Das Beste aus aller Welt

Unsterblich kann der Mensch sich auf viele Arten machen: durch Selbsteinwechselung im Fußball wie Günter Netzer, oder durch in der Forschung weiterlebende Zellen wie die Amerikanerin Henrietta Lacks. Ob das mit der Unsterblichkeit aber auch bei unserer Nationalelf klappt?


Das Finale der Fußball-Weltmeisterschaft steht an, elf Männer können unsterblich werden, weil große Spiele eine Gelegenheit sind, Unsterblichkeit zu erlangen, wie Günter Netzer bereits vor dem Spiel der Deutschen gegen die Engländer bemerkte. Netzer wusste, wovon er redete, er ist selbst unsterblich, er hat Dinge getan, die man nie vergessen wird. Zum Beispiel hat er sich im Pokalfinale 1973 zwischen Gladbach und Köln selbst eingewechselt, nie hatte einer so was getan, nie wieder wird das geschehen.

Netzer sagte vor Beginn der Verlängerung zum erschöpft am Boden liegenden Gladbacher Kameraden Kulik, er solle draußen bleiben, er, Netzer (der bislang nicht zur Elf gehörte) werde ihn ersetzen. So geschah es, ohne dass Trainer Weisweiler zugestimmt hätte oder überhaupt gefragt worden wäre. Netzer schoss das Siegtor für Gladbach. Das Schöne an der Unsterblichkeit ist im Falle Netzer: Er kann sie zu Lebzeiten genießen. Das ist, was wir alle uns wünschen: Wir möchten unsterblich sein, aber wir möchten auch etwas davon haben! Kann zum Beispiel Goethe, der zweifellos ein Unsterblicher ist, sich seiner Unsterblichkeit erfreuen? Steht er, während ich das Wort »Goethe« schreibe, unsichtbar neben mir und denkt, was für ein Hecht er, Goethe, doch sei, wenn selbst mindere Autoren sich seiner plötzlich und sogar im Zusammenhang mit Fußball erinnern?

Geistert Goethe um seine Denkmäler herum, von der eigenen Bedeutung ergriffen? Oder: Nützt es der Qualle Turritopsis nutricula, dass nach ihrem Absterben aus Zellen ihres Außenschirms neue, sexuell unreife Medusen entstehen? Sodass diese eine, quasi identische Qualle als Individuum den Lebenszyklus wieder neu durchläuft und wieder und wieder und wieder … – als ob man nach dem hoffentlich fernen Tode Netzers aus seinen Haarspitzen neue Günternetzers gewönne, die wiederum ins Fußballleben eingewechselt würden.

Meistgelesen diese Woche:

Im September dieses Jahres erscheint in Deutschland das Buch Die Unsterblichkeit der Henrietta Lacks von Rebecca Skloot, das in Amerika ein Bestseller ist. Es geht darin um eine Mutter von fünf Kindern, Henrietta Lacks eben, die vor fast 60 Jahren in Baltimore an Gebärmutterhalskrebs starb. Bevor sie starb, entnahm man ihr eine Gewebeprobe, setzte sie in eine Nährlösung – und mit diesen Zellen gelang, was nie zuvor möglich gewesen war: Sie teilten sich und wuchsen, außerhalb des menschlichen Körpers, und leben noch heute in ungezählten Tochterkolonien überall in den Laboratorien der Welt.

Man nennt sie HeLa-Zellen. Ohne sie hätte vielleicht nie einer den Polio-Impfstoff entwickeln können, mit ihrer Hilfe schuf man Medikamente gegen Leukämie, Parkinson und Grippe, der Verkauf dieser unsterblichen Körperteile von Henrietta Lacks ist ein Kassenschlager, mit dem Tag für Tag viel Geld verdient wird – nur nützte das weder Henrietta Lacks noch, nach ihrem Tod, ihrem Mann und den fünf Kindern, die teilweise selbst früh starben und weder eine Krankenversicherung hatten noch Geld für die Behandlung ihrer Leiden. Ja, sie wussten lange Zeit nicht einmal, welche Riesenrolle die Zellen ihrer Mutter in der Medizin spielen, erst durch Zufall erfuhren sie nach Jahrzehnten davon. Und die Wissenschaftler, die mit den HeLa-Zellen forschten, verschwendeten oft keinen Gedanken daran, dass sie gerade mit dem arbeiteten, was von einer Toten übrig war; erst während der Gespräche mit der Buchautorin Skloot machte sich mancher diesen Umstand klar.
Seitdem, sagte einer, habe er das Gefühl, es sei »ein Geist im Labor – der Geist von Henrietta«.

Noch mal zu diesem England-Spiel: Einer ist ja wirklich unsterblich geworden an jenem Tag, das war der Schiedsrichter Larrionda, der als einziger Mensch auf Gottes großer Erde nicht sah, dass der von Lampard getretene Ball hinter der deutschen Torlinie gelandet war, sodass nun noch in Jahrzehnten und lange nach Larriondas Tod die Menschen, wenn sein Name erklingt, sagen werden: Larrionda, Larrionda – war er nicht jener Schiedsrichter? Ja, er war’s. Aber wie gerne wär’ er es nicht gewesen!

Illustration: Dirk Schmidt