Vor Wochen starb Freund M. Er war Behalter. Hob alles auf. In seinen Schubladen fand man Listen, auf denen er sich ein Erledigungsprogramm für je eine Woche notiert hatte, zum Beispiel: Nivea, * Henry 18, Glühbirne Schlafzimmer, über Bezieh. zu Ly. nachdenken, Fußballkarten???, endlich neue Klobürste, Projekt »Scharlatan« ja oder nein?, Getränkedienst … So ging das, Banales neben Großem, wie in Thomas Manns Tagebüchern. Schnurrt das Leben nicht bei jedem gelegentlich zu einer solchen Erledigungsliste (für Jüngere: to-do list) zusammen? Immer wünscht man sich, die Liste mal abgearbeitet zu haben. Doch fürchten wir uns vor der Leere an ihrem Ende …
Wir leben im Zeitalter der Listen, alles wird in Erstens-zweitens gegliedert oder in Fünf-Punkte-Pläne, wenn man Politiker ist, für die es das Schlimmste ist, keinen Listenplatz zu haben. Je unübersichtlicher die Welt, desto mehr Listen! Seit Nick Hornby den Roman High Fidelity mit einer Liste begann (»Die ewigen Top Five meiner unvergesslichsten Trennungen …«), sind Bestsellerlisten voll mit Listen-Bestsellern wie Schotts Sammelsurium; selbst dieses Magazin hier enthält diese Woche eine Liste, sehen Sie selbst nach, Seite 52. Deshalb wundert nicht: Das neueste in Amerika erschienene Buch über Sex ist eine Liste. Die Psychologen Cindy Meston und David Buss haben für Why Women Have Sex 1006 Frauen gefragt, warum sie Sex hatten, warum sie Sex haben, warum sie Sex haben werden und warum sie gerne Sex hätten. Ergebnis: 237 Gründe, keiner mehr, keiner weniger, and the number one iiiiis: physisches Vergnügen. Erst auf Platz zwei die Liebe, die Frau ausdrücken, bekommen, bewahren will. Wobei das Buch mit erstaunlichen Statistiken gefüllt ist, zum Beispiel jener, der zufolge 73 Prozent aller Russinnen verliebt sind, aber nur 61 Prozent aller Russen. Was entweder bedeutet, dass zwölf Prozent aller Russinnen einem leid tun können. Oder dass sie Ausländer lieben. Oder dass sie alle in Putin vernarrt sind.
Übrigens gibt es auch den Sex-Grund »Pflichtbewusstsein«, den eine Interviewte so formulierte: »Die meiste Zeit liege ich einfach da und mache Listen in meinem Kopf. Ich grunze ab und zu, sodass er weiß, dass ich wach bin, und wenn es vorbei ist, sage ich ihm, wie großartig es war. Wir sind glücklich verheiratet.« Sie macht Listen im Kopf! Und er? Löst Rechenaufgaben, was?
Unvergesslich im Zusammenhang mit dem Listen-Thema Loriot in Papa ante Portas, im Lebensmittelladen rufend: »Mein Name ist Lohse, ich kaufe hier ein!« Dann, am Tresen: »Wir haben da zwei Möglichkeiten: Entweder ich lese Ihnen im Ganzen vor, was ich auf der Liste habe, oder wir gehen alles einzeln nacheinander durch.«Kurz vor der Buchmesse 2009 entdecke ich ein Buch von 2004 über Neologismen, das sind Wortneuschöpfungen. Das Werk einer Linguistin, die unter anderem die Bildung neuer Wörter bei Thomas Bernhard, Christian Morgenstern und Axel Hacke untersucht, wobei die Freude darüber, meinen Namen in der Reihe zu lesen, durch die Bemerkung der Autorin geschmälert wurde, meine Texte richteten sich »an ein breites Lesepublikum ohne gehobene ästhetische oder künstlerische Erwartungshaltung«. Lesepublikum, wie findest Du das?
Neologismen. Bei Bernhard sind das Bernhardwörter wie Verrücktenkleidung, Sacherterrasse, Blumenstockgassenzimmer, bei Morgenstern Sonnenstrahltüchlein, Sinnengewinsel, Fleischdusel, in meinem Fall hirschblöde, jödeldüdelnd, Tannenschößlingsfresserei. In einer Vergleichsliste liegt Bernhard bei Wortneuschöpfung durch Komposition mehrerer Wörter klar vor mir, leicht abgeschlagen folgt Morgenstern. Hingegen gelang meinen Gegnern im Fach »Wortgruppenlexembildung« kein einziger Punkt, ich bin hier klarer Sieger, was mich um so stolzer macht, als ich 1.) nicht weiß, was ein Wortgruppenlexem ist, es also 2.) dem ohnehin erwartungsarmen Lesepublikum also auch nicht sagen kann und 3.) logischerweise auch nicht sagen werde.
In der kommenden Woche hat das Publikum fünfmal Gelegenheit, Axel Hacke auf der Bühne zu erleben. Am 12. Oktober liest Hacke in Freiburg, am 13. in Karlsruhe und am 14. in Tübingen. Am 17. und 18. Oktober tritt er in Berlin auf, bei den "Wühlmäusen" und im Schloßpark-Theater.
Dirk Schmidt (Illustration)