Dreizehn Jahre arbeitete die Richterin Barbara Salesch für das deutsche Fernsehen, 2356 Folgen ihrer Gerichtsshow wurden ausgestrahlt, aber davon übrig geblieben ist nur ein einziges Bild. Es heißt Der Tanz und hängt in der Zentrale der Produktionsfirma »Filmpool« in Hürth bei Köln. Die Richterin hat es selbst gemalt, Öl auf Leinwand, 160 x 200 Zentimeter.
Vor einem Monat lief die letzte Sendung, es ist eine Zäsur für beide Seiten. Barbara Salesch hat ein Kunststudium in Bad Reichenhall begonnen. Filmpool lässt in Hürth jetzt richtig die Puppen tanzen. Denn es gibt ja immer noch eine gewaltige und sogar ansteigende Nachfrage der Zuschauer nach »Scripted Reality«, also nach Sendungen, die wie Dokumentationen wirken, aber auf einem Drehbuch basieren.
Filmpool ist mit dieser Nachfrage gewachsen. Die Geschichte der Firma zeigt, wie das Fernsehen in den vergangenen zehn Jahren zu einem Medium geworden ist, in dem jeder vorkommen kann, der darin vorkommen möchte. Sie zeigt, wie die Sehnsucht nach Scripted-Reality-Stoffen eine riesige Fernsehfabrik entstehen ließ - und wie diese Fabrik nun ausgerechnet mit der Wiederent-deckung der Realität versucht, sich noch größere Programmflächen zu erschließen.
Felix Wesseler sitzt an einem schwarzen Tisch in seinem Büro, vor ihm liegen zwei weiße Visitenkarten. Auf der einen steht »Manager Corporate Communications«, auf der anderen »Business Development Manager«. Auf beiden steht sein Name. Als Wesseler Ende der Neunzigerjahre zu Filmpool kam, zählte die Firma 14 Leute - heute sind es 600. Es ist ein großes Geschäft geworden, das er zu entwickeln und zu erklären hat.
»Wir produzieren inzwischen fast 1500 Programmstunden Unterhaltung pro Jahr, die Wiederholungen nicht mitgerechnet«, sagt Felix Wesseler. Filmpool entwickelte quotenstarke Stangenware wie die Lebensberatungs-Show Zwei bei Kallwass, Richterin Barbara Salesch oder Niedrig und Kuhnt - Kommissare ermitteln. Die Sendung mit Salesch hatte mehr als drei Millionen Zuschauer am Tag. Das Interesse an den Richtershows ließ in den letzten Jahren nach, aber bevor die Fälle völlig davonschwammen, stieg Salesch aus, »und mit dem Nachfolgeformat«, so Wesseler, »machen wir uns um 15 Uhr jetzt selbst Konkurrenz: Wir produzieren Verdachtsfälle für RTL und Familien-Fälle für Sat.1«.
Filmpool stellt neun solche täglichen Formate her, die meisten haben eine ähnliche Handlungsstruktur: Mann betrügt Frau, Kind beklaut Eltern, Geldsorgen, Streit in der Nachbarschaft, ermüdete Beziehungen - und am Ende irgendeine Lösung. Im Prinzip sind es die gleichen Geschichten, die früher in Nachmittags-Talkshows besprochen oder in Richtersendungen verhandelt wurden. Jetzt werden sie szenisch nacherzählt.
In den Drehbüchern geht es um die Probleme von Menschen, bei denen Mängel eher verwaltet werden, als dass sie etwas in Gang setzen würden. Menschen, die mit der Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse schon gut zu tun haben - und deren Geschichten die Fernsehzuschauer auf fast provozierende Weise unterfordern. Genau das Richtige für das Privatfernsehen am Nachmittag.
Der Markterfolg dieser neuen Formate stellt Filmpool allerdings vor ein Personalproblem: »Wir machen immer mehr Sendungen und brauchen dafür immer mehr Autoren«, sagt Wesseler. Deswegen hat Filmpool eine Akademie gegründet. In einer zweimonatigen Ausbildung wird den Schülern dort neben Grundlagen des Handwerks auch das spezielle Schema F vermittelt, nach dem die vielen Formate der Produktionsfirma funktionieren.
Im Februar 2012 begann der erste Kurs, mit zehn Leuten. Abiturienten waren in der Klasse und auch studierte Literaturwissenschaftler. Sie analysierten Drehbücher und schrieben selbst welche. Am Ende übernahm Filmpool neun von zehn Schülern als »Junior Story Liner«. Derzeit durchläuft eine zweite Zehnergruppe die Akademie. Übernahmechancen: ziemlich gut.
Vielleicht führt Wesseler bald sogar noch einen weiteren Kurs ein, einen für Realisatoren. Die Drehbücher müssen ja auch verfilmt werden, und schon jetzt rücken in Hürth täglich oft zehn VW-Transporter auf einmal aus, in jedem ein Drehteam. Auch hier wird das Personal knapp, aber wenn sich Wesseler um eines nicht sorgen muss, dann um den Nachschub an Darstellern und Drehorten für seine Produktionen.
Filmpool verwendet zwei Datenbanksysteme, eines für Motive und eines für Personen. Loc-Base und Cast-Base sind »das Herz unserer Firma«, sagt Wesseler, »diese Datenbanken sind lebenswichtig, ohne sie würde es nicht gehen«.
Die ersten Drehversuche mit Scripted Reality wurden bei Richterin Salesch mit 200 Komparsen vom Arbeitsamt unternommen. Wesseler rief auch Freunde an, von denen er wusste, »die sind locker, die können improvisieren, die sind gute Typen. Und die haben dann mitgespielt.« Heute lagern in der Firmenkartei Datensätze von 140 000 Menschen. 140 000? »Ja, das ist riesig, eine unglaubliche Zahl. Aber das brauchen wir auch – wir haben mehr als 1000 Rollen, die wir jeden Monat vergeben.«
Neulich hat eine Schwesterfirma angerufen, sie benötigte für eine neue Produktion einen berlinernden Gärtner zwischen 40 und 50. Er sollte grüne Augen und noch ein paar andere besondere Eigenschaften haben. Um so einen Mann zu finden, müsste man eigentlich eine Anzeige schalten oder zu einem Casting aufrufen. »Uns kostet das zwei Klicks, und ich kann dir 50 Gärtner in Berlin anbieten«, sagt Wesseler. Und wenn man nun, sagen wir, gern eine schwarzhaarige, sächselnde Bäckereifachverkäuferin buchen wollte? »Bekommen wir hin, da haben wir wahrscheinlich mehr als eine in der Bank.«
Man kann in dieser Datenbank nachschlagen, welche Schuhgröße jemand hat, welche Hobbys, Talente, Allergien, die zeitliche Verfügbarkeit. Damit die Datensätze aktuell bleiben, verschickt das System nach einer gewissen Zeit eine automatische Mail und fragt nach neuen Handynummern, Adressen, Haarfarben. Die Leute können die Daten und Fotos dann selbst hochladen.
Echte und falsche Wirklichkeit.
Sogar die Castings bei Filmpool, die in ganz Deutschland stattfinden, laufen automatisiert ab. Alle Bewerber müssen dieselbe Szene spielen, dreieinhalb Minuten lang - das macht sie vergleichbar. Die jüngsten sind fünf Jahre alt; es haben sich aber auch schon 99-Jährige beworben. Die ganze bunte Bandbreite, wie bei dem Altershinweis auf der Ravensburger Spielesammlung. Vor Kurzem ließ sich eine 92-Jährige vom Fahrdienst aus dem Altenheim bringen.
Die Bewerber bekommen vor dem Casting einen Leitfaden, darauf stehen die Worte »DEINE Geschichte:«. Hinter dem Doppelpunkt kommt es dann knüppeldick: Job weg, Familie weg, Wohnung weg, Geld weg, und während man gerade versucht, mit dem Verteilen von Werbeprospekten wieder einen wunden Fuß auf die Erde zu bekommen, läuft man in der kleinen Probeszene seiner Schwester in die Arme oder seinem Bruder - je nachdem, ob der diensthabende Casting-Leiter von Filmpool gerade weiblich oder männlich ist.
An einem Apriltag in Berlin ist er weiblich und heißt Wiebke. Wiebke Eggert ist heute die Schwester von Klaus. Klaus Hennig ist 68, er hat am Nachmittag noch gebügelt, und dann ist er hierher gekommen, an einem anderen Tag wäre es auch nicht gegangen. »Ich bin so ein verrückter Rentner, der nie Zeit hat«, sagt er.« Tai Chi, Gitarrenunterricht, Kraftkreis, dann ist die Woche fast schon wieder rum.
1970 wurde Hennig für die DDR Europameister im Judo, später arbeitete er als Physiotherapeut. Zu seinem 50. Geburtstag schenkte ihm seine jüngste Tochter ein Ohrloch und einen Brilli dazu, »weil sie meinte, ich bin der Typ dafür«. Heute spielt Hennig gelegentlich in Musikvideos mit. »Mein Sohn macht so ein bisschen Hip-Hop, die brauchen da ab und zu mal einen verrückten Alten.« Man kann sich diese Videos bei Youtube anschauen. Eines, in dem Hennig mitspielt, heißt Ich find Dein Po schick.
Klaus Hennig möchte Menschen kennenlernen, deswegen ist er zum Casting gekommen. Sein Sohn hat ihm gleich dazu geraten, er steht schon länger in der Kartei von Filmpool. Bei Richterin Salesch spielte er mal einen Bösewicht, »und das könnte ich bestimmt auch«, sagt Klaus Hennig. »Wer mich nicht kennt und mich sieht mit meinen mächtigen Falten - uahh, uahh, böse!«
Ob sie das bei Filmpool auch so sehen, wird sich im Casting zeigen. Sie wollen herausfinden, ob Hennig möglichst überzeugend schreien und heulen kann – für den Fernsehnachmittag sind das Kernkompetenzen. Und es fiele Hennig wahrscheinlich leichter, wenn Wiebke Eggert jetzt nicht so zart lächeln würde.
Hennig: »Ich soll Sie anbrüllen?«
Eggert: »Aber sicher! Ich bin auch nur jetzt so nett. Als Ihre Schwester gleich nicht mehr.«
Hennig: »Das ist für mich eine echte Herausforderung, weil das absolut nicht mit meinen Familienverhältnissen zusammentrifft.«
Eggert: »Das kriegen wir schon hin, ich biete gleich noch genug Angriffsfläche, keine Sorge.«
Nach einer guten Stunde kommt Klaus Hennig zurück: »Die hat mich angeblökt, das Mädel! Und dann kam das Wasser.« Klaus Hennig hat erst geheult, »und dann hab ich den Prollberliner rausgekehrt«. Wie geht der? »Ey, pass uff, Kleener, soll ick dir die Schnauze so spitz hau’n, dass de aus der Flasche fressen kannst, oder wat?«
Vor dem Casting hatte Hennig gesagt, es sei ihm egal, welchem Format er zugeteilt werden würde. Mit einer Ausnahme: »Auf keinen Fall ›Berlin bei Nacht‹, oder wie das Ding heißt. Das ist so ein Beispiel dafür, wie weit das Niveau einer breiten Masse unserer Jugendlichen abgesackt ist. Es ist wirklich so.« Das Format, das er meinte, heißt Berlin - Tag & Nacht. Es ist das aktuelle Flaggschiff von Filmpool.
Die Sendung läuft täglich auf dem alten Sendeplatz von Big Brother, von 19 bis 20 Uhr auf RTL II. Sie hat die Quote in dieser Zeitschiene mehr als verdoppelt, und sie ist das deutsche Fernsehformat mit den meisten Facebook-Fans: Mehr als 1,6 Millionen Menschen gefällt die Seite der Sendung. Die von Redakteuren eingestellten Posts bekommen manchmal mehr als 100 000 »Gefällt mir«-Klicks und mehr als 5000 Kommentare.
In Berlin - Tag & Nacht geht es um die Wohngemeinschaft einiger jüngerer Menschen, die das Projekt Selbstverwirklichung nach Berlin geführt hat. Sie suchen dort einen Job, den Sinn des Lebens; oft suchen sie auch nur nach dem richtigen Oberteil. All dies im Sehnsuchtsort Berlin, der exakt so inszeniert wird, wie sich Leute Berlin vorstellen, die noch nie dort waren. Schnell geschnitten und klug produziert, TV-Trash erster Klasse.
Das wirklich Besondere an Berlin - Tag & Nacht ist aber, dass sich darin falsche und echte Wirklichkeit vermischen - Filmpool imprägniert das Format mit »echter Realität«, um es gegen Abnutzung beim Zuschauer zu schützen.
Fabrizio, 41, steht in »seinem« WG-Zimmer am Set in einem Berliner Altbau. Auf seinem hügeligen Oberkörper ist das Logo der Rockabilly-Band Stray Cats eintätowiert, aber auch der Zauberer Merlin vor seinem Schloss. Fabrizio arbeitet seit zehn Jahren für Filmpool, er war unter anderem neunmal bei Richterin Salesch. Seit April 2011 steht er hauptberuflich vor der Kamera.
Fabrizio ist nur der Name seines Charakters, aber »90 Prozent von dem, was du von Fabrizio siehst, kommen wirklich von mir«. Das ist das Prinzip: Die Darsteller bekommen zwar Szenen vorgegeben und dafür auch grobe Handlungshinweise. Was genau sie aber sagen, das sollen sie improvisieren. Das Geschriebene wird durch das Echte angeraut, damit es authentischer wirkt. Es ist eine Dialektik des Nichts, denn worum genau es dann geht, ist zweitrangig.
Echte und falsche Wirklichkeit sind am Set kaum mehr zu unterscheiden: Darsteller laden ihre echten iPhones in ihren falschen WG-Zimmern. Sie schminken sich selbst in ihrem falschen WG-Bad, wie sie sich immer schminken. Und sie mischen immer wieder die Anreden - mal wird einer bei seinem richtigen Namen gerufen, dann wieder bei dem seines Charakters.
Für Filmpool hat diese Verschmelzung Vorteile: Das Format ist nicht so unglaubwürdig wie zum Beispiel die Serie Gute Zeiten, schlechte Zeiten, bei der man ständig denkt, die Darsteller sitzen in einer Ikea-Musterwohnung beim Frühstück und schauen erst am Nachmittag für ein paar Minuten in irgendeiner Agentur zum Arbeiten vorbei. Selbst am Set von Berlin - Tag & Nacht erkennt man den Schwindel ja erst auf den zweiten Blick: an den vielen kleinen Fotos der Facebook-Fans, aus denen das große Foto des Brandenburger Tors an der Zimmerwand besteht, oder den zwei ausgestopften Frettchen, die ihren Platz im Käfig immer nur dann verlieren, wenn für einen Drehtag zwei lebende Tiere angemietet werden.
Es gibt verschiedene Umfragen dazu, ob den Zuschauern bewusst ist, dass Formate wie die von Filmpool »gescripted«, also nicht echt sind. Wenn man ein bisschen bei Verstand ist, kann man das eigentlich nicht übersehen. Und den Diskussionen bei Facebook zufolge ist den Zuschauern diese Frage auch ziemlich egal.
Nur Felix Wesseler muss darauf aufpassen, dass die Balance zwischen Echtheit und Inszenierung stimmt. Das bedeutet für die Darsteller, dass sie ihre Sache dann am besten machen, wenn sie sich so wenig Mühe wie möglich geben, jemand anderer zu sein als sie selbst. Die größte Gefahr für Filmpool ist daher, dass manche bei Berlin - Tag & Nacht plötzlich glauben, sie seien jetzt prominente Schauspieler. Felix Wesseler sagt: »Wenn das passiert, haben wir schon ein Problem. Dann müssen wir die Darsteller austauschen.«
Das Ensemble.
Der Kandidat
Klaus Hennig, 68, früherer Judo-Europameister, will ins Fernsehen und bewirbt sich gerade bei der Castingfirma Filmpool.
Der Fernsehmann
Felix Wesseler, 33, ist der Mann bei Filmpool, der letztlich über die Fernsehkarriere der Laiendarsteller entscheidet.
Der Star
Er hat es geschafft: »Fabrizio«, 41, spielt in der Serie Berlin - Tag & Nacht sich selbst. Sein echter Name ist ein Geheimnis.
Illustrationen: Pascal Cloëtta