Es ist einer dieser Berliner Abende. Eine geräumige Altbauwohnung in Mitte, zwanzig Menschen, die beruflich alle etwas Vages machen und einander nach zehn, 15 Minuten gut genug kennen, um auch privatere Geschichten zu erzählen. Drei Hunde wuseln übers Parkett, Bernadette und Jana vom Salon »Sir Iwan« haben eine Tasche voller Accessoires mitgebracht, weswegen manche Herren jetzt imposante Fantasieorden und alle irgendeinen seltsamen Hut tragen, Busfahrerkappen, flotte Matrosenmützen, einen Zylinder. An der Wand hängt ein Bild, auf dem eine Bande von Männern mit Footballhelmen und mittelschwerer Bewaffnung eine Party in einer Altbauwohnung gestürmt hat. Ein Barkeeper mischt Cocktails, in denen schwere Kugeln aus geräuchertem Eis schwimmen, »Tamarindennektar«, sagt er und »Schokoladenbrand und Whiskeyessenz«, aber auch, dass er ganz sicher nicht verraten wird, wie man Eiskugeln räuchert. Um einen Stehaschenbecher sitzen drei Frauen und amüsieren sich über die Personalakquise von Berliner Galeristen, Tobias erzählt von der Valise Society, Visitenkarten, Telefonnummern, Websites, Einladungen, Versprechen werden getauscht, Lachen wandert durch den Raum, genau so könnte es jetzt ewig weitergehen, die Ideen, Projekte, Pläne fliegen, anderntags wird man sich großartig fühlen, wie immer, wenn einem die Gedanken gelockert werden und das Denken stimuliert.
Etwas vergessen?
Das Essen natürlich. Deswegen sind die Leute doch hier. Telse Bus stellt heute Abend ihre »Organic Glamour Collection« vor. Nicht mit pompösen Worten, sondern sehr piano. Sie lässt den ganzen Abend lang Glasschälchen mit Gerichten ausgeben, die sie sich in den letzten Wochen ausgedacht hat, in jeder zwei, drei Bissen und nichts weniger als eine Geschmacksoffenbarung.
Die »Vegane Auster« zum Beispiel. Ein Tomatenkern, eingelegt in Läuterzuckersirup, der mit ein wenig Rosmarin parfümiert wurde; man schlotzt das so weg, sinnt dem Nachgeschmack hinterher und ist baff. Das hat sich in der Mundhöhle gerade tatsächlich wie eine Auster angefühlt, aber ungleich dramatischer geschmeckt, süß und tröstlich und weich, aber nicht schlabberig und so frisch, dass man davon hellwach wurde. Es war bloß ein Mund voll, erzählte einem aber eine ganze Geschichte, ein Tomatenkern, das muss man sich vorstellen, exakt das, was man beim Kochen normalerweise wegschneidet und entsorgt, so hat man es jedenfalls gelernt, und dann macht dieser Tomatenkern einfach so auf sich aufmerksam, hallo, hier bin ich, und jetzt kannst du dich schämen, weil du dein Leben lang Tomatenkerne für entbehrlich gehalten hast.
Anderes Beispiel: Rote-Bete-Würfelchen. Nicht sehr aufregend, hat man immer gedacht. Aber das war eine dieser typischen Respektlosigkeiten dem Gemüse gegenüber, man traut ihm nie zu, mehr sein zu können als Vitaminzugabe, Beilage, Deko, damit das Fleisch auf dem Teller nicht so einsam aussieht. Ein Irrtum. Der sich sofort erledigt, sobald man von der Telse-Bus-Variante der Roten Bete probiert hat. Das ist fester, als man es kannte. Das hat mehr Biss als ein Steak. Da ist Mohn dabei. Da ist noch etwas Erdiges, das man bisher nie wahrgenommen hat. Es gibt auch dieses Schälchen mit Kürbismus, ein Leuchtorangebrei, den man jederzeit auch Babys geben könnte. Würde man niemals in einem Restaurant bestellen, man geht schließlich nicht essen, um Gemüsepampe zu ordern. Und dann nimmt man ein wenig. Und möchte eine Kürbiszucht anfangen. Weil das so intensiv, so frisch, so ekstatisch, so beseelt schmeckt. Vielleicht liegt es nur an diesem Telse-Bus-Trick, zwei Popcorns auf den Kürbismusklecks zu setzen, sofort bekommt die Sache Biss, Widerstand, eine Kontur. Verrückt, was so ein winziges Popcorn bewirken kann, warum hat einem das bisher niemand gesagt?
Wenn Telse Bus Köchin wäre, würde man sie mit Sternen behängen und zu den Restaurants pilgern, in denen sie am Herd stünde, man würde Telse-Bus-Kochbücher sammeln und im Supermarkt Telse-Bus-Gemüsekonserven aus den Regalen reißen, schon der Name ist ja ein Knaller, umso mehr, als es sich dabei nicht um ein Pseudonym handelt. Aber Telse Bus ist keine Köchin, das betont sie immer mal wieder, wenn man sich mit ihr unterhält. Sie ist Konzepterin, sagt sie. Oder: »Eigentlich komme ich ja aus der Kunst.« Und: Dass sie die Gerichte allein gar nicht so interessieren. Sondern eher die »soziale Plastik«, die sich ergibt, wenn Menschen essen. Die Rituale. »Haben Sie schon mal Menschen beobachtet, wenn sie Fleisch essen?«, fragt sie zum Beispiel. »Mir ist aufgefallen, dass sie sich über ihren Teller beugen, als wollten sie ihre Beute schützen, der Oberkörper deckt das Fleisch ab, der andere soll nicht herankommen. In den Küchen, in denen das Gemüse wichtiger ist, stellt sich dagegen automatisch so etwas Asiatisches ein, man teilt, man schiebt sich die Schüsseln zu.« Immer mal wieder sagt Telse Bus solche Sätze. Muss man nicht wirklich verstehen. Es reicht völlig, wenn man zur Kenntnis nimmt: Hier hat man es mit einer Frau zu tun, die sich über das Essen und seine Wirkungen mehr und andere Gedanken macht, als Köche es gemeinhin tun. Falls die sich überhaupt Gedanken machen. »Kochen ist ja so etwas wie die Bundeswehr des Berufslebens«, sagt Telse Bus irgendwann im Gespräch. Ja sicher ist das eine Bosheit. Doch hat sie so unrecht damit?
»Goldständer« hieß das Gericht
Telse Bus also macht Konzepte. Sie denkt darüber nach, wie Menschen essen können, wenn Essen mehr ist als Nahrungsaufnahme, Energiezufuhr, Magenvolltanken. Sie überlegt sich, wie eine Küche sein könnte, die mit den Ausgangsprodukten etwa so umgeht, wie ein Künstler es mit Farben, Texturen, Materialien macht. Oder ein Technomusiker mit Geräuschen. Sie zerbricht sich den Kopf darüber, wie sie Menschen, die sich Gedanken über die Effekte der Massentierhaltung machen, so bekochen kann, dass sich bei ihnen nicht das Gefühl einstellt, sie müssten auf etwas verzichten. Sie fragt sich, wie man Gemüse so glamourös machen kann, dass man es nicht aus Einsicht und Vernunft isst, sondern aus Lust und Gier. So ungefähr ist das, was Telse Bus macht. Und wofür man sie engagieren kann. Nicht als Köchin, wie gesagt. Sondern als Konzepterin, Beraterin, Gedankenmacherin. Sie verkauft Inszenierungen. Eine temporäre Imbissbude für eine Kunstzeitschrift auf einer Kunstmesse zum Beispiel. Oder einen Abend mit futuristischen Gerichten, die zu einem so konservativen Getränk wie Cognac passen. Oder das Catering für den Empfang eines Fashion-Labels. Ihre Visionen vom richtigen Essen tauchen nur blitzartig auf, bei Partys, Abendveranstaltungen, in temporären Lounges, unter immer wechselnden Adressen, bei Gelegenheiten, für die man auf Gästelisten stehen muss.
Nur in den ersten Jahren ihres Wirkens hatte die 44-Jährige so etwas wie eine feste Adresse – den legendären »Kochsalon« auf St. Pauli in Hamburg, eine Imbissbude, die Bus 1998 übernahm, um ihre Vorstellungen vom Essen als künstlerischem Ausdruck zu institutionalisieren. Der »Kochsalon« war ein oft magischer Ort des Hamburger Nachtlebens. Die Köche standen mitten im Raum statt in einem uneinsehbaren Hinterzimmer, sie waren fast wie DJs, glamourös, Stimmungsingenieure, Seelenernährer, es gab Lotterien, bei denen die Gäste ihre Lieblingsessen gewinnen konnten, Wettkämpfe, bei denen zwei Köche gegeneinander antraten, es gab brüllkomische Veranstaltungen wie einen »Tittenabend«, bei dem zum Beispiel gefüllte Euter serviert wurden, und für die Schwulen einen »Cocksalon«, bei dem man Teller mit anmutig arrangierten und mit Goldstaub aufgehübschten Würsten bekam (»Goldständer« hieß das Gericht). Die Gäste waren nicht die gewöhnlichen Restaurantesser, sondern Nachtschwärmer, Künstler, Musiker, Szenegänger, lauter Menschen, die bis zur Gründung des »Kochsalons« über ihre Ernährung eher selten nachgedacht hatten, Hauptsache, es machte den Magen voll. Dass Essen auch glamourös, cool, unterhaltsam sein kann, hat vielen von ihnen erst Telse Bus beigebracht.
Auch wenn es den »Kochsalon« schändlicherweise nicht mehr gibt, gelten die Prinzipien, nach denen er betrieben wurde, noch immer: Essen ist etwas Wildes, Unterhaltsames, eine Praxis, die Gedanken lockert, Gefühle aufhellt, Einsamkeit vertreiben und die Welt zu einem Ort machen kann, an dem das Leben nach Möglichkeiten schmeckt statt nach der ewigen Wiederkehr des Gleichen.
Wie man an diesem Abend begreift, funktioniert das sogar mit Gemüse. Telse Bus’ neuestes Projekt ist eine Kollektion von Gerichten, in denen die vertraute Hierarchie der Küche umgestoßen wird – was sonst bloß Beilage sein darf, ist endlich einmal die Hauptsache, und zwar sehr drastisch. Man kann sich nicht immer erklären, wie Bus’ Team es angestellt hat, dass Karotten, Tomaten, Kartoffeln, eine weiße Bohne, Linsen so schmecken, als hätten sie eine Runde Eigenaromadoping hinter sich, umso weniger, als Bus versichert, dass es sich zwar um erstklassige Ausgangsprodukte, aber nicht um ungewöhnliche handelt, die man als Normalverbraucher nicht zu kaufen bekäme. Die Geschmacksintensitäten werden auch nicht durch ganz spezielle Techniken erzeugt, wie die Molekularküche sie erfunden hat (die Bus im Übrigen schätzt, wegen ihrer Kühnheit, das Kochen noch einmal neu erfinden zu wollen). Wahrscheinlich liegt es an den Kombinationen und Konsistenzmischungen, die Bus sich ausgedacht hat und denen man tatsächlich oft anmerkt, dass sie entscheidende Jahre in einer Kunsthochschule und nicht in einer Restaurantküche verbracht hat. Als gelernter Koch würde man ja nicht auf die Idee kommen, dass einem Gericht zur Perfektion noch etwas »Staub« aus zerstoßenen Haselnüssen für die Konsistenzbalance fehlt oder dass auch etwas so Harmloses wie ein Klecks Kartoffelpüree geschmacklich und ästhetisch interessant sein kann. Das ist fast vegetarische Kost (nicht ganz, weil es in ihrer Kollektion auch zwei Schälchen mit gebeiztem Saibling gibt), die auch den fanatischsten Fleischesser dazu bringen kann, noch einmal über seine Vorlieben nachzudenken und ihnen nicht immer vollautomatisch zu erliegen.
Wenn die Frau sich doch nur einen Ruck geben und ein Restaurant eröffnen würde, statt Partys zu beliefern, auf die man doch nie kommt! Andererseits: Würde sie es tun, müsste sie sich wohl einen Irrtum eingestehen. Denn auch über ihren Gemüsetellern säßen die Esser so geizig wie die Karnivoren über den Steaks. Warum sollte man so etwas teilen wollen?
Studio Telse Bus, Berlin, Tel. 0151/12 47 60 66
Fotos: Felix Brüggemann/Brigitta Horvat