr kann man ablesen, wie viele Soldaten nach Russland zogen und wie wenige überlebten. Die Karte zeigt Opferzahlen an, verbliebene Truppenstärke, Marschroute, Marschrichtung, die Zeitspanne, Temperaturen und natürlich die Geografie mit den wichtigsten Flüssen, es ist, als ob die Karte sieben Dimensionen besitzt - das ist sicherlich die beste statistische Karte, die je hergestellt wurde.
Lügende Karten auf der Suche nach dem Schatz
Interessieren Sie sich auch für Schatzkarten?
Selbstverständlich, die meisten Schatzkarten sind allerdings fiktional und stammen aus Romanen, Erzählungen oder Märchen. Über Karten von Jules Verne und die Karte aus dem Zauberer von Oz habe ich eine Menge zusammengetragen. Die berühmteste Schatzkarte ist wahrscheinlich die aus der Schatzinsel: Robert Louis Stevenson malte sie für seinen Stiefsohn, noch bevor er das Buch dazu schrieb. Normalerweise entsteht eine Karte ja erst nach der Geschichte.
Versteht denn jeder Mensch Karten instinktiv?
Ich denke ja. Die ältesten Karten sind Höhlenmalereien, die Weidegebiete von Mammuts zeigten. Karten benutzt man also länger als die Schrift, und sie werden auch in einem anderen Teil des Gehirns wahrgenommen, der sehr viel instinktiver arbeitet. Deswegen eignen sich Karten ja auch so gut für Propaganda. So wie bei einer Karte, auf der sich eine Python um die amerikanischen Südstaaten schlängelt: ein Symbol für den Versuch, die Wirtschaft der Südstaaten abzuwürgen. Das Bild der Schlange ist sehr stark, man versteht in einer Sekunde, wofür man sonst viele Worte bräuchte. Oder denken Sie an die U-Bahn-Karte Ostberlins, die Westberlin zu einem winzigen schmalen Streifen zusammenquetschte. Propaganda-Karten funktionieren, weil wir ihre Botschaft sofort begreifen.
Karten können lügen?
Alle Karten lügen, zeigen gewisse Dinge und andere nicht. Jede normale Landkarte bricht eine dreidimensionale Wirklichkeit auf zwei Dimensionen herunter. Manches wird verzerrt, anderes weggelassen. So erklärt sich auch der Unterschied zwischen der traditionellen Mercator-Weltkarte und der von Peters, auf der Afrika und die gesamte Dritte Welt größer erscheinen. Die Mercator-Karte wirkt eurozentrisch, aber sie eignet sich besser für die Navigation.
Verlieren Karten im Zeitalter von Google Maps an Bedeutung?
Papierkarten vielleicht. Aber das Internet ermöglicht auch eine neue Art von Karten: den Kartenvergleich. Legen Sie die Karte der wenigen Bezirke im Süden der USA, die bei der letzten Präsidentschaftswahl überwiegend für Obama gestimmt haben, auf eine Karte, die die Anbaugebiete von Baumwolle vor 150 Jahren zeigt, und Sie werden sofort eine frappierende Ähnlichkeit erkennen.
Gibt es auch Karten, nach denen Sie gezielt suchen?
In einer Fernsehserie war einmal von einer Karte die Rede, auf der die Grenze zwischen Regionen verzeichnet war, in denen mit Butter gebraten wird, und denen, die mit Öl braten. So eine Karte hätte ich gern.
Wohin reist ein Kartensammler in den Urlaub?
Nur an kartenrelevante Orte. Zuletzt: Point Roberts, ein gottverlassener Ort im Nordwesten der USA, der aber auf der Spitze einer kanadischen Halbinsel liegt. Point Roberts stellt eine faszinierende Anomalie an der längsten Grenze der Welt dar. Grenzen sind sehr interessant für Kartenliebhaber. Ein kurioser Verlauf macht jede Karte von ihr schon interessant.
Und was haben Sie da dann gemacht?
Meine Freundin und ich haben eine Cola getrunken und sind dann wieder zurück nach Kanada gefahren.
Der Sammler
Frank Jacobs, 41, arbeitet hauptberuflich als Sachbearbeiter für Wirtschaftsfragen in der Belgischen Botschaft in London. Eine Auswahl aus seinem Blog erscheint am 17. September als Buch bei Liebeskind: »Seltsame Karten. Ein Atlas kartographischer Kuriositäten«. Aus diesem Buch haben wir auch die Abbildungen entnommen.
Foto: Joss Mckinley; Abbildungen aus Frank Jacobs, Seltsame Karten. Ein Atlas kartographischer Kuriositäten, Liebeskind Verlag