Der Schriftsteller Nicholson Baker hat mal zu der Frage Stellung genommen, wie groß Gedanken seien. Er behauptete, die meisten Gedanken seien ungefähr einen Meter groß und besäßen das Komplexitätsniveau eines Rasenmähermotors, eines Feuerzeugs oder einer jener Zahnpastatuben, denen aus irgendwelchen Gründen gestreifte Creme entquillt.
Ab und zu komme einem mal ein Gedanke, »der in seinem wirren, geschichteten Aufbau ungefähr so groß wie der eigene Dielenwandschrank erscheint«. Und dann gebe es natürlich die richtig großen Gedanken, aber dazu lesen Sie bitte Baker selbst bei rororo. Wir wollen uns dem Normalgedanken zuwenden und der Frage, wie Ein-Meter-Überlegungen in unserem Hirn Platz finden. Ein Meter, das klingt sperrig. Wenn Gedanken aus Holz wären, würden sie einem aus dem Ohr ragen, was das Trambahnfahren für gedankenvolle Menschen unmöglich machte, weil sie sich ständig an den Haltestangen verfingen.
Mit gutem Grund also scheint die Substanz von Gedanken eher weich zu sein, seil- oder fadenförmig, sodass man sie zusammenrollen und in Hirnzellen aufbewahren kann wie in Schränken. Meine persönlichen Vorstellungen von Gehirnorganisation haben ja ohnehin nichts mit Medizin oder Biochemie zu tun, eher etwas mit altmodischen Büros, in denen Boten hin- und hersausen, Eiliges mit einer Rohrpost verschickt wird, und wo in einer technischen Abteilung Leute in ölverschmierten blauen Kitteln die grundlegenden Körperfunktionen koordinieren.
Genau besehen glaube ich, dass es in meinem Gehirn in mancher Hinsicht nicht wesentlich anders als in einer Zeitungsredaktion aussieht, wobei in meinem Fall Sport-, Kultur- und Lokalteil die größten Büros haben und zum Beispiel der Wirtschaftsteil katastrophal unterbesetzt in einer entlegenen Kammer haust.
Erinnert sich jemand übrigens an diese Puppenstuben-Bilder des Weißen Hauses, die vor der US-Wahl in allen Zeitungen waren? Man hatte vom Gebäude das Dach abgenommen und sah: Hier ist das Oval Office, da wohnt die Familie, dort residiert der Sicherheitsberater. So sieht es jetzt auch in Barack Obamas Kopf aus.
Es mag sein, dass die moderne Forschung hier anderer Meinung ist, aber was geht mich die moderne Forschung an? Bei mir werden Gedanken in einer Art Aktenrollschrank gelagert, und umso interessierter lese ich, was man gerade an der Universität von Leicester in England herausgefunden hat: dass nämlich Erinnerungen an Personen in einzelnen, exakt zu lokalisierenden Hirnzellen archiviert werden. Sah zum Beispiel eine Versuchsperson ein Bild von Jennifer Aniston, wurde nur eine einzelne Jennifer-Aniston-Zelle aktiv, betrachtete jemand ein Foto von Halle Berry, erwachte die Halle-Berry-Zelle zum Leben.
Das wirft eine Reihe von Fragen auf: Reicht für Barack Obama eine Hirnzelle aus? Benötigt er nicht eine Zellensuite? Und wie, bitte sehr, ist es möglich, dass wir so wenig Herr unserer Hirne sind? Dass es mir nicht gelingt, Boris Becker meines Hirnes zu verweisen, sodass ich beim Anblick eines Becker-Bildes sagen könnte: »Äh… Hä?« Nein, der Beckergedanke ist aus seiner Zelle auch durch großzügiges Lüften nicht zu entfernen; er logiert dort gegen meinen Willen.
Vor längerer Zeit entdeckte ich das genau entgegengesetzte Wolfgang-Gerhardt-Phänomen. Niemals gelang es diesem Mann, einem FDP-Politiker, eine meiner Hirnzellen zu erobern, mehr noch (und das ist das Phänomen): Sobald er ein Amt bekleidet, vergesse ich nicht nur ihn, sondern auch das Amt. Wäre er je Bundespräsident geworden, hätte ich vergessen, dass es einen Bundespräsidenten gibt, es hätte für mich eine Art Loch in der Welt gegeben.
Je älter ich werde, desto schlimmer wird das auch in anderen Fällen. Ich könnte das Kabinett Brandt-Scheel von 1969 hersagen, aber am Tag nach der bayerischen Regierungsbildung hatte ich vergessen, dass es eine bayerische Regierung gibt. Und wozu.
Illustration: Dirk Schmidt