Die Frage, ob ich denn schon 18 bin, höre ich seit inzwischen 16 Jahren. Zuletzt im März bei einer Lottoannahmestelle. Die Frau an der Kasse hatte gleich diesen zweifelnden Blick: »Ich möchte sichergehen: Haben Sie Ihren Ausweis dabei?«, fragte sie. Hatte ich nicht. »Ich bin 34, werde demnächst 35!«, sagte ich. Dann deutete ich auf den Kindersitz auf meinem Fahrrad vor der Tür, aber erst als ich Handybilder mit meiner Tochter auf dem Arm vorzeigen konnte, durfte ich den Lottoschein abgeben. Ich bekomme graue Haare, aber mein Bartwuchs ist nie über die frühe Pubertät hinausgekommen. Ich könnte einen strichdünnen Clark-Gable-Oberlippenbart tragen oder einen Kinnbart wie Fernsehköche von RTLII. Aber die interessanten Bartformen sind mir unmöglich: Dreitagebart und Vollbart. Wilde, raue, ungezähmte, ja, verdammt: sexy Bärte. Vollbart, so etwas tragen Revolutionäre, Philosophen, Abenteurer! Wäre ich Robinson Crusoe, niemand hätte mir geglaubt: »Ach komm, mit dem Bärtchen warst du doch höchstens drei Tage auf der Insel.« Und niemals könnte ich mich hinter einem Rauschebart so gut verstecken wie Radovan Karadzic in Belgrad oder (weniger gut) Saddam Hussein im Erdloch.
Immerhin: Jahr für Jahr wird mein Bart dichter, nur sehr langsam, geschätzt 30 Bartstoppeln mehr pro Jahr, eher 25. Ich ersehne den Tag, an dem sich meine vom Kinn kommenden Barthaare mit den vom Ohr hinabkriechenden Stoppeln zu flächendeckendem Bartwuchs vereinen. Mit Mitte 20 dachte ich, mit Mitte 30 sei es so weit, jetzt hoffe ich auf Mitte 40.
Kaum Bart zu haben ist nicht furchtbar – eher ärgerlich. Ich könnte mir Bartstoppeln höchstens aufmalen (mein Bruder hat sich auf die Art mit 16 Jahren einen Videotheken-Ausweis ab 18 verschafft), aber das wäre albern. Es hilft nur: immer frisch rasiert aussehen. Derzeit sind dummerweise bärtige Männer angesagt: Typ Folksänger, Naturbursche, Holzhacker. Kernige Kerle passen wohl besser zu Krisenzeiten. Könnte ich noch so geschickt die Axt schwingen, ich gäbe doch einen erbärmlich unnaturburschigen Holzhacker ab. Ebenso unbrauchbar bin ich als Taliban. Manchmal sieht man auf Islamisten-Gruppenfotos unter lauter grimmigen Vollbärtigen einen Kämpfer mit mickrigem Bart: Der Witz-Taliban wäre ich.
Der Bart gilt in fast allen Religionen als Beweis der Gläubigkeit: Ich könnte weder strenggläubiger Jude noch hinduistischer Asket oder orthodoxer Priester werden – bei meinem Bartwuchs geht eigentlich nur Katholik. Mit Papst Benedikt als einem der wenigen rasierten Religionsführer. Schwacher Bartwuchs ist gar nicht so selten, hier in der Redaktion haben allein drei Kollegen das Problem. Schon von Natur weniger Bartwuchs haben etwa nordamerikanische Ureinwohner und Männer in Südostasien. Sogar im Koran, der, wie die Bibel, viele Bartträger kennt, wird berichtet von einem »Ishaq, der wenig Bart hatte«.
Doch warum haben manche Männer wie Ishaq und ich weniger Bart als andere? In Internetforen schreiben Betroffene, spärlicher Bartwuchs sei erblich – aber mein Vater hatte normalen Bartwuchs. Als weitere Erklärung gilt ein geringerer Testosteronspiegel – aber warum habe ich dann eine so tiefe Stimme? Mein Bartwuchs macht keinen Sinn. Zeit, mit Dermatologen zu sprechen, am erfreulichsten war das Gespräch mit dem Düsseldorfer Arzt und Barthaarexperten Afschin Fatemi. Dessen erster Tipp: »Nehmen Sie mal eine Lupe.« Um nachzusehen, ob ich nicht einfach nur dünne, helle Barthaare habe. Und überhaupt: »Dass ein Mann viel Bart hat, sagt nichts darüber aus, wie männlich er ist.« (Yeah!) Doktor Fatemi vermutet, dass ich weniger Testosteron-Rezeptoren habe, wodurch das Bartwuchs-Hormon nicht so gut im Gesicht andocken kann wie bei Vollbartträgern. Erfreulicher Nebeneffekt: Ich bin weniger empfänglich für Haarausfall. (Stimmt, keine Glatze in Sicht.)
»Bei unseren Vorfahren war starker Bartwuchs sinnvoll als Schutz vor Kälte«, so Fatemi, »weil wir nicht mehr darauf angewiesen sind, hat sich die Körperbehaarung im Lauf der Jahrtausende ausgedünnt.« Ich solle mich einfach als Sieger der Evolution fühlen, schlägt er vor, »das sage ich als jemand, der selber starken Bartwuchs hat«. Der bartlose Mann wäre evolutionstechnisch einen Schritt weiter als Vollbartträger. Und: »Der Bart kommt und geht als Trend«, beruhigt Fatemi, »denken Sie an den buschigen Schnauzbart der Achtziger, an Magnum und Schimanski. Wer trägt das noch?«
Bis der Vollbart von den Laufstegen und aus den Frauenmagazinen verschwunden ist, werde ich wieder die Winnetou-Bände lesen. Auf Rucksacktour durch Südostasien.