Der Erleuchtete

Pflanzen, die Strom leiten, Schaltkreise, die durch Küsse geschlossen werden: Der englische Lichtdesigner Paul Cocksedge ist so genial, es würde einen auch nicht mehr wundern, wenn sich herausstellt, dass er persönlich das Licht erfunden hat.

»Es geht doch gar nicht um Licht«, sagt Paul Cocksedge trotzig. Englands führender Lichtdesigner denkt nicht daran, sich in die engen Grenzen seines Berufsbilds zu fügen. In dieser bewusst widersprüchlichen Haltung blitzen der Glanz, aber auch die Absurdität auf, die darin liegen, Ende 2009 ein Designer zu sein.

Super Contemporary, superzeitgemäß, heißt die Ausstellung im Londoner Design Museum, für die Cocksedge eine Lichtinstallation entworfen hat. Fast auf den Tag genau vor zwanzig Jahren wurde das Museum mit Feuerwerk auf der Themse und Fish and Chips im Miniaturformat eröffnet. Es herrschte damals das warme Nachglühen des Thatcher-Opportunismus. Es war, was heute unglaublich klingen mag, eine Welt mit klaren Grenzen: Die fröhliche Anarchie des World Wide Web und die unendlichen Weiten des Cyberspace waren noch einige Jahre entfernt. Endlich sollte das Design der Hochkultur einverleibt werden. Doch rückblickend war es eher ein Schlusspunkt als ein Anfang. Die Interpretation von Design, welche das Museum zeigte, lautete: Stil und Intelligenz, übertragen auf Massenproduktion. 1989 war es noch denkbar, dass eine Wirtschaftsform, die auf der Herstellung solider Produkte basiert, eine glaubwürdige Zukunft verkörperte.

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Dann – mit einem Schlag – wurde die Welt entmaterialisiert: Gigabyte und Pixel ersetzten Schrauben und Muttern und Blech. Und genauso schnell erschien der Designer als Schamane des Industriezeitalters seltsam aus der Mode.

Cocksedge ist ein ganz neuer Typus Designer; er arbeitet mit nichtmateriellen Substanzen: Elektrizität und Licht. 1978 in London geboren, als Sohn eines Schriftsetzers, dessen Fertigkeiten der Computer überflüssig machte, studierte Cocksedge Industriedesign an der Hallam-Universität in Sheffield: einer Stadt, einst für Stahl und Maschinenindustrie berühmt, die mit ihrer eigenen schmerzlichen Geschichte des industriellen Abstiegs aufwarten kann. Man fragt sich, welchen Einfluss das Gefühl, den Anschluss verpasst zu haben, auf den jungen Cocksedge gehabt haben mag.

Später, am Royal College of Art in London, wurde Ron Arad sein Lehrer – ein umtriebiger Erfinder, der die Unterschiede zwischen Design, Bildhauerei und Fantasie verwischte; der Mann, der Designkunst als neues Genre etabliert hatte. Über Arad lernte Cocksedge sowohl den Modedesigner Issey Miyake als auch den Lichtdesigner Ingo Maurer kennen. 2001 stellte Cocksedge in Tokio aus. 2003 lud Maurer ihn ein, seine Arbeiten in Mailand zu zeigen.

Aber wie soll man seine Arbeiten beschreiben? Zur Erklärung öffnet Cocksedge in der Lobby des Design Museums sein Powerbook und zeigt das Video eines Styroporbechers, der sich unter Hitze verformt. Er spult vor und zurück und freut sich dabei an den grotesken Formen des schmelzenden Kunststoffs. Hunderte dieser kunstvoll deformierten Styroporbecher hat er zu einer riesigen Hängeleuchte zusammengefügt, mit dem Namen »Styrene«. Mit Scharfsinn und Hingabe hat Cocksedge Müll in Kunst verwandelt.

Kurz nach diesem Projekt begann er für Swarovski zu arbeiten: Ein Kronleuchter fiel Piero Gandini von Flos auf – der einflussreichen Mailänder Leuchtenfirma. Für Flos hat Cocksedge eine Lampe entworfen (obwohl das Wort Lampe hier fast schon zu schlicht ist), die »Life 01« heißt. Sie basiert auf dem kuriosen Umstand, dass die meisten Pflanzenstängel Elektrizität leiten. »Blätter sind wie Schaltkreise«, sagt Cocksedge. Bei ihm schließt eine Blume in einer mit Wasser gefüllten Vase den Kreis und wird zur Lichtquelle. Natürlich nur, bis sie verwelkt.

Bei einer anderen Leuchte schließt der Benutzer selbst den Schaltkreis, indem er mit Bleistift auf einen Papierblock schreibt. Je länger die geschriebene Nachricht, desto größer wird der Widerstand und demzufolge – vielleicht sogar zur Strafe – umso schummriger auch das Licht. Ausgeschaltet wird mit dem Radiergummi. Man wird also kritzelnd sein eigener Lichtdesigner, was mit einer Wilhelm-Wagenfeld-Bauhaus-Lampe niemals möglich war. Altes Design hatte einen Schalter zum An- und Ausknipsen; neues Design präsentiert sich subtiler.

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Cocksedges Lampen sind von einer eigentümlichen Poesie erfüllt, weil sie Themen wie etwa Vergänglichkeit in Licht übersetzen. Eher an die Futuristen erinnert dagegen ein öffentliches Kunstwerk, das von der Stadt Mailand für kommendes Weihnachten bei ihm in Auftrag gegeben wurde: Direkt unter der Kuppel der berühmten überdachten Einkaufsstraße Galleria Vittorio Emanuele werden Paare eingeladen sein, sich zu küssen.

Jede Berührung ihrer Lippen schließt dabei eine elektrische Verbindung, die die Lichtinstallation in der Kuppel darüber in romantischem Rot erglühen lässt. Ein digitaler Zähler zeigt die Summe der Küsse an, und für jeden Kuss geht ein Euro an eine wohltätige Organisation. »Küssen macht doch Spaß«, sagt Paul Cocksedge. Genau, es geht ja gar nicht um Licht.

In Cocksedges Werk finden sich viele surreale Bezüge. Im Namen seiner »Styrene«-Lampe schwingen Anspielungen auf den Kunststoff Styropor mit – aber eben auch an den Styraxbaum, aus dem man Räucherharz gewinnt. Und das »Graphit« im Bleistift, das Cocksedge als Stromleiter verwendet? Wurde 1789 von Abraham Gottlob Werner nach dem griechischen Wort graphein, zeichnen, benannt. Und natürlich heißt designen auch nichts anderes als zeichnen. Alles ist also miteinander verbunden – nicht nur elektrische Schaltkreise.

Der Physiker Georg Christoph Lichtenberg erkannte baumförmige Muster in elektrischen Entladungen. Paul Cocksedge sieht Muster oder zumindest Möglichkeiten, die uns anderen verborgen bleiben. Das macht sein einzigartiges Talent aus. Design hat die Fabrik verlassen – und die Bühne betreten.

Als unser Autor, der britische Designexperte Stephen Bayley, vor 25 Jahren mit
seiner Frau Flo nach London zog, hatte er weder Geld noch Möbel. Sein einziger Schatz: eine Lampe von Ingo Maurer. Issey Miyake, der große Modedesigner, kam eines Abends zum Dinner und deutete Bayleys Armut als Zen-Minimalismus. Seitdem weiß er: Gutes Licht ist wichtiger als schlechte Stühle.

Fotos: Heiko Prigge