Hans Magnus Enzensberger hat einmal beklagt, große Teile der deutschen Bevölkerung seien »über den Stand der griechischen Mathematik nie hinausgekommen«, also den Stand der Mathematik vor einigen tausend Jahren. Das war nicht übertrieben. Es gibt Umfragen, wonach ein Drittel der Deutschen nicht weiß, was »40 Prozent« bedeutet. Die einen glauben, es handle sich dabei um ein Viertel, die anderen verstehen darunter »jeder 40ste«. Ein Hamburger Medizinprofessor hat wiederholt festgestellt, dass seine Studenten und nicht wenige praktizierende Ärzte schon das Rechnen mit dem Dreisatz überfordert. Angehende Lehrer und Wirtschaftler sind mit ihrem Latein schnell am Ende, wenn man ihnen die Matheaufgaben der Pisa-Studie für Neuntklässler vorlegt. Eine Schande für unser Land, den Wissensstandort? Ach was. Wer schlecht in Mathe ist, kann bei uns immer noch Bundeskanzler werden oder zumindest Talkmaster beim ZDF. Gerhard Schröder, der als Regierungschef sehr viel über Innovationen redete, wird der Spruch zugeschrieben: »In Mathe war ich unterdurchschnittlich.« Der unselige Johannes Baptist Kerner setzte noch einen drauf: Mathe und Physik seien nicht seine Welt, er halte es eher mit Heinrich Heine, »weil mir spontan Deutschland, ein Wintermärchen einfällt und das großartige Lyrik ist«. Zwei Profi-Opportunisten wie Schröder und Kerner wissen nur zu gut, dass man in der Öffentlichkeit mühelos Punkte sammelt, wenn man sich als Null in Mathe outet. Schließlich hat jeder von uns in der Schule gelernt: 1. Der Mathestreber hat fettige Haare und kommt beim Weitsprung kaum über 1,20 Meter. 2. Cool und kreativ sein und gut in Mathe geht einfach nicht. 3. Es gibt ja Taschenrechner. Vor diesem Hintergrund kokettieren Schröder und Kerner – aber auch Menschen, die es nicht nötig hätten – damit, dass sie mit dem Fach auf Kriegsfuß stehen. Dieses pubertäre Verhalten ignoriert allerdings, dass es sich bei der Mathematik – ebenso wie der Musik, Literatur oder Kunst – um ein Kulturgut handelt, um das uns nicht nur die Affen beneiden würden, wenn sie nur könnten. Es ignoriert, dass der Ausschluss der Mathematik »aus der Sphäre der Kultur einer Art von intellektueller Kastration gleichkommt«, wie Enzensberger einwarf. Dass Mathematik zutiefst in der Natur verankert ist und geometrische Grundbegriffe selbst von der Zivilisation weit gehend unbelasteten Amazonas-Völkern im brasilianischen Urwald vertraut sind. Und dass niemand auf die Idee käme, sich zu brüsten, dass er Analphabet ist. Im Grunde handelt es sich um nichts anderes als eine Form von Analphabetismus, wenn ein großer Teil der Gesellschaft von den Errungenschaften einer Wissenschaft profitiert, wie keine Generation vor uns übrigens, ohne auch nur zu ahnen, was sich dahinter verbirgt. Ohne Mathematik läuft kein Auto, dampft kein Kraftwerk, piepst kein Handy. Das Herzstück der Internet-Suchmaschine Google, die ihre Besitzer zu Milliardären machte, ist ein Algorithmus, der die Wichtigkeit von Internet-Seiten bewertet, indem er eine Gleichung mit 500 Millionen Variablen berechnet. Mathematik spielt heute eine zentrale Rolle in der Physik, Chemie, Medizin, Biologie, in Wirtschaft, Architektur und Ingenieurwissenschaften. Ein Problem hat die Disziplin allerdings, und das heißt Benutzerfreundlichkeit: Jeder Mensch soll ja das Auto, den Fernseher oder die Kreditkarte nutzen können, ohne die Mathematik in diesen Gegenständen verstehen zu müssen. Weil die Mathematik im Alltag oft unsichtbar bleibt, glauben viele gänzlich ohne sie auszukommen.
Dabei beschränkt sich die Mathematik bei weitem nicht auf das Jonglieren mit Zahlen. Das Fach zeichnet sich wie kein anderes durch seine Präzision aus, seine eindeutigen und nachprüfbaren Ergebnisse. Mathematisches Können hat sehr viel mit der Fähigkeit zu tun, ohne die kein Mensch auskommt, der sich für modern und gebildet hält: der Fähigkeit zu analysieren, zu abstrahieren, logisch zu denken. Mathematik ist somit ein Instrument der Aufklärung, bemerkt der Gießener Mathematiker Albrecht Beutelspacher und sagt zu Recht: »Aufgeklärte Menschen lassen sich nicht so leicht manipulieren« – von der Werbung, der Statistik, der Politik. Nehmen wir nur die aktuelle Rentendiskussion: Dass immer mehr Alte immer mehr Geld kosten, wurde uns hinreichend eingebläut. Aber wo bleibt die Gegenrechnung: Bedeuten immer weniger Kinder nicht auch sinkende Ausgaben? Für Krippen, Kindergärten, Schulen oder Kinderärzte? Was ist überhaupt von den Prognosen über den Exodus der Deutschen zu halten, die 50 oder 100 Jahre in die Zukunft reichen? Hätte jemand Anfang des 20. Jahrhunderts ähnliche Vorhersagen gewagt – er hätte zwei Weltkriege vorhersehen müssen sowie die Erfindung der Antibabypille. Aus mathematischer Sicht kommt man in dieser hysterischen Debatte mit vielen Unbekannten nicht um den Verdacht herum, dass hier einzig die Versicherungen und Banken gut gerechnet haben, die am meisten profitieren würden, wenn nun alle privat fürs Alter vorsorgen. Natürlich ist die Mathematik oft abgehoben und stößt damit auch die Willigen vor den Kopf, die das Fach gern verstehen würden. Kein Grund zur Resignation, beschwichtigt der Innsbrucker Mathematiker Herwig Hauser: »Man muss ja nicht alles verstehen, um begeistert zu sein.« Tatsächlich kann jeder Laie leicht nachvollziehen, wie gut es mithilfe der Mathematik gelungen ist, die Welt zu beschreiben. Das betrifft selbst Phänomene, vor denen die anderen Wissenschaften kapitulieren: sei es der Zufall oder die Unendlichkeit. Kommerzielle Erfolge wie der Hollywood-Film »A Beautiful Mind« oder der deutsche Bestseller Die Vermessung der Welt haben immerhin gezeigt, dass sich ein breites Publikum für die Mathematik und deren Protagonisten gewinnen lässt, selbst wenn ihr Werk Normalsterblichen für immer verschlossen bleiben wird. Die Begeisterung wäre dringend nötig, denn momentan schreckt der geringe Stellenwert der Mathematik den Nachwuchs ab – trotz bester Berufsaussichten. Mathematiker sind – neben den Juristen – die Generalisten unserer Zeit. Kein Grund, das Fach zu lieben, aber auch kein belangloses Argument bei fünf Millionen Arbeitslosen. Wer immer also die Aufgabe hat, für dieses Fach zu werben, sollte sich das Selbstbewusstsein von David Hilbert aneignen, einem berühmten Mathematiker des 19. und 20. Jahrhunderts. Der meinte über einen früheren Assistenten, der Dichter geworden war: »Für Mathematik hat ihm ohnedies die Fantasie gefehlt.«