Zurzeit liest man in den Zeitungen oft Artikel, in denen junge Eltern über ihre Belastung klagen. »Die große Erschöpfung« steht als Überschrift über solchen Texten oder »Geht alles gar nicht«. Sie bekämen Beruf und Familie einfach nicht unter einen Hut oder nur um den Preis entsetzlicher Müdigkeit, schreiben die Autoren; die Notwendigkeit, als Eltern kleiner Kinder beide berufstätig zu sein und Geld zu verdienen – ach, sie schafften das einfach nicht.
Natürlich gibt es Gegenartikel, zum Beispiel unter der Rubrik »Ruhe, ihr Jammer-Frauen!«, in denen andere Eltern mitteilen, sie könnten dieses Gegreine nicht mehr hören, wir lebten in einem der reichsten Staaten der Welt, jedes Heulen über Abgespanntheit, mangelnde Zuversicht und zu wenig Unterstützung verbiete sich, anderswo stürben die Kinder am Hunger, und hier seien die Leute in ihrem Narzissmus und ihrer Ich-Liebe nicht mal in der Lage, partnerschaftlich zu klären, wer morgens Frühstück macht oder unter der Woche das Bad putzt. Wer Kinder habe, führe nun mal ein anderes Leben als Leute ohne Nachwuchs, so sei das, Müdigkeit sei immer inbegriffen.
Ich möchte diesen Streit nicht entscheiden. In meinem Leben hat es Zeiten gegeben, an die ich mich insgesamt wegen großer Müdigkeit kaum erinnere, insbesondere bezweifle ich, dass es die Jahre 1986/87 und die Zeit zwischen 2004 bis 2006 überhaupt gegeben hat; ich weiß jedenfalls wenig über sie. Kennen Sie die These vom »Erfundenen Mittelalter«? Also die Behauptung, dass die Jahre von 614 bis 911 gar nicht existiert hätten, sie seien reine Erfindung, auch Karl der Große sei eine Ausgeburt der Fantasie? So geht es mir mit jenen Jahren: Sie verschwimmen im Dämmer der Schlaflosigkeit, wie verschluckt von einem Nebel aus Kinderstimmen, Koffein und Kolumnen.
War es übrigens, wie ich mich dunkel entsinne, nicht so, dass Paola, meine Frau, und ich Gespräche führten über die Frage, wer der Müdere sei? Dass wir stritten über Müdigkeitsgrade, Müdigkeitsgründe? Was auffällt: Müdigkeit ist nach wie vor ein subjektiver Begriff, das ist ein Problem.
Warum kann man Müdigkeit nicht objektiv messen wie Fieber, Inflation, Blutalkoholgehalt oder Erdbeben? Man könnte doch vielleicht die Schwere der Augenlider beurteilen anhand der nach oben offenen Müdigkeitsskala. Oder die Gähnhäufigkeit auf einem Müdometer ablesen. Die Weite der Mundöffnung auf einem Gähneal. Auch wäre denkbar, in eine Art Messbecher hineinzugähnen, um das Müdigkeitsvolumen zu erfassen.
Die Einheit, in der Müdigkeit zu messen und mit der Müdigkeit anderer ja dann auch zu vergleichen wäre, müsste natürlich, so schlägt Bruno, mein alter Freund, vor, das Schnarch sein. Anhand von ausführlichen Eich-Messungen müder Menschen würde man eine Art Urschnarch festlegen (vergleichbar dem aus Iridium und Platin bestehenden und in Paris lagernden Urmeter), danach wäre es dann mit Hilfe einfacher und so schnell wie präzise funktionierender Messgeräte möglich, endlich vergleichbare Aussagen zu treffen.
Stellen Sie sich vor, ich hatte gestern 9,6 Kiloschnarch, so groggy war ich noch nie.
Schatz, bringst du bitte heute die Kinder ins Bett? Ich habe 11,7 Kubikschnarch und du nur 10,6, also bitte …
Chef, ich liege bei zwölf Quadratschnarch, das ist weit über allen Grenzwerten, ab elf darf man nicht mal mehr Nachtsitzungen bei Koalitionsverhandlungen leiten oder Wachdienst in einem bulgarischen Atomkraftwerk schieben, und da soll ich diesen ganzen großen Stapel hier wegarbeiten?
Ja, so käme man zu einer objektivierten Müdigkeitsmessung, man könnte die Müdigkeit von Generationen vergleichen, ganz andere gesellschaftliche Debatten wären möglich, mit scharfen, klaren Daten unterlegt, nicht dieses müde Zeug von heute.
Illustration: Dirk Schmidt