Das Beste aus meinem Leben

Notizen aus Venedig (V): Dies ist, sozusagen, eine anekdotische Stadt. An alles und jedes, was man hier sieht, knüpft sich eine Geschichte, an die sich wiederum eine Geschichte knüpft, an die sich wiederum…Sei es die Geschichte der Gebeine des heiligen Markus, die man unter einem Haufen Schweinefleisch aus dem Morgenland hierher schmuggelte, wissend, dass Moslems das Fleisch nicht anrühren würden.Sei es die Geschichte des Dogen Dandolo, der auf die Bitte der Abgesandten eines Kreuzfahrerheeres, sie – im Namen Gottes! – mit Schiffen und Verpflegung auszurüsten, die klassisch venezianische Antwort gab: »Zu welchem Preis?« Weil die Kreuzfahrer kein Geld hatten, bat der Doge sie, als Gegenleistung einige aufständische Orte in Dalmatien zurückzuerobern, und weil das als Preis nicht reichte, eroberte man gleich noch Konstantinopel, wo der Doge Dandolo verstarb und überhaupt die Kreuzfahrt ein Ende hatte. Die Ritter erreichten das Heilige Land nie, obwohl sie doch bezahlt hatten.Wer sich alle diese Geschichten merken und sie erzählen könnte, der käme vom Hundertsten ins Tausendste und es würde ihm gehen wie dem Touristen, der sich ohne Stadtplan nach Venedig wagt. Er würde sich unweigerlich verirren im Dickicht des Erzählten.Hier nun, nach Lektüre eines Stapels von Venedig-Büchern, meine drei vorläufigen Lieblingsanekdoten.Erstens: Der Venezianer Casanova wurde in Paris einem verarmten französischen Herzog vorgestellt, der war Ritter des Ordens vom Heiligen Geist. Sein am Rock getragener Orden bestand allerdings nur aus Strasssteinen und Blech. Casanova hingegen trug einen Orden aus Gold und Brillanten, dessen Nachteil war, dass er ihn erfunden und sich selbst verliehen hatte. »Sehen Sie«, sagte der Venezianer, »Ihr Orden, Monseigneur, ist echt, aber falsch. Meiner ist falsch, aber echt.« (Gefunden in Herbert Rosendorfers Buch »Venedig – Eine Einladung«, erschienen bei Kiepenheuer & Witsch.)Zweitens: Eines der größten und berühmtesten venezianischen Adelsgeschlechter war die Familie Giustinian. Aber im 12. Jahrhundert waren buchstäblich alle männlichen Mitglieder der Sippe in Schlachten getötet oder von der Pest dahingerafft worden. Nur ein einziger Giustinian lebte noch, indes als Mönch in einem Kloster auf dem Lido. Die Venezianer, erschüttert vom Gedanken, diese Familie könnte aussterben, sandten eine Petition an den Papst: Er möge den letzten Giustinian von seinem Ordensgelübde befreien. Der Papst tat dies. Der Adlige verließ sein Kloster, heiratete eilig eine Tochter des gerade regierenden Dogen und hatte mit ihr neun Söhne und drei Töchter. Als die beiden ihre Pflicht getan hatten, wurde er wieder Mönch auf dem Lido, sie hingegen gründete ein eigenes Kloster auf einem entlegenen Eiland in der Lagune. (Gefunden in Jan Morris’ Buch »Venice«, erschienen bei Faber and Faber.)Drittens: Eine reiche deutsche Familie beschloss eines Tages, ein halbes Jahr in Venedig zu verbringen, in einem großen Palast am Canal Grande. Die Familie hatte unter anderem einen halbwüchsigen Sohn, der von einem neuen, etwas naiven Kindermädchen beaufsichtigt wurde, das gerade erst vom Lande gekommen war. Diesem Mädchen erzählte der Sohn, dass die Leute in Venedig kein Schweine- und auch kein Rindfleisch äßen. »Das sind Kannibalen, die essen nur Menschenfleisch«, sagte er. Aber sie glaubte ihm kein Wort.Am Tag vor der Abreise ging er wieder zum Mädchen und erzählte ihr: »In Venedig gibt es keine Straßen, da gibt es nur Wasser, und man ruft kein Taxi, sondern ein Boot, und man fährt mit dem Boot vor die Haustür.« Auch das glaubte sie ihm natürlich nicht.Zwei Tage später waren sie in Venedig.Das Kindermädchen verließ ein halbes Jahr lang nicht das Haus. (Gefunden in Peter Bichsels neuem Sammelband »Kolumnen, Kolumnen«, erschienen bei Suhrkamp.)