Irgendetwas ist hier in die falsche Richtung gelaufen in den letzten Wochen, das erkannte ich spätestens auf der Tauschbörse im Kindergarten, die von Noahs und Ottos Vätern abgehalten wird – immer dienstags, auch jetzt noch, nach der WM. Der eine ermahnte gerade ein Kind, das seine Doppelten nicht richtig geordnet hatte, »so geht das aber nicht, bring die erst mal in eine saubere Reihenfolge«, als der andere plötzlich die Beherrschung zu verlieren drohte. Aus den Augenwinkeln musste er mitansehen, wie sein fünfjähriger Sohn die heiß begehrte silberne Panini-Briefmarke – Bild Nummer 000, extrem selten – mir nichts, dir nichts gegen einen banalen honduranischen Verteidiger eintauschen wollte. »Otto, nein, was machst du da?«, schrie er entsetzt, fuhr ihm in den Arm und konnte den Handel in letzter Sekunde verhindern.
Im verstörten Blick des Kindes wurde einen Moment lang der ganze Panini-Irrsinn sichtbar, der den Prenzlauer Berg in Berlin oder das Münchner Glockenbachviertel in diesem Sommer ergriffen hat. Im Kindergarten besitzen fast alle Jungen ab vier ein Album; in den Tupperschüsseln, die sie in ihren Rucksäcken mit sich tragen, sind keine Gurkenscheiben mehr, sondern die doppelten Bilder, vom Vater täglich neu geordnet und mit Gummiband fixiert. Zum Ende der WM nun, als die Lücken in den Alben immer spärlicher wurden, kam endgültig zum Vorschein, wer in der Familie eigentlich sammelt.
Auf den Spielplätzen der Umgebung sieht man bis heute die Elterngruppen sitzen, wie sie mit stieren Blicken die Häufchen mit Doppelten abgleichen. Ihre Söhne, eine Zeit lang immer mit Interesse dabei, gehen irgendwann spielen. Doch die Väter kennen keinen Spaß: »Finn«, ruft dann einer hinterher, »wo ist jetzt schon wieder die Liste mit denen, die du noch brauchst?«
Das Kind zieht ein gefaltetes Blatt aus der Hosentasche, eine vierfarbig ausgedruckte Excel-Tabelle mit der Überschrift »Finn’s List of Wishes«, und gibt es dem Vater, während eine Mutter zum wiederholten Mal eine Geschichte erzählt, über die sie nicht hinwegkommt: Sie sei mit den Doppelten ihres Sohnes neulich auf eine private Panini-Börse gegangen, doch man habe sie an der Eingangstür der Wohnung abgewiesen: Es bestand persönliche Anwesenheitspflicht für alle Kinder, die tauschen wollten. Sie könnte sich noch ewig darüber aufregen, doch jetzt muss sie erst mal den Streit zwischen Finn und seinem Vater schlichten, wer die neu eingetauschten Bilder einkleben darf. »Nein, lass mich, ich will!«, schreit Finn, der das so gern macht. Aber die Bilder stehen dann oft ein wenig schief im Album, und das kann der Vater nicht ertragen.
Viel war in pädagogischen Streitschriften der letzten Zeit von der Einschätzung die Rede, dass sich die Lebenswelten von Eltern und Kindern immer stärker annähern, dass sich Väter und Mütter in ihrer endlos verlängerten Adoleszenz allzu nah an der nachfolgenden Generation orientieren. Das Panini-Album 2010 ist ein lupenreiner Schauplatz dieser Theorien.
Denn es sind natürlich die Väter, die in Gestalt ihrer noch nicht einmal schulpflichtigen Kinder weiterhin Fußballbilder sammeln wollen. Eine dankbare Strategie: Sähe es nicht merkwürdig aus, wenn sich erwachsene Männer ein Album besorgen und wochenlang nichts anderes tun würden, als sich um die Vervollständigung der Sammlung zu kümmern? Als Väter haben sie plötzlich wieder die Legitimation dazu. Und sie peitschen ihre Söhne mit aller Strenge ans Ziel.