Also, diese Stelle in Die Brücken am Fluss, fast am Schluss. Wo sie sich eigentlich schon getrennt haben, Meryl Streep und Clint Eastwood. Sie sind füreinander bestimmt, und doch bringt sie es nicht über sich, ihre langweilige Hillbilly-Familie zu verlassen, um mit ihm all ihre Träume zu verwirklichen. Traurig, aber es wird noch besser. Sie fährt mit ihrem Hillbilly-Mann in die Stadt. Es regnet. Sie sieht Clint in seinem Pick-up-Truck. Er hat gerade Vorräte gekauft, um endgültig die Gegend zu verlassen. Er schwenkt in die Straße ein, fährt vor ihr und ihrem Mann. Hält an einer Ampel. Hängt das Kreuz, das sie ihm geschenkt hat, an den Rückspiegel. Ein Zeichen. Er weiß, dass sie im Wagen hinter ihm sitzt. Sie muss nur aussteigen und sich in sein Auto setzen und mit ihm ins Happy End fahren. Sie hat die Hand am Türöffner. Lange. Die Ampel springt auf Grün. Clint fährt los. Meryl bleibt zurück. Es ist zu spät, für Meryl und für mich. Die Regentropfen rinnen die Scheibe hinunter, meine Tränen treten über die Ufer, erst ganz sachte in den Augenwinkeln, dann über die volle Breitseite.
In dem Moment, in dem die ersten Tränen in den Ausschnitt rinnen, brechen meist alle Dämme. Und die Tränensturzbäche werden immer schön da oben auf der Leinwand nachgefüllt: Meryls Kinder erfahren nach ihrem Tod, welches Opfer ihre Mutter für sie gebracht hat, und verstreuen ihre Asche da, wo sie mit Clint so glücklich war. Die Musik schwillt an, meine Nase schwillt zu. Es ist großartig. Und viel zu schnell vorbei. Das Licht geht an, wir Frauen im Publikum gucken uns an und lachen ein bisschen verlegen und sagen »O Gott« und gehen aufs Klo, um die Mascara-Rinnsale aufzufeudeln und die rote Nase zu pudern, und danach geht man erst mal was Anständiges essen.
Denn Weinen ist nichts für Weicheier. Weinen in der Öffentlichkeit ist wie Nacktsein. Zwar bietet die Dunkelheit des Kinos Schutz, aber trotzdem: Die Erfahrung, in einem Saal voller Wildfremder Rotz und Wasser um eine 45-jährige Landpomeranze zu weinen, geht an die Substanz, da wackelt manches Selbstbild. Ist schon heftig, so den eigenen Drüsen ausgeliefert zu sein, die selbst dann nicht unter Kontrolle zu kriegen sind, wenn man den Film schon tausend Mal gesehen hat. Der Todesfall in Vier Hochzeiten und ein Todesfall zum Beispiel - die Grabrede, oh Mann. Die erwischt mich auch beim fünften Mal noch frontal. Oder die Marseillaise-Szene in Casablanca, wenn das ganze Lokal die Nazis niedersingt. Jedes Mal denke ich vorher, heute heule ich aber nicht, ist doch zu albern, ich kenne den Film auswendig, die Szene kann ich im Schlaf, diesmal nicht, diesmal nicht, diesmal ... Verdammt.
Doch eigentlich weint man im Kino selten unter seinem Niveau. Während man im wahren Leben Tränen meist aus Selbstmitleid, verletzter Eitelkeit und anderen niederen Instinkten vergießt, weint man im Kino heroischer. Heldentod, Aufopferung, große Liebe - die Tränen im Kino sind edelherb bis zartbitter und verleihen für kurze Zeit die Illusion, man sei, wenn schon nicht zu großen Taten, zumindest zu tiefen Gefühlen fähig. Acht Euro, um sich wunderbar sensibel und irgendwie nobel zu fühlen – wirklich nicht zu viel verlangt.
Denn das Gefühl nach einem gelungenen Heulkrampf ist unbeschreiblich. Man ist leer und leise, auf angenehme Weise erschöpft und würdevoll melancholisch. Aristoteles rühmte Tragödien als reinigend, geradezu therapeutisch: All die krankmachenden Körpersäfte, so seine Theorie, würden einfach hinweggeschwemmt. Tatsächlich haben Forscher festgestellt, dass bei emotionalen Tränen (im Unterschied zu Zwiebelschneidtränen) Stresshormone abgebaut werden. Doch Produktionsfirmen sind äußerst vorsichtig damit, Filme als »Tearjerker« zu verkaufen. Selbst bei größten Tragödien laufen in den Trailern immer die lustigen Szenen, um nicht von vorherein die Hälfte des potenziellen Publikums in die Flucht zu schlagen: die Männer.
Männer weinen ja nicht, sondern haben was im Auge. Brillen beschlagen, Adamsäpfel heben und senken sich, Kinne zittern, aber heulen, nein, ums Verrecken nicht. Der vermutlich erste Film, bei dem es für Männer in Ordnung ging zu weinen, war Der Club der toten Dichter. Der Film hat es geschafft, Sensibilität heroisch zu machen, und befolgte außerdem Gesetz Nummer eins aller Männer-Schinken, aller Bruder-, Buddy-, Baseball-, Boxer-, Internats- und Kriegsfilme, dass nämlich um Himmels willen keine Frau mitspielt.
Ansonsten werden geschlechtsübergreifend immer wieder dieselben goldenen Regeln angewendet. 1. Weinen ist leichter, wenn jemand auf der Leinwand weint. 2. Weinen ist schöner, wenn man vorher gelacht hat. Daran halten sich alle Klassiker unter den Tränentreibern von Zeit der Zärtlichkeit bis So wie wir waren.
Außerdem muss natürlich zwingend eine oder mehrere der folgenden Zutaten verwendet werden:
- Selbstlosigkeit (Ist das Leben nicht schön?)
- Kinder und/oder Tiere in Gefahr (Bambi)
- Tödliche Krankheiten (Love Story, Freundinnen, Magnolien aus Stahl, Entscheidung aus Liebe). Essenziell: Die Sterbende muss immer schöner werden, je näher sie dem Tode ist.
- Aussichtslose Liebe (Die Brücken am Fluss, So wie wir waren, Romeo und Julia, Der englische Patient)
- Sieg eines Underdogs gegen alle Widrigkeiten (Rocky)
- Krieg/Hinrichtung/Massenmord (Der Soldat James Ryan, Schindlers Liste, Das Leben ist schön, The Green Mile, Dead Man Walking)
- Schreiende Ungerechtigkeit (Dancer in the Dark, Breaking the Waves)
- Abschiede (Bodyguard, E. T., Casablanca)
- Wiedervereinigungen (Die Farbe Lila)
- Ein Lied von Barbra Streisand/Bette Midler/ Whitney Houston/Celine Dion.
Ideal sind natürlich immer Kombinationen wie Tödliche Krankheit + Schreiende Ungerechtigkeit (Philadelphia) oder Aussichtslose Liebe + Massentod + Celine Dion (Titanic) oder ... Je mehr, desto besser. Das Schöne am Weinen ist, dass es verlässlicher und unerschütterlicher ist als Lachen. Bei mir reichte es jahrelang, im Celine-Dion-Video von My Heart Will Go On nur den Bruchteil einer Sekunde jener Titanic-Szene zu sehen, wo das alte Paar sich aneinandergeschmiegt zum Sterben in die Koje legt, um selbst in irgendwelchen Cafés, wo MTV lief, in Tränen auszubrechen. Also, wenn ich jetzt gerade daran denke ... Entschuldigung, es geht schon wieder los.
Foto: Pari Ducovic