Da schleicht er, dieser Timon. Die Kindergärtnerin linst durchs Fenster, ihre Augen folgen ihm. Der Junge ist das Gerede der ganzen Gegend. Wie er schon aussieht! Soldatenjacke, ein Tuch vorm Gesicht, in der Hand ein Gewehr. Was soll das? Er ist hier nicht in Kabul, er ist in Hoek van Holland, einem friedlichen Badeort vor Rotterdam, es gibt eine Apotheke, einen Streichel-Bauernhof, und die größte Aufregung ist die Fähre, die am Morgen und Abend aus England anlegt.
Näher und näher kommt der Junge, gibt nach hinten Handzeichen: Rückendeckung! Die Kleinen im Kindergarten plätten an der Scheibe die Nasen. Wie lustig! Das findet die Kindergärtnerin gar nicht. Sie rennt raus. Doch da ist dieser Junge schon weg, verschwunden in den Hecken: Timon, elf Jahre alt. Was ist das für ein Kind? Was hat es nur für Eltern?
Dass Timon anders ist, merkten seine Eltern, als er knapp drei Jahre alt war. Sie fuhren mit dem Auto durch Rotterdam, Timon saß auf der Rückbank, schaute aus dem Fenster, quasselte vor sich hin. An einer Ampel fiel das Wort »vloerbedekking«. Die Eltern horchten auf. Teppich? Sie wussten nicht, was sie denken sollten. Bis sie das Schild über dem Laden sahen. Der Kleine hatte nicht gequasselt, er hatte gelesen.
Nun hätten sich viele Eltern darüber gefreut: Ihr Sohn ist etwas Besonderes! Doch Petra und Peter Persoon wurden still. Sie wussten, was das bedeutet. Auch Timons Onkel, der Bruder der Mutter, konnte so früh lesen. »Und sein Leben«, sagt sie, »war ein einziger Kampf.«
Hochbegabt, diagnostizierten die Ärzte. Und Timon begann schon bald, sich fremd zu fühlen in dieser Welt. Zu sehr unterschied er sich von den anderen Kindern. Spielen? Er verbrachte seine Zeit lieber mit Zählen und Lesen. Bilder malen? Er zerriss sie, bevor sie fertig waren: Haus, Baum und Mama sahen nicht aus wie in Wirklichkeit. Und Witze oder Neckereien? Verstand er nicht. Als Papa sagte: Das Auto ist kaputt, dafür kaufe ich einen Panzer, glaubte er es. Welch Enttäuschung, als es doch ein Opel wurde.
In meinem Kopf ist so viel drin, sagte er zu seinen Eltern, so viele Schubladen, ich weiß gar nicht, in welche ich greifen soll. Und er versuchte, da oben Ordnung zu halten. Alles musste er planen, niemals konnten die Eltern sagen: »Oh, die Sonne scheint, lass uns schnell an den Strand gehen!« Darüber packte ihn die Wut, nein, das war nicht ausgemacht. Und wehe, im Auto saß nicht jeder an seinem Platz! Oder beim Versteckspiel zählte ein Kind bis 18 statt bis 20. Tränen und Geschrei.
Die anderen Kinder fingen an, Timon doof zu finden. Und die Lehrer wussten nicht, was sie tun sollten mit einem, der sich meldete, bevor die Frage zu Ende gestellt war. Der in Panik geriet, wenn sie eine Turnstunde gegen eine Schwimmstunde tauschten. Sie überließen Timon seiner Langeweile. Nahmen ihn nicht mehr an die Reihe. Straften ihn. Und das Kind, das sich anfangs nur fremd fühlte, war nun einsam. Oft kam es vor, dass die Eltern am Morgen aus dem Fenster schauten und ihr Timon alleine im Garten saß, weggelaufen aus der Schule.
Aber dann kam ein dicklicher Junge aus der Nachbarschaft. Älter als Timon. In einer Armeejacke. Willst du mitspielen? Vor zwei Jahren war das.
Der Rückzug aus der Kindergarten-Kampfzone war ein Erfolg. Weder die Kindergärtnerin hat Timon erwischt noch der Feind: Mirco, zehn Jahre, im Mund ein Erdbeerkaugummi, unterm Arm einen Schnellfeuer-Karabiner. Und Lidianne, sechs Jahre alt, Zöpfe, bewaffnet mit einem Stofftiger, der ein Armeetuch trägt. Harte Gegner, ob Timon und seine Verbündeten da nicht weitere Waffen holen sollen? Im Arsenal, also der Garage. Neben Rollerskates und Fritteuse lagern dort: ein Scharfschützengewehr, ein vollautomatischer Schnellfeuerkarabiner, ein Maschinengewehr, eine Browning, eine Thompson, insgesamt 26 Waffen, alles selbst gebastelt, dazu Panzerfaust, Handgranaten, Wüstenkleidung, Helme, Gasmasken, ein Defibrillator. Was man eben so braucht im Krieg. Der Auftrag heute: dem Feind die Flagge entreißen.
Was haben sich Timons Eltern gefreut, als Timon diesen Kameraden gefunden hatte. Sicher, das Kriegsspiel fanden sie nicht so gut, Fußball wäre ihnen lieber gewesen. Sie kauften ihm auch keine Waffe. Wenn schon, sollte Timon sich die selbst bauen, aus Holz. Mit den Händen etwas tun, hatten die Psychologen gesagt, mache den Kopf frei. Der Vater zeigte Timon, wie er eine Säge führt, und Timon ging ins Netz, druckte Bilder von Waffen und sägte in einer Kunst Pistolen und Karabiner, die alle staunen ließ. Und fortan kleidete er sich grün und stürzte sich ins Kriegsspiel, es passte zu seinem leicht autistischen Zwang, Befehl und Gehorsam, feste Regeln, und er betrieb das Spiel in einer Perfektion, dass den Eltern ganz bang wurde.
Die Mutter musste an das Massaker von Columbine denken, die vielen Schießereien an Schulen. Und was sollten die Nachbarn denken? Hoek van Holland war im Zweiten Weltkrieg Teil des deutschen Atlantikwalls gewesen. Viele alte Menschen hier haben schlimme Erinnerungen. »Wir wollten doch keine Gefühle verletzen«, sagt die Mutter.
Aber es tat ihrem Timon so gut. Tag für Tag spielte er draußen. Seine Wangen nahmen Farbe an, er lachte und redete mehr, er schuf eine Holzwaffe nach der anderen, so viele, er konnte sie gar nicht alle tragen, und so, ein Wunder, ließ er die Nachbarskinder damit spielen, die neugierig sein Treiben verfolgten, auf einmal hatte er Gefährten, das ganze Viertel mit seinen Gärtchen und Hecken wurde zum Kriegsgebiet.
Timon ist dort der General. Und er bemüht sich mehr als früher, nett zu den Kindern zu sein, er braucht sie ja für sein Spiel, viel schöner ist es, zu fünft als allein zu spielen; nach jedem Niederschuss rettet er seine Spielfeinde mit dem Erste-Hilfe-Koffer. Und er verzeiht ihnen, wenn sie für ein Eclair den Schützengraben verlassen, wenn sie beim Zählen schummeln, oder – ganz großer Fehler – mit einem Scharfschützengewehr peng, peng, peng rufen statt peng-tschack, peng-tschack, peng-tschack: Eine solche Waffe muss man nachladen!
Und so lassen die Eltern ihren Timon nicht nur gewähren, sie unterstützen ihn, kaufen echte Armeehosen und Helme – und tun in ihrer Unterstützung das Richtige, sagt Michael Wolf, Psychologe am Hoch-Begabten-Zentrum in Köln. Er hat keine Angst, dass in Timon ein Attentäter heranwächst, obwohl es einen gruselt, wenn Timon die Sturmhaube über den Kopf zieht, über das Bubengesicht mit seinem kleinen Mund, kecken Augen und weichen Pausbacken, auf denen ein putziger Leberfleck prangt. Amokläufer, sagt Wolf, seien Einzelgänger, fast immer isoliert. Timon aber habe sich mit seinem Spiel aus der Isolierung gerettet.
In der Schule geht es besser. Die Kinder hänseln Timon weniger, die Lehrer binden ihn besser ein: Er darf nach Antworten der anderen sagen, ob diese richtig waren. Beim Schultheater spielt er einen Soldaten. »Seit er draußen Krieg führt, haben wir drinnen Frieden«, sagen die Eltern.
Nur in zwei Dingen lassen sie nicht mit sich reden: Keine Waffen im Haus! Und sie ersetzen den Opel nicht durch einen Jeep in Tarnfarbe. Hätte eh nur für Ärger gesorgt. »Wir wissen, dass uns hier einige nicht verstehen.« Aber was sollen sie tun? Sie haben andere Sorgen. Mal sehen, was Mirco und Lidianne bald so einfällt. Die beiden sind auch hochbegabt.
Fotos: Peter de Krom