In unserer kleinen Serie »Vom Moskauer Stadtverkehr lernen« geht es heute zunächst um den Kutusowskij-Prospekt, eine neunspurige Straße mitten in der russischen Hauptstadt, die im Berufsverkehr normalerweise vollständig verstopft ist. Indes befindet sich in der Mitte des Prospekts eine Fahrspur, die nur von Blaulicht-Fahrzeugen befahren werden darf, eine fest installierte Rettungsgasse.
Wählt man aber die Moskauer Nummer 495 9260603, kann man, wie ich vor einer Weile las, einen Notarztwagen bestellen, der innen äußerst komfortabel eingerichtet ist, allerdings nicht wie ein Sanitätsfahrzeug, sondern nach Art einer Stretch-Limousine, mit großflächigen Sitzen und viel Beinfreiheit. So kommt der Gast mit Tatütata und hohem Tempo durch dichtesten Verkehr, allerdings für viel Geld.
Wer darüber nicht verfügt, ist nach wie vor auf die Metro angewiesen. Dort wiederum steht neuerdings an der Station Wystawotschnaja (das ist auf der Filjowskaja-Linie zwischen den Haltepunkten Kiewskaja und Meschdunarodnaja; die älteren Moskauer U-Bahn-Fachleute unter uns kennen die Station noch als Delowoi Zentr), an der Station Wystawotschnaja also, welche sich übrigens von den meisten anderen Bahnhöfen, die in der Zeit Chrutschtschows in billigster Bauweise errichtet wurden, nach ihrer Renovierung vor einigen Jahren durch eine prunkvoll-moderne Glas-Edelstahl-Konstruktion unterscheidet, hier am Haltepunkt Wystawotschnaja mithin, dessen Name auch dem fremdsprachigen Besucher der Stadt schon nach zwei Gläschen Wodka flüssig von der Zunge gleitet, probieren Sie’s mal: Wyyysdawodddschsch-naja – asso jenfallllls hier hamse ein’ neu’n, hupp, Ding, ein’ Ticket-Audo … Audo-madddn …, Herrschaft, räusper: Au-to-ma-ten aufgebaut.
An diesem Apparat kann, wer in zwei Minuten dreißig lupenreine Kniebeugen schafft (der Vorgang wird von einer Kamera gefilmt und gegebenenfalls von Wladimir »Kniebeuge« Putin persönlich begutachtet), eine kostenlose Metro-Fahrkarte erhalten; er spart damit 30 Rubel, das sind 70 Cent. Die Aktion soll die russische Bevölkerung einerseits zur Ertüchtigung anspornen und sie andererseits auf die Winterspiele in Sotschi hinweisen.
Darüber hinaus aber zeigt uns die Sache, wie sehr auch das Transportwesen an der Erziehung des modernen Menschen mitwirken kann. In Berlin erzielt man ja schon seit Jahrzehnten beachtliche Erfolge in diesem Punkt: Die Busfahrer hier sind angewiesen, die Türen sofort zu schließen, wenn sie eines in letzter Sekunde herbeihetzenden Fahrgastes ansichtig werden. Erst wenn der bis zur nächsten Station hinter dem Transportmittel hergelaufen ist, darf er es benutzen. Viele Berliner wären längst tot, würden sie nicht Tag für Tag Herz und Kreislauf auf diese Weise trainieren. Dem Grundgedanken folgend (dass nämlich ein Transport immer an eine nicht-geldliche Leistung des zu Transportierenden gebunden ist) plant nun die Grüne Partei, ausschließlich jenen Bürgern eine Autofahrt in deutsche Innenstädte zu erlauben, die hundert U-Bahn-Fahrscheine vorweisen können. Einen U-Bahn-Fahrschein wiederum bekommt nur, wer einen Teller Gemüse leer gegessen hat. Vor deutschen Konditoreien werden Fahrrad-Ergometer aufgebaut. Torte oder Kuchen darf kaufen, wer den zur Herstellung des Backwerks notwendigen Strom vorher selbst erzeugt hat. Für Kunden von Hamburger-Bratereien werden personalisierte Statistiken geführt: Nur wenn einer das Gewicht aller von ihm bis dato gegessenen Hackfleischsemmeln vor dem Geschäft mit einer Hantel zügig in die Luft whoppen kann, bedient man ihn. In München ist geplant, jedem Kunden der Verkehrsgesellschaft, der tausend Tram-, Bus- oder Bahntickets abliefert, eine Blaulichtfahrt mit Polizei oder Feuerwehr ins Büro oder in die Schule zu spendieren. Ab zehntausend Karten wird man vom Ministerpräsidenten Seehofer selbst im Dienstwagen mautfrei an den Urlaubsort chauffiert.
Illustration: Dirk Schmidt