Das Beste aus meinem Leben

Aus gegebenem Anlass schlage ich unter dem Begriff Chaos im Lexikon nach. Ich lerne, das Wort bezeichne im Griechischen einen klaffenden Raum, eine gähnende Leere. Es gebe auf dem Peloponnes eine tiefe Schlucht dieses Namens, vergleichbar der Ur-schlucht Ginnungagap in der nordischen Mythologie. Chaos, lese ich in meinem mehr als hundert Jahre alten Konversationslexikon von Meyer, sei »in der altgriechischen, unter Hesiods Namen gehenden Dichtung der leere unermessliche Raum, welcher vor allen Dingen war«, der Urzustand der Welt, die Vorstufe des wohlgeordneten Kosmos. Weil aber das Chaos, so mein lieber Meyer, nie mit einem bestimmten Charakter versehen und beschrieben worden sei, »sondern bald als völlig regungslos, bald als im innern Kampfe seiner widerstreitenden Elemente begriffen gedacht wurde, so bedeutet es auch sprichwörtlich eine ordnungslose, verwirrte Masse, Gemengsel, Gewirr«.

Ich fasse zusammen: zuerst Chaos, dann Kosmos. Ist von der Bedrohung des Kosmos durchs Chaos die Rede?
Nein.
Es ist aber auch schon ein altes Lexikon, wie gesagt.
Denn erleben wir nicht alle das Chaos als tägliche Bedrohung unserer Ordnung? Unseres Kosmos? Neigen nicht die Gegenstände dazu, sich von vorgesehenen Orten zu entfernen und dort zu liegen, wo man sie nicht haben will? Quillt nicht aus Schubladen und Schränken, in die wir das Chaos unter Mühen stopfen, Tag für Tag neue Unordnung? Erobert der Urzustand also Teile unserer Welt immer wieder neu – und wir müssen ihn Morgen für Morgen zurückdrängen, unsere Wohnungen aufräumen, unsere… ach, alles?

Das ist, im Weltmaßstab gesehen, als befände sich der Mond heute in einer Umlaufbahn um die Erde, umkreiste aber morgen den Mars, wohingegen der Merkur ein anderes Sonnensystem aufgesucht hätte, dafür aber Planeten aus fernsten Fernen sich in unserem tummelten?

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Was mir am meisten Sorgen macht: dass in unseren Familien Agenten des Chaos leben: unsere Kinder. Die heimkommen und ihre Schuhe ausziehen und sie liegen lassen, wo sie sie ausgezogen haben, und die ihre Hosen ausziehen und sie liegen lassen, wo sie sie ausgezogen haben, und die ihre Strümpfe ausziehen und sie liegen lassen, wo sie sie ausgezogen haben. Als wüssten sie nichts von der Fürchterlichkeit des Chaos und von der Lieblichkeit der von Menschen geschaffenen Kosmen. Oder als sei ihnen das alles egal.

Wie soll man sich verhalten? Herumliegende Gegenstände stumm wegräumen? Sie schreiend wegräumen? Sie stumm nicht wegräumen? Sie schreiend nicht wegräumen? Sie unter lautem Verlesen von Meyers Konversationslexikon wegräumen?

Immer noch suche ich, der Vertreter der Ordnung und des Kosmos, nach einem pädagogischen Konzept. Aber wahrscheinlich wäre es einfacher, einen Weltplan zu entwerfen, in dem nicht jeder Gegenstand automatisch Plätzen zustrebt, an denen er nichts zu suchen hat, sondern Orten, die ihm gebühren. Wahrscheinlich wäre es einfacher, eine Jeans zu erfinden, die sich selbst aufräumt.

Bis es so weit ist, hebe ich Luis’ am Wohnzimmerboden liegende Hose auf, während er vom Sofa her sagt: »Holst du mir eine Bionade aus dem Kühlschrank?«
Ich schreie, wie in der nordischen Sage der Urwolf Rägin aus der erwähnten Urschlucht Ginnungagap seinen Urwolfschrei heraus schreit.
»Was glaubst du eigentlich..?«, beginne ich.

Luis sagt: »Hey, beruhige dich. Ich dachte nur, weil du gerade stehst und ich was im Fernsehen sehen will…«
»Ich stehe immer. Und warum? Weil ich immer gerade etwas aufräumen muss«, heult der Urwolf.
»Du bist zwanghaft«, sagt Luis und holt sich seine Bionade selbst, trinkt sie aus und stellt die leere Flasche…
Ach, nee, nee, nee.

Illustration: Dirk Schmidt