SZ-Magazin: Waren Sie schon mal im Berliner Viertel Prenzlauer Berg?
Ingeborg Stadelmann: Ich kenne eher Kreuzberg und Charlottenburg.
In Prenzlauer Berg wohnen viele junge, hippe Familien, die immer nur das Beste für ihre Kinder wollen. Der »Windelbalsam« von Stadelmann gehört dort genauso dazu wie ein Bugaboo-Kinderwagen oder eine englischsprachige Krippe. Ihre Produkte sind dort ein richtiger Trend.
Das bekomme ich nur am Rande mit. Durch die eine oder andere Bemerkung habe ich das Gefühl, manche Frauen meinen, sie müssten direkt nach dem positiven Schwangerschaftstest den Stadelmann-Schwangerschaftstee trinken. Was für ein Quatsch. Ich mag nicht Teil eines Trends sein. Das ist nicht meine Botschaft.
Was ist Ihre Botschaft?
Die Frauen sollen auf sich achten, gut zu sich selbst sein und ein paar natürliche Zusammenhänge verstehen. Ich möchte, dass sie sich wohlfühlen, in der Schwangerschaft und danach mit dem Neugeborenen.
Ihr Buch Die Hebammensprechstunde hat sich 500 000-mal verkauft, obwohl es im Eigenverlag erscheint, außerdem stellen Sie zusammen mit einem Kemptener Apotheker Salben, Tees und Öle her. Sind Sie so etwas wie eine moderne Hexe?
Zuerst einmal bin ich Hebamme. Und dann weiß ich eben noch eine ganze Menge über Kräuter. Mir gefällt der Ausdruck »weise Frau« am besten, aber es stimmt schon, manchmal werden wir Hebammen auch moderne Hexen genannt.
Was war Ihr schönstes Erlebnis als Hebamme?
Eine Geburt an Heiligabend, nachts bei Schneefall im Allgäuer Tal.
Sind Sie heute froh, dass Sie nicht mehr nachts aufstehen und ins Auto steigen müssen, weil bei einer Frau die Wehen einsetzen?
Bei einer Geburt dabei zu sein ist mit nichts zu vergleichen, aber das Leben hatte noch andere Dinge für mich vorgesehen. Heute gebe ich Seminare und verlege Ratgeber.
Ihre Kolleginnen, die freien Hebammen, demonstrieren gerade. Ihr Argument: Wegen der hohen Haftpflichtversicherung, die sie abschließen müssen, um Geburten zu begleiten, bleibt am Ende fast kein Geld übrig.
So stimmt das nicht ganz. Hebammen verdienen schon noch Geld, das ist alles relativ. Aber erstens gibt es nicht mehr so viele Hausgeburten, und zweitens kann doch was nicht stimmen, wenn sie nur dann genug verdienen, wenn die Zahl der Geburten stimmt. Diese Politik verhindert die gesamte außerklinische Geburtshilfe.
Dann haben Sie das Buch also geschrieben, um endlich mehr Geld zu verdienen?
Nein, gar nicht. Als ich mein Buch im Jahr 1994 schrieb, gab es kein Buch, das schwangeren Frauen Hebammenwissen zur Verfügung stellt. Es fand sich kein deutscher Ratgeber zum Thema »Natürliche Geburt«. Es gab z. B. die Klassiker von Sheila Kitzinger und Ina May Gaskin, aber das waren nur Übersetzungen.
Eigentlich müssten die großen Verlage bei Ihnen Schlange stehen.
Als ich mein Manuskript fertig hatte, haben die großen Verlage es abgelehnt, weil ich keine Fotos im Buch haben wollte.
Was stört Sie an Fotos?
Fotos vermitteln den Frauen automatisch, wie etwas zu sein hat. Das wollte ich nicht. Als ich Erfolg hatte, meldeten sich doch Verlage, die mein Buch herausgeben wollten. Heute sehe ich die Nachahmer mit Genugtuung und mit einem Lächeln.
Gibt es, ähnlich wie beim Essen, ein neues Bedürfnis nach Natürlichkeit und Ursprünglichkeit beim Kinderkriegen?
Wahrscheinlich, sonst würden nicht so viele Schwangere mein Buch lesen. Für mich ist das ganz normal. Ich bin so aufgewachsen. Meine Mutter hat mich immer mit Arnika- und Johanniskrautöl behandelt, wenn ich mir das Knie aufgeschlagen hatte.
Sie empfehlen Wickel, Globuli, Düfte, Massagen. Klingt ziemlich esoterisch.
Diese Kritik habe ich noch nie gehört, dazu kann ich gar nichts sagen. Ich bin ein bodenständiger Mensch. Und Esoterik hat auch ihre Daseinsberechtigung. Ich biete naturheilkundliches Wissen an, das ist alles.
Im 21. Jahrhundert scheinen Frauen, die ein Kind bekommen, große Angst zu haben, irgendeinen Fehler zu machen. Sie lesen Dutzende von Ratgebern, decken sich mit Produkten ein, überlassen nichts dem Zufall. Warum fühlen sie sich so unter Druck?
An diesem Druck ist unsere Leistungsgesellschaft schuld. Die Frauen stillen nicht mit dem Gefühl: »Wie schön, ich kann ein Kind ernähren«, sondern mit dem sorgenvollen Gedanken: »Ich muss produzieren«. Mutterschaft ist heute ein Beruf. Aber um einen Beruf zu erlangen, müssen Sie studieren oder eine Lehre machen. Und das ist beim Muttersein nicht anders, das kann auch niemand von heute auf morgen.
Die Frauen sind beim ersten Kind nicht mehr zwanzig, sondern Mitte dreißig. Manche haben schon zehn Jahre gearbeitet, sie wissen: Wer viel leistet, ist erfolgreich.
Wenn die Frauen dieses Leistungsdenken mit ins Wochenbett nehmen, sind wir Hebammen gefordert, ihnen die schönen Seiten des Mutterseins aufzuzeigen. Manchmal müssen sich junge Mütter locker machen: Es gibt Babys, die essen viel, und es gibt Babys, die essen wenig. Wie bei Erwachsenen auch. Es ist alles nicht so schwierig.
Manche Frauen fühlen sich durch das Stillen zu Hause gefesselt. Sechs Monate Stillzeit, zu denen sich Mütter heute verpflichtet fühlen, können einer Karriere im Weg stehen, finden Sie nicht?
Nicht umsonst sprechen wir beim Stillen vom »Mutter-Kind-Bonding«, also tatsächlich von »fesseln«. Und es mag schon sein, dass sich die eine oder andere Frau mal schlecht fühlt. Niemand hat behauptet, dass Kinderhaben eine Wellnessveranstaltung ist. Aber es kann – mit der richtigen Unterstützung – große Freude machen und die Frau bestätigen.
Die französische Philosophin Elisabeth Badinter sagt, es sei ein Rückschritt für die Emanzipation, wenn Frauen stillen, statt zu arbeiten.
Die Französinnen sind da anders als wir in Deutschland. Frankreich bietet ein Netzwerk von Kinderbetreuung, auch für ganz kleine Kinder. Und es gibt keinen Erziehungsurlaub. Dort ist es vollkommen normal, dass die Frau wieder arbeiten geht.
Das alte Dilemma der Frauenbewegung: Ist die Natur nun ein Segen oder ein Übel?
Weder noch. Die ist halt da. Die ist gegeben.
Haben Sie aufgehört zu arbeiten, als Sie Ihre Kinder bekommen haben?
Ich habe acht Wochen nach meinem dritten Kind wieder voll gearbeitet, allerdings hat mir mein Mann sehr viel abgenommen. Wir haben die Rollen getauscht. Ich war die Ernährerin, er hat die Kinder versorgt und sich um den Haushalt gekümmert. Eine Mutter kann sehr wohl Karriere machen, ohne die Kinder zu vernachlässigen.
»Geburtsschmerzen sind von unschätzbarem Wert«
Eine Sammlung von Globuli – die Hebamme schwört auf Homöopathie.
Finden Sie es wichtig, dass Männer mit in den Kreißsaal kommen?
Die Frau sollte nicht allein sein, das ist wichtig. Sie braucht jemanden, den sie gut kennt. Trotzdem sollten die Männer nicht am Geburtsbett festgebunden werden – da hat niemand was davon.
Man sieht heute viel mehr Männer mit Kinderwagen als vor 15 Jahren. Sind die Männer heute andere Väter als früher?
Die Männer aus den Familien, die ich in den späten Siebzigern und Achtzigern bei Geburten betreut habe, waren alle sehr engagierte Väter. Ich habe das Gefühl, dass sich das gerade wieder ändert. Der Arbeitsplatz steht im Vordergrund, die Väter können nicht mehr so lang Urlaub nehmen. Es müsste eine intensivere Betreuung für Väter geben. Ein Vater ist allein nach einem so einschneidenden Erlebnis wie der Geburt eines Kindes. Die Frau kann sich austauschen, mit der Hebamme oder anderen Frauen. Einen »Vaterbegleiter« gibt es meines Wissens nicht.
Vielleicht reden Männer einfach nicht so gern wie Frauen.
Sie können das ja auf ihre Art machen, können fischen gehen oder bowlen. Wichtig wäre, unter Männern in der gleichen Situation zu sein. Ich finde, Väter tauschen sich immer noch zu wenig aus.
Sie haben drei Enkelkinder und bekommen bald ihr viertes. Helfen Sie Ihrer Tochter und Ihren Schwiegertöchtern bei den Geburten oder im Wochenbett?
Nein, für die bin ich vor allem Großmutter. Und die Mutter oder die Schwiegermutter hat bei der Geburt nichts zu suchen. Das ist ein Ereignis für ein Paar. Trotzdem habe ich mit Kindern und Schwiegerkindern ausgemacht: Wenn ihr mich braucht, bin ich da.
Müssen Sie sich manchmal auf die Zunge beißen, wenn Sie Ihren Kindern zuschauen, wie sie mit den Säuglingen umgehen?
Während der Schwangerschaft und im Wochenbett habe ich ein sehr offenes Verhältnis zu meinen Kindern und Schwiegertöchtern. Sie fragen mich, und wenn mir etwas Gravierendes auffällt, sage ich es auch.
Sie leben mit Ihrer Familie auf dem Land im Allgäu. Laufen Geburten auf dem Land anders ab als in der Stadt?
Ich kann da keinen großen Unterschied ausmachen. Aber Akademiker, also Menschen, die mehr nachdenken, entscheiden sich eher für eine Hausgeburt oder eine ambulante Geburt.
Haben Sie eine Idee, was man tun müsste, damit deutsche Frauen wieder mehr Kinder bekommen?
Die Familie hat ein Imageproblem. Es reicht nicht, den Familien Geld zur Verfügung zu stellen – das Elterngeld hat nicht zu mehr Kindern geführt. Den Eltern muss die Angst genommen werden, dass Kinder eine Last sind. Es sollte heißen: »Kinder machen Freude« und nicht: »Kinder kosten Geld«. Sport kostet auch Geld, trotzdem segeln die Leute und fahren Mountainbike. Eine Familie zu gründen ist nicht mehr selbstverständlich.
Seit ein paar Monaten diskutiert die halbe Welt über die strengen Erziehungsmethoden der Tigermutter Amy Chua. Was ist Ihrer Meinung nach eine gute Mutter?
Ich glaube nicht, dass es das eine, das ideale Mutterbild gibt. Eine gute Mutter ist eine Frau, die Entscheidungen treffen kann, die sie selbst und ihr Kind zufrieden machen.
Können Sie aufgrund Ihrer Arbeit schon nach der Entbindung sagen, ob das gelingt?
Es gibt Frauen, bei denen ich denke: Das ist aber ein schönes Nest, da haben es beide gut, da wird es vielleicht sogar mal schwierig für das Kind, dieses Nest zu verlassen. Es gibt aber auch den rationalen Typ Frau, die dafür sorgt, dass ein gutes Nest da ist, und Geld dafür ausgibt, dass es von jemand anderem betreut wird. Ich bin sicher, Kinder können in beiden Fällen glücklich werden.
Verraten Sie uns ein Allheilmittel, das Frauen nach der Entbindung hilft?
Ein Allheilmittel gibt es nicht. Frauen brauchen Halt, das ist wichtig. Sie sitzen nach der Entbindung allein in ihrer hübsch eingerichteten Wohnung, sind einsam und wissen nichts mit dem Baby anzufangen. Ihnen fehlen Vorbilder. Ich kann nur aus meiner Erfahrung sprechen: Frauen aus religiösen Gemeinschaften haben seltener Probleme im Wochenbett. Sie haben meistens eine gute Wundheilung, ausreichend Muttermilch und seltener diese hormonell bedingte Achterbahnfahrt der Gefühle.
Wie erklären Sie sich das?
Sie können sich auf die Unterstützung der Gemeinschaft und der Familie verlassen. Wenn die fehlt, sind wir Hebammen gefragt. Unser Fokus sollte nicht nur auf Schwangerschaft und Geburt liegen, sondern auch auf der Frage, wie es in den Wochen und Monaten danach weitergeht. Ich rate den Frauen, sich Hilfe ins Haus zu holen, am besten ihre Mütter oder Schwiegermütter, die wieder ihre Rolle als Großmütter übernehmen und schauen sollen, ob die Familie zu essen oder frische Bettwäsche braucht. Ein Umsorgen innerhalb der Familie findet nicht mehr statt, das macht heute der Pizzaservice – und das ist schade.
Viele Großmütter arbeiten noch oder wohnen 500 Kilometer weit weg.
Dann hilft eben eine gute Freundin. Jeder meint, nach den paar Tagen im Krankenhaus sind Frau und Kind zu Hause, und alles ist gut. Aber das Wochenbett, die körperliche, geistige und seelische Aufarbeitung von Schwangerschaft und Geburt, hat schon immer acht Wochen gedauert. Deutschland hat das Wochenbett verloren – das macht die Frauen unglücklich.
Sie sind für die natürliche Geburt. Welchen Sinn haben Geburtsschmerzen? Geburtsschmerzen sind von unschätzbarem Wert. Der Geburtsschmerz ist Vorbereitung für alle Schmerzen, die im Leben noch kommen. Im Gehirn wird bei der Geburt gespeichert: Der Mensch kann Schmerz leisten.
Aber wir leben im Jahr 2011, es gibt die PDA: die Rückenmarksbetäubung. Wir ziehen ja auch Zähne nicht mehr ohne Narkose.
Ich bin nicht gegen Schmerzmittel, das muss ich immer wieder klarstellen. Ich kann verstehen, wenn eine Frau sagt: Der ganze Weg bei einer Geburt ist mir zu schmerzhaft, ich lasse mir eine PDA legen. Aber überspitzt formuliert: Spätestens beim Sterben, dem letzten Abschiedsschmerz, kann es helfen, wenn bei der Geburt schon mal starke Schmerzen erlebt wurden. Heute werden nur fünf Prozent aller Kinder zu Hause geboren, in manchen Kliniken liegt die Kaiserschnittrate bei 55 Prozent.
Im Fall von Komplikationen ist es im Krankenhaus halt sicherer.
Es geht immer nur um Sicherheit, also um Angst. Ich glaube, das ist auch einer der Gründe, warum mein Buch so erfolgreich ist: Es gibt Zuversicht. Aber gut, eine Hausgeburt ist nicht jedermanns Sache.
Warum ist Angst denn so ein großes Thema, wenn es um Geburt geht?
Das ist die Frage: Kann sich Angst jetzt ausbreiten, weil sich niemand mehr ums tägliche Überleben sorgen muss? Oder waren die Ängste immer da? Ich weiß es nicht.
Finden Sie auch, dass Schwangere oder Frauen im Wochenbett sehr anstrengend sein können?
Klar, sind die komisch drauf, aber das steht ihnen zu. Geburt ist etwas so Einzigartiges – da kann man ruhig außer Rand und Band sein.
Die Hebamme der Nation:
Ingeborg Stadelmann, 55, legte im Jahr 1976 ihr Hebammenexamen ab und arbeitete acht Jahre lang in einer Klinik, bevor sie sich selbstständig machte. 1994 publizierte sie im Eigenverlag das Buch Die Hebammensprechstunde, das sich bis heute 500 000-mal verkauft hat. Inzwischen ist aus Ingeborg Stadelmann eine Unternehmerin geworden. Sie publiziert Bücher, hält Vorträge und stellt in Zusammenarbeit mit einer Apotheke Öle, Salben und Aromamischungen nach eigenen Rezepten her. Sie hat drei Kinder und lebt in Wiggensbach im Allgäu.
Fotos: Stephanie Fuessenich