Ich hätte gern geweint. So wie Dominic Raacke, der Schauspieler. Im Fernsehmagazin Mona Lisa befragt, wann er denn das letzte Mal Tränen vergossen habe, nannte er die Abiturfeier seiner Tochter. Er sprach von Tränen zum Abschied von einem Lebensabschnitt. Wie treffend, wie schön.
Ich fand keine Gelegenheit zu weinen. Ich stand bei der Abiturfeier meiner Tochter erst einmal eine Stunde lang schwitzend in der Schlange vor dem Nudelsalat. Die Schulabschlussfeier fand nicht in der Schule statt, sondern in einer angemieteten Halle in der Peripherie Münchens. Es war eine der wenigen richtig heißen Sommernächte dieses Jahres, doch die meisten Väter ließen es sich nicht nehmen, in dunklem Anzug und Krawatte zu erscheinen, wie auch die Schüler. An den Tischen herrschte eine strenge Sitzordnung, die mit uns befreundete Familie saß natürlich ganz woanders.
Zwischen Nudel- und Obstsalat hob der Direktor zu einer 45-minütigen Brandrede auf den allgemeinen Bildungsverfall an, wobei er gleich einmal SZ und FAZ verwechselte. Um elf Uhr nachts, nach einigen musikalischen Einlagen, schließlich die Zeugnisvergabe: Die Schüler gingen einzeln oder in Zweier- und Dreiergruppen aufs Podium, während ein DJ ihr jeweiliges Lieblingslied anstimmte. Die Schüler reckten die Faust, umarmten den Direktor oder knicksten artig, niemand weinte. Dann endlich entließen die Kinder uns Eltern in den neuen Lebensabschnitt und feierten mit DJ allein weiter.
Eine Eventagentur hatte die Organisation des Abends komplett übernommen. Catering, Anmieten von Räumen, Mobiliar, Lautsprecheranlage, Putzfrau, DJ. Zum Preis von 40 Euro pro Person, selbst für die Abiturienten, alkoholische Getränke und Parkplatz exklusive. Ich war richtiggehend erleichtert, als mein Sohn meinte, er sei leider verhindert. Meine Tochter sagte, die straff durchorganisierte Abiturfeier an ihrer Schule sei keine Ausnahme.
Niemand feiert mehr in einer Turnhalle. Viel zu klein, denn heutzutage wollen auch die Freunde der Abiturientinnen, mitunter gar vier Großeltern bei so einem Festakt erscheinen. Freundinnen meiner Tochter von anderen Gymnasien erzählten von angemieteten Räumen im »Hilton«-Hotel, mit 40 Euro pro Person bin ich also noch günstig weggekommen. Katinka wusste von Listen an anderen Schulen, auf denen die Mädchen lange vor ihrem großen Abend die Wahl ihres Abendkleides bekannt gaben, um peinliche Doppelungen zu vermeiden.
Nicht dass ich nicht stolz wäre – du hast das großartig gemacht, Tinki! Aber so ähnlich habe ich mir immer amerikanische Highschool-Abschlussfeiern vorgestellt, ähnlich aufgeregt, beseelt von dem dringlichen Wunsch, das Erreichen von etwas ganz Großem im Leben mit viel Pomp zu einem unvergesslichen Ereignis zu machen.
Ich behaupte ja gar nicht, früher sei alles besser gewesen. Mitnichten. Bei der Abiturfeier eines Freundes hielt der Jahrgangsbeste einen Vortrag über den Freiheitsbegriff bei Platon, bevor Schüler und Lehrer gemeinsam die Bayernhymne intonierten. Der Freund erzählt dennoch gern von dem, was an diesem Abend nach dem offiziellen Teil noch so alles passierte.
Meine Feier war noch schlichter geraten – ich besuchte ein tolerantes, neusprachliches Gymnasium: Wir spielten in der Turnhalle Theater, ein modernes, französisches Stück, der Direktor fasste sich mit Lob und Tadel äußerst knapp, der Hausmeister verkaufte Bier und Würstchen und die Abiturienten-Punkband vertrieb nach eineinhalb Stunden Lehrer und die wenigen Eltern, die überhaupt erschienen waren. Die Tränen schossen einigen dennoch in die Augen.
Illustration: Jean-Philippe Delhomme