Nicht erschrecken, aber die Lage ist ernst: Der Welt gehen die Zufallszahlen aus. Klingt nach einem Problem, das einen nicht weiter zu interessieren braucht, wenn man in Mathe immer nur eine Vier hatte? Von wegen. Denn Zufallszahlen sind ein wertvoller Rohstoff: Ohne sie lassen sich weder Unwetter vorhersagen noch Aktienkurse berechnen oder sichere E-Mails versenden. Wie ernst die Lage ist, hat der holländische Mathematiker Arjen K. Lenstra im Frühjahr gezeigt: Er hat 7,1 Millionen angeblich zufälliger Zahlenreihen untersucht, die für die Verschlüsselung von Internetverbindungen benutzt werden. Sein Ergebnis: Tausende Doppelungen und Muster. Die bisher genutzten Zufallszahlen sind oft nicht zufällig genug. Und damit quasi wertlos.
Forscher brauchen Zufallszahlen vor allem für zwei Dinge. Erstens: Um zu überprüfen, ob ihre mühsam berechneten Prognosen tatsächlich bessere Ergebnisse bringen, als wenn die Wissenschaftler einfach nur geraten hätten. Und zweitens werden wichtige Daten im Internet mit einer Art Vorhängeschloss aus Zufallszahlen versehen, damit E-Mails oder Banküberweisungen nicht von jedem mitgelesen werden können. Wenn die Zahlen eben doch nicht zufällig sind, kann ein Computer die Codes knacken – und das ganze Modell ist unbrauchbar.
Für die Gewinnung von Zufallszahlen sind Computer keine große Hilfe: Ein Rechner tut eben nur, was ein Mensch ihm sagt. Und wenn jemand ein Programm schreibt, das zufällige Zahlen generieren soll, folgt der Computer keinem Zufallsprinzip, sondern nur einem von Menschen ausgedachten Algorithmus. Den Befehl »Halte dich an keine Regel« verstehen Computer nicht.
Bisher haben Forscher mit sogenannten Pseudozufallszahlen getrickst: Zahlen werden durch komplizierte Rechenschritte gejagt, ein paar Dezimalstellen werden weggestrichen, was übrig bleibt ist fast so unzusammenhängend wie eine ausgedachte Nummer. Doch weil Rechner immer schneller werden, erkennen sie leichter, wie solche Zahlenreihen zustande gekommen sind. Man muss sich den Unterschied zwischen zufälligen und nicht zufälligen Zahlen vorstellen wie diese Intelligenztests, bei denen man eine Reihe vervollständigen muss: 2,4,6,8 zum Beispiel, das ist noch einfach, schon schwieriger ist es bei 5,7,11,13,17 (aufsteigene Primzahlen), bei 1,4,1,5,9,2,6 wissen nur Profis weiter (Kommastellen der Kreiszahl Pi). Computer sind unschlagbar im Erkennen von so was. Nur selber ausdenken können sie sich diese Reihen nicht.
Für Menschen sollte es kein Problem sein. Hier, bitte: 19, 4, 67, 5728, 3. Dazu fallen dem Mathematik-Professor Johann Baumeister von der Uni Frankfurt zwei Dinge ein. Erstens: Für Versuche braucht man ein paar Millionen solcher Zahlen, das kann kein Mensch leisten. Zweitens sind selbst ausgedachte Zahlen oft nicht wirklich zufällig, sondern folgen persönlichen Vorlieben (meine Frau hat an einem 19. Geburtstag, diese Zahl werde ich also tendenziell öfter verwenden).
Ein paar Mathematiker haben vor über 60 Jahren für das US-Verteidigungsministerium ein Buch mit einer Million Zahlen herausgegeben, die von Messungen elektrischer Impulse abgeleitet wurden. Wirkte toll und völlig zufällig – bis jemand merkte, dass auch in der Natur der Zufall weniger oft vorkommt, als gedacht. Das Buch A Million Random Digits ist heute ein Sammlerstück.
Doch die Verknüpfung aus Rechenleistung und Naturbeobachtung war ein Startschuss: Seitdem experimentieren Labore mit neuen Ideen, um die besten Zufallszahlen zu produzieren. Der Mathematik-Professor Baumeister spricht von einem »Wettkampf«. Die Berliner Humboldt Universität beteiligt sich, auch Oxford ist dabei, aber momentan sieht es so aus, als hätten australische Forscher nach jahrelanger Tüftelei die beste Methode gefunden: Sie betrachten einen Prozess der Quantenmechanik, der auch nach neuesten Beobachtungen keinem Schema folgt: Die Ausbreitung bestimmter Lichtteilchen in einem Vakuum. Jeder Bewegung ordnen sie eine Zahl zu – so schaffen sie fast sechs Milliarden Zufallszahlen pro Sekunde. Eine millionenteure Geschäftsidee? »Nein, wir stellen die Zahlen im Internet umsonst zur Verfügung«, sagt Thomas Symul, der an dem Projekt beteiligt ist. Bitte? »Unser Prinzip basiert ja nur auf der Annahme, dass Quantenmechanik wirklich unzusammenhängende Bewegungen hervorbringt.« Bisher hat noch kein Computer das Gegenteil bewiesen. Vielleicht ist das Problem also gelöst. Wenn es der Zufall so will.
Illustration: ottoGraphic