Da dieser Text sowohl auf Papier als auch im Internet zu lesen ist, hat er zwei Sorten Leser: solche, die ihn auf Papier gedruckt lesen, und solche, die ihn im Internet zur Kenntnis nehmen. Neuere Untersuchungen haben nun ergeben, dass Leser von Gedrucktem ihre Lektüre oft bereits nach der Hälfte des Geschriebenen beenden, wohingegen Onlinetexte in der Regel schon nach einem Fünftel abgebrochen werden.
Weil der große Trend zum Internet geht, dahin also, dass immer mehr Menschen nicht mehr Papier in die Hand nehmen, wenn sie lesen, sondern sich dazu vor einen Bildschirm setzen, bedeuten die Forschungsergebnisse: Immer weniger Texte werden zu Ende gelesen, immer häufiger ist die Lektüre immer früher zu Ende. An dieser Stelle möchte ich mich, weil das erste Fünftel der Kolumne beendet ist, von vielen Lesern an den Computern verabschieden, die erschöpft die Segel streichen.
Aus Texten, deren erste Fünftel ich im Internet gelesen habe, weiß ich, dass es eine Bewegung namens Slow Reading gibt, ein Langsam-lesen-Movement, analog zu Slow Food, das - im Gegensatz zum Fast Food - sich einer würdevolleren Nahrungsaufnahme verschrieben hat. Viele jüngere Kollegen, schreibt der Oxforder Historiker Keith Thomas, würden ihre Quellen nicht mehr lesen, sondern mit einer Suchmaschine checken. Die Hyperaktivität der Internetnutzer, so der Wissenschaftspublizist Nicholas Carr, beeinträchtige deren intellektuelle Fähigkeiten, die nötig seien, umfangreichere Texte zu verstehen. Slow Reading, sagt einer seiner Propagandisten, der Kanadier John Miedema, sei ein gemeinschaftliches Vorgehen dagegen: Man leihe sich unter Nachbarn wieder gegenseitig Bücher aus und diskutiere darüber. Man lese seinen Kindern lange Geschichten vor, bis sie einschlafen. Ein herzliches Adieu nun den Lesern der gedruckten Kolumne, die nach der ersten Hälfte nicht mehr weiterkönnen. Wir sehen uns gewiss ein anderes Mal wieder, auf ein paar kurze Worte.
Die neuen Helden
Die Engländerin Jackie Cobell, 56 Jahre alt, hat kürzlich einen neuen Rekord bei der Durchschwimmung des Ärmelkanals aufgestellt: Sie schaffte die Strecke Dover-Calais in 28 Stunden und 44 Minuten, nie war jemand langsamer als sie. Der Geschwindigkeitsrekordhalter auf dieser Strecke, ein Bulgare namens Stojtschev, hätte in dieser Zeit viermal hin und her kraulen und noch ein bisschen baden können; seine Zeit lag vor einigen Jahren bei sechs Stunden, 57 Minuten und 50 Sekunden.
Aber was ist sein hektisches Geschwimme gegen die Fähigkeit, fast 29 Stunden Wind, Wellen und Kanalfähren zu trotzen? Warum rufen wir nicht Jackie Cobell zur Heldin einer Slow-Sport- Bewegung aus, die sich der Albernheit einer immer absurderen Tempojagd auf den Feldern der Leichtathletik und in den Bassins der Schwimmbäder widersetzt? Warum machen wir nicht die Tour de France von einer hektischen Raserei zu einer gemütlichen Radlrallye durch Frankreich? Welches Mittel wäre wirksamer gegen Doping?
Hier unsere neuen Helden: Lloyd Scott, der 2002 (bekleidet mit einem fünfzig Kilo schweren Tiefseetaucheranzug) sechs Tage, vier Stunden, dreißig Minuten, 56 Sekunden für einen Marathon in Edinburgh benötigte, Weltrekord! Nicolas Mahut und John Isner, die heuer im Juni in Wimbledon elf und eine Viertelstunde Tennis spielten, das Match zog sich über drei Tage hin - wann hätte man je für eine Eintrittskarte mehr geboten bekommen?!
Slow Sport, Slow Food, Slow Reading. Slow Writing! Für jeden meiner Texte an dieser Stelle benötige ich eine komplette Woche! Ich schreibe jeden Tag nur 85 Wörter, langsamer ist niemand in diesem Gewerbe, und ich werde künftig noch weniger schreiben, denn wenn die Leute nur ein Fünftel eines Textes in sich aufnehmen und wenn diesen Satz hier niemand mehr liest, werde ich in Zukunft auch nur noch dieses erste Fünftel verfassen. Ich werde mir viel Zeit dafür nehmen, es werden nur noch zwölf Wörter jeden Tag sein, und ich werde dennoch mehr Zeit zum Lesen haben, zum Schwimmen, Laufen, Tennisspielen, alles schön slowly.
Illustration: Dirk Schmidt