Nein, man kann nicht sagen, die Kornelkirsche sei in Vergessenheit geraten: Sie ist ja immer da, überall, nur meistens so gut getarnt, dass man nicht weiß, wen man vor sich hat. Vielleicht sagen wir besser: Wir haben sie in den letzten Jahren einfach übersehen - zumindest was ihren Einsatz in der Küche betrifft.
Eigentlich ist die Kornelkirsche auch gar keine Kirsche, sie ist noch nicht mal ein Rosengewächs aus der Gattung Prunus wie viele andere Kirschen. Im Gegensatz zur prallen Sexyness der verführerischen Süßkirsche, die auch wirklich eine von und zu Prunus avium ist, stellt die Kornel den Typ in abgewetzten Jeans dar, der Bier aus der Flasche trinkt: Sie ist ein Hartriegelgewächs, aber eins, das was draufhat. Sie hängt gern in öffentlichen Parks ab, im Münchner Hofgarten zum Beispiel: als Heckenpflanze in Festanstellung. Auf die Idee, die Früchte zu ernten, käme der Städter im Hofgarten natürlich nie: Gesundes Obst gibt es für ihn nur in seinem natürlichen Habitat, dem Biomarkt.
Es war auch kein Städter, der mir vor zwei Jahren ein Gläschen eingekochte Kornelkirschen zum Probieren gab. Herr M. aus Tutzing führt oft den Hund seiner Tochter Christine (Städterin) aus und pflückt dabei Schlehen, Holunder und was sonst noch am Wegrand steht, macht daraus köstliche Gelees und Marmeladen. Augenzwinkernd versicherte er mir, die Kornel sei eine geschmacklich besonders vielseitige Kirsche. Ich probierte das Gläschen sofort, dann noch einmal mit einem Stück Rehrücken, den ich für Gäste vorbereitet hatte, sous-vide, vakuumgegart, und prompt hatte die Kornel ihren ersten Auftritt: als Special Guest auf dem Teller, eine bittersüße Marmelade, eine Bitter Sweet Symphony, mehr The Verve als ein Himmel voller Geigen; überraschend kantig im Geschmack, nicht so kirschig eben, sondern mehr, viel mehr.
Süß- und Sauerkirschen sind einfach das, was sie sind: Sie treten paarweise auf, damit man sie den Kindern dekorativ an die Ohren hängen kann, sind groß, prall und fest, meistens süß. Wir verbinden Jugend-Sommererinnerungen mit ihnen: Kirschen gegessen, Wasser getrunken. Marmelade, Kuchen und Joghurt wird mit ihnen gemacht, erfahrene Köche trauen sich auch mal an eine Zubereitung zum Fleisch.
Nach dem Intermezzo mit dem kleinen Glas Kornelkirschen war ich mir sicher, einen neuen Verbündeten gefunden zu haben, und rief Herrn M. an, um Nachschub zu bestellen - wir steckten immerhin in der Wildsaison. Nein, sagte Herr M., sein Vorrat sei erschöpft, wir müssten auf die nächste Ernte warten.
Gut, sagte ich und bereitete mich schon mal mit ein paar Rezepten und Ideen vor. Die darauffolgende Ernte war aber nicht der Rede wert. Der Strauch blühte fleißig im Frühjahr - doch Früchte gab es im September so gut wie keine. Eine Eigenschaft der Kornelkirsche, las ich später in einem Gärtnereibuch: Der Früchteertrag schwankt stark. Für diesen Artikel, liebe Leser, hat Herr M. sein letztes Glas der Ernte 2009 geopfert, denn er ist ja ein großer Fan des Gewächses, und wenn es bedeutet, dass mehr Leute sich dafür begeistern, gibt er gern.
Für die nächste Ernte haben wir nun ein paar mehr Büsche gepflanzt (man setzt sie am besten neben einen Kumpel der gleichen Gattung, dann wachsen sie besser). Ein paar der Früchte möchten wir unreif ernten, kurz bevor sie rot werden, und mit Kräutern in Salzlake einlegen, als Alternative zu Oliven (aus Bayern, hat man so was schon gehört?). Die vollreifen Kornelkirschen verarbeiten wir zu süßer und herzhafter Marmelade, und ein paar Kilo verwenden wir für ein besonderes Experiment: Wir werden sie für eine Würzsauce im Stil einer Worchester fermentieren und ein paar Monate gären lassen. So lange kann ich jetzt auch noch warten.
Und hier noch ein Rezept für Kornelkirschenmarmelade, die besonders gut zu Steak passt:
Zutaten:
ca. 1,5 Kilo Kornelkirschen-Fleisch
200 ml Weissweinessig
400g Schalotten, fein gewürfelt
zwei Blätter frischer Soßenlorbeer
zwei Sternanis
vier getrocknete Rosenblüten
Meersalz
500 g Zucker
Rezept:
Kornelkirschen in etwas Wasser kochen, das Fruchtfleisch vom Stein lösen. Die Kirschen durch ein Sieb drücken, das Mus abwiegen. Die Schalotten fein hacken, und in einem Topf in Olivenöl anschwitzen. Das Kirschenmus mit Essig, Lorbeer und Sternanis ca. 30 min einkochen. Nach Bedarf salzen. Die Rosenblüten zusammen mit dem Zucker dazugeben und noch einmal unter ständigem Rühren fünf Minuten aufkochen. Danach in Gläser abfüllen, sofort verschliessen und stürzen, bis sie vollständig erkaltet sind.
Illustration: Zsuzsanna Ilijin