Wie so einige von Grimms Märchen stammt auch Rotkäppchen nicht von den Brüdern Grimm, sondern von dem Franzosen Charles Perrault, der die Geschichte im 17. Jahrhundert zum ersten Mal schriftlich als Le petit chaperon rouge veröffentlichte und sie seinerseits wahrscheinlich irgendwo gehört hatte. Bei Perrault stand neben dem Satz »Damit ich dich besser fressen kann« noch die Anmerkung: »Diese Worte spricht man mit lauter Stimme, um dem Kind Angst zu machen.« Überhaupt gab der Autor für den Fall, dass der Leser irgendwas nicht so kapieren sollte, wie er, Perrault, es vorgesehen hatte, weitere Anweisungen zur Textverarbeitung: Bei ihm war der Wolf nämlich nicht bloß ein Wolf, sondern er symbolisierte den Mann als Gefahr für junge Mädchen; Rotkäppchen legte sich bei Perrault zum Beispiel nackt zum Wolf ins Bett. Am Ende schrieb der Verfasser, es gebe übrigens verschiedene Arten von Wölfen, auch charmante, ruhige, bescheidene und höfliche, »unglückseligerweise sind es gerade diese Wölfe, welche die gefährlichsten von allen sind«.
Anderthalb Jahrhunderte später war der Wolf (im Gegensatz zum Mann) in Europa mehr oder weniger ausgerottet. Erst jetzt kehrt er zu uns zurück, rund 200 seiner Art leben wieder in Deutschland, gerade ist wieder eine Welle von Wolfsberichterstattung durch die Zeitungen gegangen. Doch was ist aus dem wilden Wolf von einst geworden?! Zwar stromert noch bisweilen ein sittlich haltloses Tier vor einem Waldkindergarten herum, zwar erzählte der Wolfsforscher Luigi Boitani im Spiegel die Geschichte, in Italien gebe es Leute, die glaubten, die Wölfe im Apennin seien mit Fallschirmen abgeworfen worden, was eine ganz wunderbar neue Art von Märchen ist: Lupus als militärisch gedrillter, disziplinierter Luftlandewolf.
Die Wahrheit jedoch ist: Hinter jedem Wolf steht naturschutzbehördlicherseits heute ein Wolfsberater oder eine Wolfsmanagerin mit rotem Dienstkäppchen, die ihn beobachtet, steuert, nummeriert, katalogisiert. In der Schweiz, so Boitani, gebe es ein »Wolfskonzept«, das sich folgendermaßen zusammenfassen lasse: »Wenn Sie ein Wolf sind und in der Schweiz leben wollen, sind Sie willkommen und stehen unter Artenschutz. Sie dürfen auch Schafe reißen. Aber höchstens 25. Beim 26. Schaf sind Sie tot.«
Interessante Vorstellung: wie der Wolf, dem noch sein 25. Lammhaxerl aus dem Maul ragt, vor dem Gendarm steht, der ihn darauf hinweist, das sei aber nun das allerletzte Mal gewesen. Worauf der Wolf (der ja zur Lügenhaftigkeit neigt) zu jammern beginnt, gewiss habe er das linke hintere Schafbein gefressen, aber das Tier sei bereits tot gewesen und der Mörder ein anderer aus dem Rudel, psst, der da hinten...
Die Wahrheit ist: Wenn es noch etwas Wildes, Unberechenbares und total Gefährliches in dieser Welt gibt, dann ist es nicht der Wolf, sondern natürlich der Mensch, der durch nichts mehr symbolisierbar ist: Der Mensch ist dem Menschen ein Mensch! (Und ist nicht auch diese Phase schon vorbei, seit Oliver Kahn nicht mehr spielt? Fressen nicht auch wir längst allesamt dem Staat aus der Hand?) Jedenfalls: Alles Wilde hat der Mensch gezähmt, sogar, wenn auf einer Speisekarte »Wild« steht, stammt das Fleisch mit Höchstwahrscheinlichkeit aus neuseeländischer Massentierhaltung – und der Ragouthirsch starb nicht einsam auf der Lichtung, sondern, Böses ahnend, mit einem Bolzenschussgerät auf der Stirn.
Im Landkreis Diepholz hat sich ein Schafshalter drei Esel gekauft, die seine Tiere vor eventuellen Wölfen schützen. Denn der Esel kennt keine Angst! Wird er eines Wolfes gewahr, eilt er auf ihn zu, schreit ihn an und tritt ihn mit harten Hufen. So ist der Konzeptwolf von heute: Lässt sich von Eseln zur Räson bringen.
Sehen Sie also einen Wolf im Walde, stimmen Sie ein herzliches »I-aaaah! I-aaaah!« an. (Diese Worte spricht man mit lauter Stimme, um dem Wolf Angst zu machen.)
Illustration: Dirk Schmidt