Als der Restaurantführer Guide Michelin im November seine erste Tokio-Ausgabe vorstellte, gab es gleich mehrere Überraschungen. So registrierten die japanischen Medien mit Befriedigung, dass 150 Restaurants im Großraum Tokio einen oder mehrere Sterne bekommen hatten – im Gegensatz zu nur 64 dekorierten Lokalen in Paris. Acht Restaurants erhielten die Höchstzahl von drei Sternen, darunter auch die bescheidene, im Keller eines Bürohauses untergebrachte Sushi-Bar »Sukiyabashi Jiro« des 82-jährigen Jiro Ono, nun der älteste Sternekoch der Welt. Ono ist ein kleiner Mann mit spiegelglatter Glatze und großer Brille. Bei der Verleihungszeremonie drückte er seine Michelin-Plakette ungläubig an die Brust. »Ich hätte mir nie träumen lassen, dass so etwas passiert«, sagte er. »Ich habe immer nur versucht, gutes Sushi zu machen, unter Verwendung des frischesten Fisches.«
Ungläubig dürften auch viele Menschen außerhalb von Japan reagiert haben: Wenn Sushi in Deutschland drei Sterne bekommt, dann auf der Aldi-Tiefkühlpackung und nicht vom Guide Michelin. Die Reisröllchen gelten inzwischen als knapp über Big Mac und Döner angesiedelter Imbiss für eilige Großstädter und haben in den vergangenen Jahren einen weltweiten Boom erlebt. Zehntausend Sushi-Restaurants gibt es heute in den USA, rund dreitausend Anbieter sind es nach Schätzung von Christian Kutschera, Geschäftsführer der Kette Sushi Circle, in Deutschland. Sushi wird bei der Oscar-Verleihung gereicht und beim Bundespresseball, in praktischen Mitnahmeboxen unters Volk gebracht und von der Stiftung Warentest auf Keimbelastung und »sensorische Fehlerfreiheit« untersucht. Alfred Biolek hat sich im Fernsehen an Sushi versucht und große Scharen von Hobbyköchen hantieren zu Hause mit Klebreis, Algenpapier und Bambusmatte, in der steten Hoffnung, dass das Hoso-Maki-Röllchen nicht auseinanderfällt, bevor es den Mund erreicht. Für eine ganze Generation trendbewusster Esser ist Sushi zur kalorienarmen und irgendwie schicken Diät-Alternative geworden. Selbst Angela Merkel, so hört man, servierte in ihrem Berliner Wohnzimmer bereits Sushi. Was der ausgezeichnete Sushi-Greis Jiro Ono von diesen Vorgängen hält, ist nicht bekannt. Fest steht jedoch, dass eine Sushi-Mahlzeit kaum irgendwo so viel kostet wie in seiner Kellerbar, wo der Gast schnell ein paar hundert Euro loswerden kann.
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Die drei Sterne für Herrn Ono haben deshalb Fragen aufgeworfen, die der weltweite Boom zuvor in den Hintergrund gedrängt hatte: Was ist echtes Sushi, Snack oder Gourmetspeise? Und kann man außerhalb von Japan überhaupt echtes Sushi essen? »Keiner weiß, wie viel Arbeit es ist, Sushi zu machen«, betont Herr Ono. »Ich denke eigentlich an kaum etwas anderes. Ich habe früher sogar von Sushi geträumt.«
Nur mit totaler Hingabe ist nach Ansicht des Meisterkochs die komplexe Kunst zu erlernen. Da wären die Grundlagen: das Wissen um Hunderte von Fischarten und deren millimetergenaue Zerlegung, um Algenblätter und Sojasauce, um den Reis und dessen subtile Würze. Allein den Reis mit der Hand so zu formen, dass er außen fest und innen locker ist, erfordert jahrelange Übung, sagt man. Dann die nur in langjähriger Praxis zu erlernende Fähigkeit, per Kiemen- und Schuppenkontrolle gute Fische von weniger guten zu unterscheiden. Schließlich das Geschick, die Zutaten unter den Blicken des Kunden mit wenigen Handgriffen in ein kleines Kunstwerk zu verwandeln, an dem sich – kurz vor dem Gaumen – auch die Augen erfreuen. Die japanische Küche, das zeigt sich auch am Sushi, ist eine Küche der Nuancen, in der jede geschmackliche oder ästhetische Variable zum Objekt extremer, nahezu besessener Verfeinerung wird. Kein Wunder, dass manche Sushi-Meister wie Zen-Priester klingen, wenn sie über ihre Kunst reden.
Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass in der nächsten Sushi-Bar in Berlin oder München wenig von diesen Idealen zu spüren ist. Japanische Touristen sind oft entsetzt, wenn sie sich im Westen an ein Sushi-Laufband setzen und beobachten müssen, wie einheimische Gäste die Röllchen mit Messer und Gabel attackieren oder in einer Pfütze Sojasauce versenken, aus der sie dann nach ausgiebiger Einweichzeit die Reiskörnchen einzeln herausfischen.
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Besonders erzürnte sich der japanische Agrarminister, als er vor einigen Jahren auf der Speisekarte eines Sushi-Lokals in Washington koreanisches Rindfleisch entdeckte. Das sei eine Beleidigung der japanischen Esskultur, befand der Staatsmann, und entwickelte den Plan für eine Art internationale Sushi-Polizei, die japanische Lokale auf der ganzen Welt auf ihre Authentizität testen solle. Toshio Kobatake, der das angesehene Münchner Restaurant »Toshi« führt, kann solche Ideen verstehen. »In München gibt es mehr als hundert Lokale, die Sushi auf der Karte haben – davon bieten weniger als zehn Prozent einigermaßen essbares Sushi an.«
Die Globalisierung des Sushi begann in den Sechzigerjahren. Nach ersten Erfolgen in Kalifornien, wo Anfang der Siebziger die berühmte »California Roll« entstand mit Seetang innen und Reis außen, etablierte sich Sushi zuerst in Australien und in den japanischen Vierteln südamerikanischer Städte, dann auch in Europa. In Deutschland kam Sushi allerdings relativ spät an: Als die Japanerin Takako Kojama Anfang der Sechziger zum Studium nach München kam, ließ sie sich Pakete mit Seetang und roten Bohnen aus der Heimat schicken, weil weit und breit kein japanisches Essen zu finden war. Sie beobachtete, wie das Interesse an japanischer Küche in den Siebzigern langsam zunahm, trotz mancher Vorurteile. »Ich kannte zum Beispiel einen Arzt«, erzählt sie, »der sagte, rohen Fisch esse er nicht, weil darin viele Krankheitserreger enthalten seien.«
Mitte der Neunziger eröffneten dann auf einmal jede Menge Sushi-Bars, in denen das japanische Gericht jedoch an europäische Vorlieben angepasst wurde. »Die japanische Küche kennt nicht so viele Gewürze«, erklärt Takako Kojama, die seit ihrer Heirat Takako von Zerssen heißt. »Manche Köche verwenden deshalb andere asiatische Gewürze, zum Beispiel thailändische, um japanische Gerichte für Europäer interessanter zu machen.«
In Tokio, so viel ist sicher, schmeckt Sushi anders als am Potsdamer Platz. Viel von dieser Differenz ist auf Unkenntnis und mangelnde Ambition westlicher Gastwirte zurückzuführen, auf hastig angelernte Köche, fehlendes Handwerk, billige Zutaten. »Etliche Lokale benutzen eine fertige Essigmischung für den Reis, die Chemikalien, Konservierungsstoffe und Säuerungsmittel enthält«, klagt Herr Kobatake vom Restaurant »Toshi«. »Dabei ist der Reis die Visitenkarte jedes ambitionierten Sushi-Kochs!« Manche Nachteile, mit denen Köche im Westen umgehen müssen, werden jedoch durch die Sushi-Ökonomie diktiert. So ist echter japanischer Sushi-Reis außerhalb des Landes gar nicht erhältlich: Wegen beschränkter Anbauflächen und hohen Bedarfs hat die japanische Regierung den Export verboten.
(Lesen Sie auf der nächsten Seite: »Ein appetitlich fotografiertes Sushi-Häppchen scheint [in Japan] ähnlich anziehende Wirkung in einer Werbung auszuüben wie in Europa eine halb angezogene Frau.« )
Und dann ist da noch der Fisch. Die Leidenschaft für frischen Fisch ist tief in die Seele der Japaner eingeschrieben, nach Ansicht der Neuen Zürcher Zeitung hat sie gar etwas Libidinöses: »Ein appetitlich fotografiertes Sushi-Häppchen scheint [in Japan] ähnlich anziehende Wirkung in einer Werbung, etwa für billige Telefontarife, auszuüben wie in Europa eine halb angezogene Frau.« Um dieses Urverlangen zu befriedigen, sind die Japaner bereit, horrende Preise zu entrichten: Der absolute Rekord auf dem Tsukiji-Markt, dem großen Fischmarkt von Tokio, datiert vom 1. Januar 2001, als ein Händler 20,2 Millionen Yen (nach heutigem Kurs sind das 130000 Euro) für einen 200 Kilo schweren, vor Japan gefangenen Blauflossentunfisch bezahlte. Mit dieser Marktmacht im Rücken hat das Inselvolk die globale Struktur des Fischereigewerbes in den vergangenen Jahrzehnten zu seinen Gunsten verändert.
Anfang der Sechziger wurden die technischen und logistischen Voraussetzungen entwickelt, gekühlten Tunfisch als Luftfracht zu transportieren; seitdem ist davon auszugehen, dass die besten Tunfische der Welt ein bis zwei Tage nach ihrem Fang auf dem Tsukiji-Markt versteigert werden, egal ob sie in der Adria, im Nordatlantik oder vor Australien aus dem Wasser gezogen wurden. Auch eines der Flugzeuge, das am 11. September ins World Trade Center flog, hatte frischen Tunfisch an Bord.
Der Rest der Welt muss essen, was die Japaner übrig lassen. Aber das ist immer noch eine ganze Menge. In Deutschland steigt der Fischverbrauch kontinuierlich an, im Jahr 2007 wurde die historische Höchstmarke von 16 Kilogramm pro Kopf der Bevölkerung erreicht; insgesamt verspeisten die Deutschen 1,3 Millionen Tonnen Fisch. Die Welternährungsbehörde warnt seit Jahren, dass die Meere bald leer gefischt seien, wenn es so weiterginge. Besonders eklatant ist dabei die Gefährdung der beliebtesten Sushi-Fische wie des Blauflossen-Tuns. »Die Situation ist katastrophal, die Art restlos überfischt«, hat der Worldwide Fund for Nature festgestellt.
Diese Situation bereitet auch den japanischen Sushi-Meistern Kopfzerbrechen. »Wir erleben gerade dramatische Veränderungen«, bekennt Jiro Ono. »Das Tunfisch-Problem ist unglaublich. Ich bin traurig darüber, dass die Leute heute nicht mehr den großartigen Tunfisch von einst genießen können.« So ist es möglicherweise nur noch eine Frage der Zeit, bis die reine Lehre des Sushi, wie sie in Japan gepflegt wird, aus Mangel an Nachschub obsolet wird. Dann könnte es von Vorteil sein, dass Sushi trotz des Kults, der in Japan betrieben wird, inzwischen Teil der globalen Speisekarte ist, wie Spaghetti und Pizza. Viele ambitionierte Küchenchefs arbeiten daran, Sushi weiterzuentwickeln und entfernen das Gericht dabei von seinen Wurzeln; längst gibt es Sushi mit Leberpastete und Kaviar, mit Hühnchen und Mozzarella, mit Früchten, Nüssen und Schokolade. Selbst bayerisches Sushi ist bereits gesichtet worden: Im Reis verbargen sich Kalbsfilet und Radieschen. Bleibt zu hoffen, dass die Sushi-Polizei davon nicht Wind bekommt.