Es herrscht Krieg in Oberbayern, Dorf gegen Dorf, Nacht für Nacht. Noch im letzten Kaff sind alle Mann im Einsatz, Waffenruhe gibt es nicht, Gnade schon gar nicht, und die Methoden sind ziemlich sonderbar:
Seit Tagen warten die Unterbrunner jeden Abend auf die Dunkelheit, damit sie mit ihren Feldstechern hinter die feindlichen Linien spähen können. Die anderen, die Berger, die Hanfelder, die Ebenhausener, wissen, dass die Unterbrunner irgendwo da draußen sind und verschanzen sich in Bauwagen, postieren Wachen neben Lagerfeuern, spielen Schafkopf, trinken Kaffee, hören laute Musik, nächtelang. Nur nicht einschlafen. Ein Nickerchen, und die Unterbrunner könnten zuschlagen. Die Ehre des ganzen Dorfes steht auf dem Spiel. Und alles nur, weil in Oberbayern wie jedes Jahr im April der Maibaum-Krieg ausgebrochen ist. Und Unterbrunn, ein 750-Seelendorf im Landkreis Starnberg, dreißig Kilometer südlich von München, will ihn unbedingt gewinnen.
Stichtag ist der 1. Mai. Bis dahin müssen die Unterbrunner Burschen nach altem bayerischem Brauch irgendeinem anderen Dorf den Maibaum geklaut haben. Sie haben ein Jubiläum vor Augen: Es wäre ihr fünfzigster Maibaumklau seit 1949. So viele hat keine andere Gemeinde mitgehen lassen, obwohl unzählige seit hundert Jahren in den Maibaumkrieg ziehen. »In den Wochen vor dem 1. Mai haben alle Angst vor uns«, sagen die Unterbrunner, »aber unseren eigenen Baum, den hat noch nie einer bekommen.«
Mittwoch, 14. April: Um zehn Uhr abends kommt ein wuchtiger Mann mit silbernem Ohrring in den Gasthof »Högner«, Florian Schleifer, 27, Schriftführer des Unterbrunner Burschenvereins. Am Tisch vor dem Tresen wird Schafkopf gespielt, mit dabei ein kleiner Mann mit rotem Haar, Richard Keindl, der »Högner«-Wirt, und jeden April aufs Neue der wichtigste Mann des Dorfes. »Bap« nennen ihn alle, »Papa«. »Ohne den wäre beim Maibaumklauen alles anders«, sagen die Jungburschen. »Der hat die richtige Nasn dafür, wo die anderen Dörfer ihre Bäume lagern.« Dieses Jahr ist er sechzig geworden, seit mehr als vierzig Jahren ist er dabei, 47 Bäume hat er schon mitgehen lassen, manchmal zwei in einem Jahr. In der entscheidenden Nacht wird alles auf sein Kommando hören.
Am Nachbartisch sitzen vier junge Männer. Auch sie spielen Karten. Einer von ihnen ist Thorsten, 21, der mit seinem dunklen Teint sehr gesund aussieht, Elektrotechnik in München studiert und heute noch Bäume ausspionieren will. Dafür hat er sich eine Hose der US-Army angezogen.
Um 23 Uhr kommt Sebastian, 19, ins Wirtshaus. Verpennt sieht er aus. Nach der Arbeit in der Schreinerei hat er nur zwei Stunden geschlafen. Weil er wieder dabei sein wollte, wie letzte Nacht und die Nächte zuvor auch. Um 23.30 Uhr steigen Thorsten und Sebastian ins Auto. Dunkle Klamotten an? Handys auf Vibration? Gut. Dann los.
Florian Schleifer, der Schriftführer und Organisator, zieht lieber die Fäden im Hintergrund: Hunderte von Zeitungsausschnitten über gestohlene Bäume hat er in Ordnern gesammelt. Alles Erinnerungen. Florian Schleifer ist ein Macher, der so ein Dorf zusammenhalten kann. Der kennt jeden, grüßt jeden, mag jeden und beim Maitanz sitzt er an der Kasse und führt die Besucher-Strichliste. Und obwohl er in München als Ingenieur arbeitet, würde er nie aus Unterbrunn wegziehen. Er mag, wie die Menschen hier ihr Leben führen: »Faschingszug, Maibaum, Sommerfest. Faschingszug, Maibaum, Sommerfest.« So laufen die Jahre dahin, das hat Ordnung, da geht man nicht verloren.
Der Anruf von der Front, wenn's los geht, der landet bei ihm. Deswegen schaltet er seit Tagen sein Handy nicht aus. Ein wichtiger Mann, der Schleifer Flo, und über den Maibaum-Brauch weiß er so ziemlich alles:
Alle fünf Jahre bekommen die bayerischen Gemeinden einen neuen Maibaum, in der Regel eine Fichte. Schon Ende März holen die Burschen- und Trachtenvereine den Baum ins Dorf, um ihn für die Maifeier weiß-blau zu bemalen. Früher, im 18. Jahrhundert, wurden die Maibäume als Zeichen bayerischer Treue zu Kirche, König, Handwerk und Burschenschaft aufgestellt. Heute sind sie der Stolz der Gemeinde und werden streng bewacht. Sobald die Bäume innerhalb des Dorfes lagern, können andere Dörfer versuchen, diese zu stehlen. Gelingt der Diebstahl, gibt's als Auslöse Bier und Brotzeit für die Diebe, danach herrscht wieder Frieden.
Kurz vor Mitternacht: Thorsten, der Student, und Sebastian, der Schreiner, fahren raus aus Unterbrunn und rein nach Oberbrunn, im Radio läuft Bayern 3, Justin Timberlake. Thorsten summt mit. Sebastian und er mögen die Stadt, aber finden es auch »bärig«, wie in Unterbrunn alle zusammenhalten, und deswegen machen sie auch mit, bei den Bräuchen und den Festen und den Tänzen. Auf seinen Spionage-Touren fährt er am liebsten ein Auto mit Münchner Kennzeichen, erklärt Thorsten, dann fällt er weniger auf, beim Hin- und Herrangieren, wenn es darum geht, den Baum zu sichten oder die Wachen zu zählen.
0.15 Uhr, Hanfeld, das Nachbardorf. Das Holzgestell gegenüber vom Wirtshaus ist noch leer. Weiter also, nach Starnberg, Tankstellenstopp. Gekauft werden Chips und kalter Kaffee in Dosen.
0.30 Uhr, Berg am See, fünf Kilometer weiter. Gegenüber des »Oskar Maria Graf Stüberls« liegt der Baum der Berger. Um zwei Bauwagen herum hocken mindestens zwanzig Schüler um ein Lagerfeuer. Auch Mädchen sind dabei und freuen sich, dass endlich mal was los ist im Dorf. Sogar ein hölzernes Plumpsklo mit Satellitenschüssel gibt es. »Unklaubar, dieser Baum«, sagt Thorsten. Weiter.
0.35 Uhr, Ebenhausen. Thorsten zählt aus dem fahrenden Wagen acht Wachen. »Bei vier hätte man aussteigen und mal genauer schauen können, aber so?«
0.50 Leutstetten. Thorsten und Sebastian fahren das ganze Dorf ab, rein in die Hinterhöfe, rauf auf einen Hügel, wieder umdrehen. Pinkelpause. Kein Baum zu sehen. Zurück nach Unterbrunn also, endlich mal wieder ein paar Stunden Schlaf.
Dienstag, 20. April: Noch zehn Tage. Der Bap hat sich längst eingeklinkt, sucht Bäume, zählt Wachen, sechs, sieben Stunden, jeden Tag. Die nächtlichen Ausflüge dauern oft bis vier Uhr morgens. »Du stehst jeden Morgen auf, quälst dich durch den Tag und schwörst dir, die folgende Nacht daheim zu bleiben«, sagen die Burschen. »Am Ende fährst du wieder mit.«
Mittwoch, 21. April: Sebastian muss zwei Tage nach Amsterdam auf Montage. Jeden Morgen fliegt eine SMS von Unterbrunn nach Holland der Lagebericht. »So gut bewacht waren die Bäume noch nie«, stöhnt Florian Schleifer. »Wenn es irgendwo klappt, dann in der Stadt, da interessiert sich der Nachbar schon nicht mehr für das, was zehn Meter weiter passiert«, sagen die Unterbrunner. Teenager aus der Stadt haben nachts Besseres zu tun, als eine gefällte Fichte zu bewachen. Die Fahrten übers Land werden weniger, die nach München mehr.
Freitag, 23. April: Nach seiner Vorlesung entdeckt Thorsten in München-Lerchenau, in der Nähe des Olympiaparks, einen Baum. Er erstattet Bericht beim Bap. Der erteilt den Auftrag für die Nacht: Wachen beschatten, Gelände erkunden. Stunden später beobachten vier Unterbrunner hinter Büschen, wie Punkt sechs Uhr morgens die Lerchenauer Wachen ihre Posten aufgeben, ohne abgelöst zu werden. So könnte es klappen. Morgen geht's los, der Bap hat entschieden.
Samstag, 24. April, Lerchenau: Der Bap, Sebastian und Thorsten kommen gegen Mitternacht in der Lerchenau an. Sie verschanzen sich wieder im Gebüsch, frieren und schauen: Der Baum liegt auf Böcken, daneben steht ein Bauwagen, drinnen spielen vier ältere Männer Karten. Ab und an geht einer nach draußen. Um ein Uhr werfen die Männer den Grill an, es gibt Würstchen. Um vier Uhr ruft der Bap in Unterbrunn an. Florian Schleifer hebt ab.
»Es geht los!« Florian Schleifer legt auf und ruft sechs weitere Komplizen an: »Auf geht's, Baum stehlen.« Fünf Minuten später rasen die sechs durchs Dorf, um die ganze Mannschaft, insgesamt fünfzig Mann, zur großen Kastanie zu bringen.
Florian Schleifer schlüpft in seine schwarze Trainingshose und in seinen schwarzen Blouson, auf den Kopf setzt er sich eine dunkelblaue Wollmütze. Handy in die Tasche ganz, ganz wichtig. Zehn Minuten später passiert Florian Schleifer zusammen mit fünfzig Unterbrunnern in Parkas und schweren Stiefeln in sieben Pkw das Ortsschild von Unterbrunn. An der Spitze der Unimog eines Unterbrunner Kleinunternehmens und ein blau lackierter einachsiger Baumwagen. Halt, da kommt noch einer. Der Geiger Hans war auf dem Veteranenball, hat acht Bier intus, will auch noch mit und schlüpft in den Kofferraum von Florian Schleifer. Als dessen Ford-Kombi die Auffahrt zur A 96 Richtung München erreicht, hat der Himmel die Farbe blauer Weintrauben.
Um sechs Uhr ist der Himmel taubengrau. Die Unterbrunner sammeln sich am OBI-Parkplatz. Entfernung zum Baum: 500 Meter. Es ist kalt, es nieselt. Einer hat sich Bauhand-schuhe angezogen, ab und zu furzt einer. Dann ein Anruf aus dem Gebüsch. Sebastian hat schlechte Nachrichten: Die Wachen bewegen sich nicht von der Stelle.
Um 7 Uhr: Wachablösung im Bauwagen. Ein Mann und eine Frau, beide über sechzig, ersetzen die vier Männer. Florian Schleifers Handy klingelt. Wieder ist Sebastian dran: »Die frühstücken.« Die Laune auf dem OBI-Parkplatz wird mieser, der Regen stärker. Zehn Minuten später fährt der erste Kleinbus mit fünf Mann zurück nach Unterbrunn. Die Kühe haben Hunger. Der Rest der Männer beginnt zu maulen. »Noch eine halbe Stunde Geduld.« Florian Schleifer fleht seine Männer an. Es ist jetzt hell.
Um 7.45 Uhr dann der Anruf vom Bap bei den Männern am Parkplatz: »Wir versuchen es.« Die Wachen sind im Wagen. Und von dem aus lässt sich der Baum nicht einsehen. Es ist die einzige Chance für die Unterbrunner. Wenn sie leise sind, wenn sie schnell sind.
Schlag acht Uhr schleichen die Unterbrunner über die Wiese, durch ein Gatter, rauf auf einen Feldweg. Der Bap, der nach seinem Anruf zurückgeschlichen ist, vorneweg, o-beinig zieht er an der Deichsel des Baumwagens, die anderen schieben. Dann kommt der Baum in Sicht. Die Meute schleicht näher. Die Tür des Bauwagens ist zu. Zehn Minuten haben sie jetzt, vielleicht weniger.
Die Mannschaft gruppiert sich um den Baum, zehn Mann vorn, zehn hinten, der Rest in der Mitte, zum Glück nieselt der Regen auf das Dach des Wagens, irgendwo mäht einer den Rasen. Dann die Böcke raus, vorsichtig, könnten klappern. Baum anheben, ein, zwei Tonnen, Baumwagen drunter schieben, eine Hälfte vorn, die andere hinten, zwei Unterbrunner kraxeln auf den Baum, sitzen auf ihm wie Cowboys beim Rodeoreiten und binden ihn mit Tauen am Baumwagen fest. Spanngurte surren. Immer wieder schaut der Bap zum Bauwagen, panisch, wo sich dem Himmel sei Dank nichts tut, obwohl er nur fünf Meter daneben steht.
Dann bewegt sich der Baum endlich zehn Meter, zwanzig Meter, durchs Gatter, ein paarmal vor und zurück, so geht's um die enge Kurve rein in den Feldweg. Fünfzig Meter. Gatter zumachen. Äste knicken. Statt den Mund reißen die Männer die Augen auf, wenn sie Kommandos geben. Zehn Minuten nach acht hängt der Bap keuchend die Deichsel an den Unimog. Drinnen sitzt schon einer und fährt los, Richtung Stadtteilgrenze. Da müssen sie hin, dann ist es geschafft. Schnell steigen alle in ihre Autos und eskortieren den Baum mit Warnblinkanlage durch die Wohnsiedlung. Blicke und Gesichter wie in einem WM-Finale, 1:0, noch drei Minuten zu spielen.
Fünf Minuten später schiebt sich eine Fichte mit weiß-blauem Girlandenmuster Meter für Meter über die Moosacher Straße. Ein Auto nach dem anderen kriecht hinterher. Auf der anderen Seite angekommen, reißen die Unterbrunner die Türen auf, springen raus, jubeln, hauen sich auf den Rücken, schreien. Endlich haben sie ihn, ihren fünfzigsten. Heim geht's über den Mittleren Ring. Kurz vor Unterbrunn hockt sich ein Trompeter auf den Baum und spielt, wie er sagt, »das Diebesgut ins Dorf«. Auf den Balkonen stehen junge Mädchen in Pyjamas und winken.
Dienstag, 27. April: »Hilfe, wer hat unseren Baum geklaut?« Mit diesem Slogan sucht der Heimat- und Volkstrachtenverein Lerchenau auf Radio Arabella die Maibaumdiebe. Ehrensache, dass der Schleifer Flo anruft und verkündet: »Das waren die Unterbrunner.«
Mittwoch, 28. April: Bei den Auslöseverhandlungen werden sich die beiden Vorstände schnell einig: Eine Brotzeit gibt's für jeden und 200 Liter Bier für die Mannschaft. Und die zwei Wachen der Lerchenauer? Heißen Richard und Babette Högerl und sind vorsichtshalber mal ein paar Tage nach Österreich gefahren.