Wer hätte je gedacht, dass aus dem, was wir einst »Telefon« nannten und im Flur oder auf dem Schreibtisch platzierten und was wir später »Mobiltelefon« tauften und in der Hand-, Hosen- oder Jackentasche transportierten, dass daraus also ein Zweithirn werden würde, ein Extra-Gedächtnis zumindest, auf das wir in jedem Gespräch zurückgreifen können?! Wie hieß noch mal der Bassist von U2? (Adam Clayton, ruft das Smartphone.) Wann bekam Churchill den Nobelpreis? (1953) Wie war der Name des Dortmunder Fußballers, den sie »Aki« riefen und der bei der WM 1958 Kapitän der Nationalelf war? (Schmidt, genau!, Alfred Schmidt.)
Und wer hätte, zweitens nun, je geglaubt, dass auch dies nur ein Anfang wäre! Auf der Internetseite des Wissenschaftsmagazins Nautilus las ich einen Aufsatz des New Yorker Autors James Somers, der eine nahe Zukunft ausmalt, in der die um uns herum anwesenden Geräte jedes Gespräch aufzeichnen und archivieren, ein andauerndes Lebensprotokoll, das man als weiteres ausgelagertes Hirn benutzen kann. »Unglaubliche Dinge werden möglich«, schreibt Somers, denn wo etwas archiviert sei, könne man auch darin suchen: »Zeig mir alle Unterhaltungen mit Michael vor dem Januar letzten Jahres ... Was war die Adresse des Restaurants, das Mama mir empfohlen hat? ... Wann habe ich zum ersten Mal Robs jetzige Frau erwähnt? ... Wer war noch mal bei diesem Meeting anwesend?«
In der letzten Ausbaustufe bedeutet das: Man muss sich, erstens, gar nichts mehr merken. Und man muss, zweitens, auch nicht mehr zuhören.
»O, Mann, seit zwanzig Minuten rede ich auf dich ein, und du bist total abwesend!«
»Schatz, das macht doch nichts, red einfach weiter, ich höre mir später die zentralen Stellen an. Jetzt läuft hier gerade Fußball im Liveticker.«
Woran erinnert das noch mal?
Richtig: an die Leute, die auf Reisen immerzu fotografieren, um sich später daheim anzuschauen, wo sie waren.
Der Mensch verschwindet, wenn das alles so weitergeht, aus dem Jetzt, er lebt immerzu irgendwo anders, selten dort, wo er gerade ist. In der britischen Science-Fiction-Serie Black Mirror, schreibt Somers, sieht man ein Paar beim leidenschaftlichen Sex. Bei näherer Betrachtung ist zu erkennen: Beide sehen auf ihren, den Augen implantierten Bildschirmen eine Wiederholung von etwas längst Geschehenem. Immerhin: Einmal haben sie’s geschafft!
Das ist natürlich sehr bequem. Wenn alle solche kleinen Augen-Screens tragen oder wenigstens eine Google-Brille, dann muss sich keiner mehr mit einem miserablen Namensgedächtnis plagen. Kaum steht jemand vor dir, wird in deinem Auge eine Schrift erscheinen: »Das ist Heinz! Er ist Ovo-Lacto-Vegetarier, du kennst ihn von einer Party 2012 bei Anja und hast ihm damals den Witz von den drei Affen auf der einsamen Insel erzählt. Er hat höflich gelacht und ihn sich auch nicht gemerkt.« Oder wird das gar nicht mehr erscheinen, sondern direkt ins Hirn gespeist? Wird man also etwas wissen, ohne es zu wissen, sondern es nur wissen, weil der Computer es weiß?
Aber was passiert mit den Hirnarealen, in denen man sein Wissen lagerte? Was wird aus dem Gedächtnis? Kann man es vermieten? Könnte ich zum Beispiel mein Erinnerungsvermögen an Volkswagen verpachten, das dort ein paar geheime Details über illegale Abgasvermeidungsstrategien speichert? Oder an den DFB, der in einem verwickelten, den Steuerbehörden schwer zugänglichen Teil meines Kopfes eine Schatzkarte ablegt, mit den Geheimwegen zu 6,7 Millionen Euro?
Fest steht, dass graue Zellen, die nicht arbeiten, verkümmern. (Man sieht das jeden Montag in Dresden.) Das ist wie mit Muskeln, die keiner trainiert. Und weil es für die Muskeln, die man nicht braucht, aber dennoch nicht verlieren möchte, Fitnesscenter gibt, werden wir wohl bald im Braincenter oder im Memoryclub sitzen und einfachste Übungen für ein Hirn machen, das wir nicht verloren hätten, wenn die Menschheit nicht ununterbrochen geniale Geräte erfinden würde.
Illustration: Dirk Schmidt