»Wer weiß denn heute überhaupt noch, wer Chuck Berry ist?«

Plattenboss Richard Weize von Bear Family Records im Interview über das nachlassende Interesse am musikalischen Erbe, die meistverkaufte Box seiner Firma,  seine legendäre Plattensammlung und obskure Countrysänger, die selbst einen Kenner wie ihn noch zu überraschen vermögen.

Plattenboss mit Latzhose: Richard Weize mit Bärenfamilie.

Foto: Zint

Der 35. Geburtstag ist zwar kein besonders runder, dennoch wurde er bei Bear Family Records ausgiebig gefeiert. Für die Fans des Wiederveröffentlichungslabels hatte das den angenehmen Nebeneffekt, dass eine Drei-CD-Box erschien, auf der sämtliche Songs von Bären handeln. Für mich ergab sich durch das Jubiläum die Gelegenheit, mit Richard Weize zu sprechen, der das Label 1975 gründete und dort weiterhin der Chef ist. Weize, 65, genießt unter Plattensammlern und Musikliebhabern einen legendären Ruf: wegen der vielen hundert exzellenten CDs und Boxen, die er gemacht hat; wegen seiner eigenen, ausgesprochen imposanten Sammlung; wegen seiner guten Kontakte in die US-Musikszene; und wegen seines unverblümten, meinungsstarken Naturells. Letzterer Charakterzug zeigte sich auch während des Interviews.

Herr Weize, gerade haben Sie das 35. Jubiläum Ihrer Plattenfirma Bear Family Records gefeiert, die auf opulente Wiederveröffentlichungen spezialisiert ist, vor allem aus Country und Rockabilly. Wie ist die Lage Ihres Unternehmens?
Ich bin ziemlich pessimistisch. Die Sammler, die sich für die Musik, die wir veröffentlichen, interessieren, sterben langsam weg. Und es kommen nur noch wenige neue hinzu. Außerdem gibt es kaum noch kleine, engagierte Plattenläden. Was momentan sehr wichtig ist für uns, sind Veröffentlichungen wie unsere Dreizehn-CD-Box zum Vietnamkrieg Next Stop Is Vietnam. Über die wurde sogar in Fernsehmagazin Aspekte berichtet, dadurch erreichen wir Menschen, die sonst nicht in unseren Katalog schauen würden. Das macht dann schon Spaß, obwohl man klar sagen muss, dass solche Sachen wie die Vietnam-Box oder unsere Burg-Waldeck-Box so aufwendig sind, dass sie sich eigentlich nicht rechnen. Das leisten sich nur noch kleine Firmen wie wir, wo jeder mit seinem Herzblut dabei ist.

Dennoch gibt es seit einigen Jahren eine unglaublich Schwemme an Wiederveröffentlichungen. Nie war es so leicht, an die Musik der Vergangenheit zu kommen. Ein gewisses Kundeninteresse scheint vorhanden zu sein.
Diese Schwemme gibt es, die hängt aber mit etwas anderem zusammen: Bei Musiktiteln läuft in der Regel nach 50 Jahren das Copyright ab, deshalb bringen jetzt etliche Firmen Titel heraus, für die sie keine Lizenzgebühr mehr bezahlen müssen. Oft benutzen sie dabei Bear-Family-CDs als Quelle. Aber der Markt für solche Sachen wird immer kleiner und viele Firmen haben den richtigen Zeitpunkt verschlafen. Mein Freund Andy McKaie hat bei Hip-O-Select kürzlich das Gesamtwerk von Chuck Berry herausgebracht. Ich glaube nicht, dass das besonders gut laufen wird. Wer weiß denn heute überhaupt noch, wer Chuck Berry ist und was der Mann geleistet hat?

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Befürchten Sie, dass die Erinnerung ans musikalische Erbe verloren geht?
Ja, auf jedem Fall.

Welche Box ist denn der Bestseller in Ihrem Katalog?
Der Berliner Kabarettist Günter Neumann und seine Insulaner.

Ach was! Ich hätte eher auf eine Ihrer Johnny-Cash-Boxen getippt.
Johnny Cash ist auch wichtig, aber von der Günter-Neumann-Box haben wir 15000 verkauft, das ist unübertroffen.

»Cash wird inzwischen hochgejubelt ohne Ende – ich halte ihn nicht für so eine Lichtgestalt«

Und wieviel verkaufen sie im Durchschnitt von den Boxen, auf denen Sie Countrysänger aus der zweiten Reihe präsentieren, Leute wie Tex Ritter, Little Jimmy Dickens und Floyd Tillman?
Tausend. Aber diese Künstler sind nun mal sehr interessant. Floyd Tillman habe ich noch selbst getroffen, als in Corsicana eine Statue für Lefty Frizell enthüllt wurde. Ein fantastischer Sänger und Songwriter, der die Countrymusik der Vierziger und Fünfziger geprägt hat und damals extrem erfolgreich war. Heute ist er leider vergessen.

Als ich Ihren Katalog durchgeblättert habe, habe ich gedacht: Solche Künstler wie die Country- und R&B-Sänger von damals gibt es heute nicht mehr.
Die kann es auch nicht mehr geben. Die Countrymusik basiert darauf, dass die Künstler ihre Lebenserfahrungen mitteilen. Die Leute haben damals einfach andere Erfahrungen gemacht als heute. Denken Sie nur an Hank Snow, der als Jugendlicher auf einem Krabbenkutter arbeiten musste und im Grunde immer nur ein Scheißleben hatte, bis er sich schließlich hochgekämpft hat. Oder an Merle Haggard, der mit neun auf einen Güterzug aufgesprungen und von zu Hause ausgerissen ist und mit 18 in San Quentin im Knast saß. Wie kann man solche Leute und ihre Musik mit der Countrymusik eines Garth Brooks vergleichen, der in der oberen Mittelklasse groß geworden ist? Heute haben wir eine andere Zeit und eine andere Musik.

Manchmal schafft es ein Künstler, seinen Werdegang in einen bis in die Gegenwart reichenden Mythos umzumünzen. Ein Beispiel dafür war Johnny Cash.
Durch die American Recordings hat Cash es tatsächlich geschafft, seinen Ruf hochzuhalten. Aber dieser Ruf stünde ihm eigentlich gar nicht zu. Seine letzten Platten haben Charme und man sollte sie auch haben, aber es liegen Welten zwischen Alben wie The Man Comes Around und seinen besten Werken, die alle viel früher erschienen. Cash wird inzwischen hochgejubelt ohne Ende – ich halte ihn nicht für so eine Lichtgestalt. Sein Problem war, dass er von 365 Tagen im Jahr 330 auf Tour war, weil er sich nichts anderes vorstellen konnte. Seine Musiker hat er nie ausgewechselt, so dass irgendwann alles sehr routiniert ablief.

Kürzlich habe ich mit Charlie McCoy gesprochen, der mir erklärt hat, wie früher in Nashville Platten gemacht wurden. Was würden Sie sagen: War die musikalische Begleitung früher besser als heute?
Dazu kann ich meinen Freund Richard Bennett zitieren, der war Produzent von Marty Stuart und Emmylou Harris und ist schon lange als zweiter Gitarrist mit Mark Knopfler unterwegs. Richard hat mir erzählt, wie er eines Tages im Studio saß und vor dem Beginn der Aufnahme einfach mal das ganze Stück runtergespielt hat. Da hat der junge Gitarrist neben ihm gesagt: Warum spielst du das ganze Stück? Die patchen unsere Part doch nur kurz ein. Ich glaube: Wenn Musiker ein Stück von vorne bis hinten spielen, mit allen Fehlern, dann hat das ein Leben. Wenn man alles zeitversetzt aufnimmt und später zusammenklebt, kann das doch keine Einheit werden. In den Fünfzigern und Sechzigern wussten die Musiker, bevor sie im Studio eintrafen, meist gar nicht, was für Lieder aufgenommen werden sollten. Sie haben alles zusammen mit dem Künstler und dem Produzenten erarbeitet. Das war einfach eine Einheit. Und das hört man.

Die Aufnahmetechnik hat sich in den vergangenen Jahrzehnten stark verändert. Was ist Ihre bevorzugte Ära?
Die Fünfziger- und Sechzigerjahre, bevor die Mehrspurtechnik überhand nahm und bevor die Künstler selbst Hand anlegen durften. Da saßen dann fünf bekiffte Typen im Studio und haben gesagt, so, wir machen das jetzt mal selbst. Die Erfolge waren dann ja auch da, aber musikalisch war es meines Erachtens der falsche Weg.

Warum erscheinen bei Bear Family eigentlich nicht mehr R&B- und Soul-Künstler?
Das ist einfach nicht meine Musik. Ein paar Sachen habe ich ja gemacht, zum Beispiel unsere R&B-Serie und unsere Soul-Serie, oder auch Künstler wie Piano Red oder Billy Love oder vergangenes Jahr Hank Ballard. Aber letzten Endes liegt mir die Countrymusik mehr am Herzen.

Aber ist es nicht sträflich, dass es beispielsweise keine Box mit dem Gesamtwerk von Sam Cooke gibt?
Die wird’s auch so schnell nicht geben, weil die Klein-Organisation, die die Rechte hält, nichts genehmigt. Ich kann allerdings noch ein paar Jahre warten, dann sind fünfzig Jahre abgelaufen und ich brauche keine Genehmigung mehr. An die Original-Bänder käme ich schon ran, das wäre nicht der Punkt. Und Peter Guralnick, der die große Sam-Cooke-Bio geschrieben hat, stünde auch Gewehr bei Fuß. Die Frage ist aber, ob es sich in ein paar Jahren noch lohnt. Viele in der Musikindustrie haben gedacht, das Interesse an den alten Künstlern würde immer weiter wachsen. Das wächst aber nicht mehr, das geht rapide zurück. Das beste Beispiel ist Buddy Holly: Seine Witwe, Universal und die Leute in Texas bekämpfen sich seit Jahren. Deshalb ist noch keine Box mit seinem Gesamtwerk erschienen. Mittlerweile will keiner mehr Buddy Holly hören.

Wie bewahren Sie sich Ihren Enthusiasmus?
Ich bin nicht mehr so begeistert bei der Sache wie früher. Aber es macht mir weiter Spaß, mich so richtig in Themen hineinzuarbeiten. Wir werden zum Beispiel eine Box über den Spanischen Bürgerkrieg machen. Ich hatte das Thema meinem Freund Jürgen Schebera vorgeschlagen, der Experte für diese Sachen ist. Schebera meinte, ach ne, da gibt es nicht genug. Vier Wochen später rief er mich an: Weißt Du was, man kriegt da wahrscheinlich acht CDs zusammen. Wenn so ein Projekt ins Rollen kommt, macht das schon Spaß.

Gibt es denn auch für einen Kenner wie Sie in der Countrymusik noch Neues zu entdecken?
Ja, in der dritten oder vierten Reihe. Da gibt es eine Menge Künstler, die es nicht weit gebracht haben, die aber saugut sind. Seit einiger Zeit beschäftige ich mich zum Beispiel mit einem Sänger namens Lee Emerson. Der hat in den Fünfzigern für Columbia aufgenommen, dann zwei Duette mit Marty Robbins und in den Siebzigern noch eine Single für Huey Meaux gemacht, die Shelby Singleton veröffentlicht hat. Es gab keine Bilder von ihm, keinen Lebenslauf, nichts. Ich habe dann in einem Countrymagazin von 1956 einen Artikel über ihn gefunden. Colin Escott hat sogar seinen Sohn aufgetrieben, der ihm eine spektakuläre Geschichte erzählt hat. Anscheinend hat Lee Emerson eine Affäre mit der Frau von Staff Sergeant Barry Sadler gehabt. Sadler hat 1977 an der Tür von Emerson geklingelt und ihn erschossen. Wir haben jetzt also eine Bio mit einer ungewöhnlichen Wendung, ein paar Fotos, fast alle Aufnahmen – wenn man das alles zusammengetragen hat, freut man sich ein Loch in den Bauch, weil man mal mit nichts angefangen hat.

Zum Abschluss noch die Frage nach Ihrer eigenen Sammlung. Diese soll legendäre Dimensionen haben.
Es sind 30000 LPs, 10000 Schellacks, 100000 Singles. Eigentlich Wahnsinn.

Was soll mal daraus werden?
Das ganze wird wahrscheinlich ins Klaus-Kuhnke-Archiv für populäre Musik in Bremen wandern. Lange glaubte man ja, dass so eine Plattensammlung viel wert sein wird – totaler Quatsch. Einzelne Platten sind schon noch etwas wert, aber das Gros ist nichts mehr wert. Für LPs aus den Fünfzigerjahren, die mich damals 300 Dollar gekostet haben, kriege ich heute vielleicht noch zehn Euro. Die paar Bekloppten, die das noch sammeln, werden immer weniger.