Sara* kommt mit der Nabelschnur um den Hals zur Welt. Die Hebamme versucht, die Umschlingung zu lösen, das gelingt erst nach einigen Sekunden. Der Sauerstoffmangel führt bei Sara zu Atemstillständen. Apnoen, wie die Ärzte sagen. Nicht schlimm, beteuern sie, in ein paar Wochen ganz verschwunden, wie bei anderen Neugeborenen auch.
Sieben Tage später dürfen Judith und Bruno ihre Tochter mit nach Hause nehmen. Endlich eine Schwester für die fünfjährige Salome. Endlich ein gesundes Kind nach einer Fehlgeburt im fünften Monat. Im Kinderzimmer stapeln sich Geschenke von Freunden. Gummienten für die Badewanne, eine Wärmflasche in Herzform, ein Stoffhund. Salome nennt ihn Topsi. Alles ist gut. Wenn da nur nicht Saras Atemstillstände wären, sie kommen meistens im Schlaf.
Zur Kontrolle besucht Judith mit Sara alle zwei Wochen Kinderarzt Martin Weber. Die Fahrt ins Krankenhaus erübrigt sich – die Mutter ist selbst Pflegefachfrau, die weiß, wie sie bei einem Atemstillstand reagieren muss. Bei schweren Anfällen – manchmal läuft Sara blau an – stimuliert Judith das Kind mit sanftem Streicheln, bis es wieder atmet. Sorgenvoll berichtet sie dem Arzt, dass mehrmals wöchentlich Atemstillstände eintreten.
Vier Monate nach der Geburt sind die Apnoen bei Sara noch immer nicht verschwunden. Das ist unüblich. Vielleicht sind es keine Atemstillstände, denkt Weber, sondern Krampfanfälle. Frühkindliche Epilepsie. Er überweist Sara zur Abklärung ans nächste Kinderkrankenhaus. Dort wird Sara von der Fachärztin Christa Gredig untersucht. Zur umfangreichen Abklärung gehört ein Elektroenzephalogramm oder EEG. Zwanzig Elektroden an Saras Kopf zeichnen die Aktivität der Nervenzellen in ihrem Gehirn auf. Mit im Bettchen liegt Stoffhund Topsi. Die Messung zeigt nichts Auffälliges. Für Gredig kein Grund zur Entwarnung. Gerade bei Kleinkindern schließt dies Epilepsie nicht zwingend aus. Aber auch andere Untersuchungen wie der Ultraschall von Saras Gehirn durch die offene Fontanelle bleiben ergebnislos. Für den Notfall gibt die Ärztin der Mutter das krampflösende Medikament Diazepam nach Hause, besser bekannt unter dem Namen Valium.
Drei Wochen später erleidet Sara am frühen Morgen – ihr Vater Bruno ist bereits in der Gärtnerei, wo er arbeitet – einen besonders heftigen Anfall. Beim Wickeln verdreht sie die Augen nach oben, Arme und Beine verkrampfen sich, zucken rhythmisch. Judith verabreicht Sara das krampflösende Medikament, nach ein paar Minuten lassen die Zuckungen nach. Kinderarzt Weber interpretiert die Schilderungen der Mutter als tonisch-klonischen Krampfanfall. Also doch Epilepsie.
Nach Rücksprache mit der Fachärztin am Kinderkrankenhaus beschließt Weber, vorbeugend mit einem Antiepileptikum zu behandeln. Valium, nur für den Notfall gedacht, reicht nicht mehr aus. Ausschlaggebend für die Epilepsietherapie sind neben dem schweren Krampfanfall die präzisen Erzählungen der Mutter, die als Pflegefachfrau ähnliche Anfälle bei Patienten beobachtet hat. Weber instruiert die Eltern in der Praxis über die abzugebende Tropfenmenge und macht sie auf die starken Nebenwirkungen des Medikaments aufmerksam. Judith begreift schnell. Fortan wird sie es sein, die der Tochter das Medikament verabreicht.
Immer mehr Krämpfe
Zehn Tage später, es ist ein Freitag, erleidet Sara erneut einen Anfall. Er dauert vier Minuten. Montag, sieben Minuten. Dienstag, drei Minuten. Mittwoch, acht Minuten. Sonntag, zwei Minuten. Saras Krämpfe häufen sich, sie finden jetzt täglich statt. Als Kinderarzt Weber die Tropfendosis nach Absprache mit Fachärztin Gredig erhöht, bleiben die Krämpfe für drei Wochen aus. Dann beginnen sie von Neuem. Krämpfe am Dienstag, Mittwoch, Freitag, Sonntag, zweimal am Montag, Dienstag, Donnerstag, Freitag. Bei besonders heftigen Krämpfen führt Judith Sara mit Rektiolen Valium in den After ein.
Bruno ist in der Gärtnerei, wenn die Anfälle passieren, nachts schläft er. Er arbeitet viel. Doch auch ihm fällt auf, was seine Frau dem Kinderarzt meldet: Mit sieben Monaten ist Sara verändert. Müder, ruhiger, abwesender, benommener. Der Blick wie verladen. Die Nebenwirkungen des Valiums, erklärt Weber. Und mahnt: nur für Notfälle. Judith nickt. Nach weiteren vier Wochen wirkt das Antiepileptikum noch immer nicht. Vielleicht hat das Mädchen einen Hirntumor, denken Weber und Gredig. Auch dieser könnte die epileptischen Anfälle auslösen. Eine Magnetresonanztomografie von Saras Gehirn fördert nichts Auffälliges zutage. Drei Tage später krampft Sara erneut. Erhöhung der Dosis, keine Veränderung, Krämpfe, Krämpfe, Krämpfe.
Mit neun Monaten bringen Saras Eltern ihre Tochter mit Verdacht auf eine schwere Mittelohrentzündung ins Kinderspital. Der Befund bestätigt sich, Sara bleibt zwei Nächte auf der Station. An ihrer Seite: Mutter Judith und Stoffhund Topsi. In der zweiten Nacht erleidet Sara einen heftigen Krampfanfall. Die Mutter klingelt, ruft um Hilfe, doch niemand hört sie. Sie gibt der Tochter Valium. Am Morgen fragt sie: Warum hat mir niemand geholfen, warum hat die Klingel nicht funktioniert? Wir haben Sie nicht gehört, sagen die Krankenschwestern.
Sie beteuern, dass die Klingel in der Nacht einwandfrei funktioniert habe. Die Mutter ist die einzige Zeugin der Anfälle. Zudem sind die Eltern der Forderung, einen der Anfälle mit ihrer Videokamera aufzuzeichnen, noch nicht nachgekommen. Kinderarzt Weber rät den Eltern nach dem Vorfall, die Tochter an einem zweiten Kinderspital abklären zu lassen. Er denkt: Hier stimmt was nicht.
Die Untersuchungen am zweiten Kinderspital ergeben wieder nichts. Falls Sara erneut krampft, müssen Sie Videoaufnahmen machen, damit wir die Anfälle genauer untersuchen können, mahnen die Ärzte. Unbedingt. Wenige Wochen später meldet die Mutter dem Kinderarzt neue Krämpfe. Doch die Videokamera funktioniert nicht. Salome hat sie fallen gelassen, sagt Judith.
Valium, immer wieder
Bei der nächsten Arztkontrolle ist Sara müde. Benommen. Apathisch. Weber kommt wieder auf den hohen Verbrauch des Notfallmedikaments zu sprechen. Was soll ich denn machen, wenn Sara krampft?, fragt die Mutter. Ich will doch, dass es ihr besser geht. Der Arzt ruft die Apotheke an, wo Judith, wie alle Epilepsie-Eltern, ein Dauerrezept für das Medikament hat. Immer wieder, erfährt Weber, holt die Mutter neue Valiumrationen ab. Judith liefert plausible Erklärungen. Bei den Großeltern vergessen, zu lange in der Sonne gelegen, aus der Tasche gefallen, abgelaufen.
Sara wird elf, zwölf, 13, 14 Monate alt. Weil das Antiepileptikum noch immer nichts nützt, beschließt die Klinik eine neue Therapie. Ein anderer Wirkstoff, Sirup statt Tropfen. Auf Videoaufnahmen warten die Ärzte vergeblich. Bei den Untersuchungen in der Kinderarztpraxis, zu denen die Mutter fast immer ohne ihren Mann erscheint, hilft sie tatkräftig mit. Äußerst professionell, fällt Weber auf. Auch hat sie, anders als andere Eltern, keine Mühe damit, ihrem Kind Medikamente zu geben. Am Abend bringt Weber seine beiden Söhne ins Bett. Als sie schlafen, sagt er leise: Hätte einer von euch Epilepsie, würde ich alles dafür tun, einen Krampfanfall auf Video aufzuzeichnen.
Bei einer Kontrolle vier Wochen später ist Sara apathisch, müde, matt. Ihr Blick ist verschleiert. Mehrfach lässt sie Stoffhund Topsi fallen. Weber fragt: Haben Sie Ihrer Tochter Valium gegeben? Nein, sagt die Mutter. Sind Sie sicher? Ja, sagt die Mutter, ich bin sicher. Weber nimmt an Saras Urin heimlich ein Drogenscreening vor. Es ist positiv.
Plötzlich macht alles Sinn, ordnet sich zu einem einzigen, glasklaren Gedanken: Sara hat keine Epilepsie. Die Mutter erfindet die Anfälle. Sie verabreicht ihrer Tochter Valium, das diese nicht braucht. Sara ist gesund. Krank ist die Mutter. Sie hat das Münchhausen-Stellvertretersyndrom.
Lass dir nichts anmerken
Der Arzt ist erschüttert. Will die Mutter anschreien. Doch er sagt nichts. Nach der Untersuchung ruft er die Fachärztin an der Kinderklinik an. Behalten Sie den Laborbefund für sich, sagt Gredig. Sonst ist die Mutter weg und sucht einen neuen, unwissenden Arzt auf. Das ist bei vielen Münchhausen-Müttern so. Wir brauchen mehr als nur diesen Beweis. Weber ist einverstanden. Und doch, sagt er zur Fachärztin, ist die Situation schwierig für mich. Ich sage den Eltern nicht, was ich weiß. Und: Ich setze Sara weiterhin den Misshandlungen aus. Ich will, ich muss Sara schützen. Ja, sagt Gredig, das machen Sie. Indem Sie die Mutter im Glauben lassen, dass alles in Ordnung ist. Sonst ist Sara verloren.
Mit 18 Monaten läuft Sara. Endlich, sagt die Mutter. Den Großeltern fällt auf, dass das Mädchen immer wieder hinfällt. Einen Krampfanfall beobachten sie jedoch nie, ebenso wenig Vater Bruno und Schwester Salome. Sara krampft mehrmals pro Woche, erzählt die Mutter. Weber presst die Hände gegeneinander. Sagt: Ich verstehe. Wir müssen uns weitere Schritte überlegen.
Am nächsten Tag überweist er das Mädchen an ein Epilepsiezentrum. Ein Langzeit-EEG über zwei Nächte ist unauffällig. Einen Krampfanfall registriert der behandelnde Arzt Felix Schulz nicht. Diagnose: frühkindliche generalisierte Epilepsie mit tonisch-klonischen Anfällen. Auch für Schulz gilt: Ein unauffälliges EEG schließt, besonders bei Kleinkindern, Epilepsie nicht aus. So steht es in der Fachliteratur. Und: Solange sich der Verdacht gegen die Mutter nicht bestätigt, gilt die Unschuldsvermutung. Bei der Besprechung verhält sich Judith wie das EEG – unauffällig. Nicht sonderlich besorgt, aber korrekt.
Bei einer weiteren Abklärung vier Monate später wirkt Sara erneut wie sediert. Sie torkelt, fällt beim Laufen um. Fachärztin Gredig fragt die Mutter: Haben Sie dem Mädchen Valium gegeben? Nein, sagt die Mutter, schon seit drei Wochen nicht mehr. Sind Sie sicher? Ja, ich bin sicher. Das Drogenscreening von Saras Urin ist positiv. Gredig ruft Weber an. Jetzt müssen wir handeln. Die Ärzte schalten die Kinderschutzgruppe des Kinderkrankenhauses ein. Sie kümmert sich um Kinder, bei denen Verdacht oder Gewissheit besteht, dass sie misshandelt werden.
Die Kinderschutzgruppe beruft eine Sitzung ein, mit Remo Stucky, dem Vormundschaftspräsidenten des Wohnorts der Familie. Stucky hat noch nie vom Münchhausen-Stellvertretersyndrom gehört. Doch was die Ärzte erzählen, erschreckt ihn. Eine Krankheit, bei der Erwachsene, fast immer Mütter, Krankheiten ihrer Kinder erfinden oder aktiv verursachen, um die Aufmerksamkeit der Ärzte zu bekommen. Die Kinderschutzgruppe führt ein Video aus den USA vor, heimlich in einem Krankenhaus aufgenommen. Eine Mutter drückt ihrem Kind ein Kissen auf den Kopf, sekundenlang. Dann schreit sie um Hilfe und behauptet, das Kind habe einen Atemstillstand erlitten. Andere Beispiele: Eine Mutter spritzt ihrem Sohn Luft in die Adern, um seinen Aufenthalt im Krankenhaus zu verlängern. Eine andere bricht ihrer Tochter Beine und Arme, schlägt mit dem Hammer auf die Bruchstellen und infiziert die Wunden mit Schmutz. Gemeinsam mit Ärzten wundert sie sich über die seltsamen Infektionen am Körper ihres Kindes.
Die ungewöhnliche Mutter-Krankheit wurde 1977 vom britischen Kinderarzt Roy Meadow entdeckt. Bei einer sechsjährigen Patientin fand dieser immer wieder Blut im Urin – aber keine Ursache. Dann stellte sich heraus, dass die Mutter des Mädchens ihr eigenes Blut in die Urinproben gemischt hatte. Den Namen für die Erscheinung wählte Meadow in Anlehnung an das nach dem deutschen Lügenbaron Hieronymus Carl Friedrich Freiherr von Münchhausen benannte Syndrom, bei dem Patienten Krankheiten vortäuschen oder sich selbst verletzen.
Stucky stimmt dem Vorschlag der Kinderschutzgruppe zu, Sara für drei Monate zur Abklärung in ein Epilepsiezentrum zu bringen. Stationär, ohne Kontakt zur Mutter. Tauchen im Epilepsiezentrum in drei Monaten keine Anfälle auf, erhärtet sich der Verdacht auf Misshandlung. Sind sämtliche in dieser Zeit abgeleiteten EEG weiterhin unauffällig, ist dies ein weiterer Beweis. Gegen die Epilepsie. Für das Münchhausen-Stellvertretersyndrom. Dann geht alles schnell: Die Kinderschutzgruppe erlässt eine Gefährdungsmeldung, die Vormundschaftsbehörde setzt schriftlich einen Sorgerechtsentzug auf. Die Ärzte bestellen Judith unter einem Vorwand ins Kinderkrankenhaus.
Vater Bruno ist bei einer Gartenbaumesse im Ausland, Tochter Salome im Kindergarten, als Judith mit Sara ins Krankenhaus kommt. Der Leiter der Kinderschutzgruppe, Kinderarzt Werner Zimmermann, sagt: Wir müssen klären, ob Ihre Tochter an Epilepsie leidet. Es ist nötig, dass wir Sara für drei Monate in ein Epilepsiezentrum geben. In dieser Zeit dürfen Sie Ihre Tochter nicht sehen.
Die Mutter reagiert gefasst. Keine Wut, keine Trauer, ein paar Tränen. Dann sagt sie: Jetzt verstehe ich. Sie meinen, dass ich am Münchhausen-Stellvertretersyndrom leide. Es geht mir nicht gut. Ich schlafe schlecht. Ich habe psychische Probleme. Möchten Sie Ihr Kind ins Epilepsiezentrum begleiten?, fragt Zimmermann. Nein, sagt die Mutter. Zimmermann denkt: Sie redet nur von sich, fragt nicht nach den Untersuchungen, die man an Sara vornehmen wird, äußert sich nicht zum Besuchsverbot. Zum Abschied küsst die Mutter die Tochter auf die Stirn.
Was ist mit dem Vater?
Nach Saras Ankunft im Epilepsiezentrum verschließt die Klinikleitung sämtliche Türen. Der behandelnde Arzt, Felix Schulz, befürchtet, dass die Eltern mit Gewalt in die Station eindringen und das Kind entführen könnten. Am Empfang muss sich ausweisen, wer ins Gebäude will. Besucher, Patienten, Ärzte, Pflegekräfte, alle, immer, drei Monate lang. Besuchen darf Sara vorerst niemand. Schulz fällt der Gang des Mädchens auf. Sara schwankt. Fällt um. Ihre Muskeln sind schlaff. Symptome einer Valiumüberdosierung. Die Untersuchungen von Blut und Urin fallen positiv aus.
Saras Eltern reichen Beschwerde gegen den dreimonatigen Sorgerechtsentzug ein. Nach einer Woche im Epilepsiezentrum erhält der Vater ein Besuchsrecht, genau geregelt: allein kommen, zu einer bestimmten Zeit, vorher anmelden, stets unter Aufsicht. Zudem darf Sara während des Besuchs ihres Vaters weder essen noch trinken. Schulz spricht Bruno auf die positiven Valiumwerte an. Er kann sich den Befund nicht erklären. Vielleicht hat Sara das Notfallmedikament selbst eingenommen? Der Arzt denkt: Der Vater überlässt die Kinder seiner Ehefrau.
Die Symptome der Valiumüberdosierung sind bei Sara nach einer Woche verschwunden. Ihr Gang ist jetzt sicher. Blick wach. Beim Essen trifft sie mit dem Löffel ihren Mund. Einen Krampfanfall erleidet sie nie. Auch in der Nacht nicht, wenn eine Videokamera Sara überwacht, während sie mit Stoffhund Topsi im Arm schläft. Die EEG-Ableitungen sind unauffällig. Sara freundet sich mit zwei gleichaltrigen Jungen auf der Station an. An ihrem zweiten Geburtstag isst Sara Schokoladenkuchen. Und lacht.
Ein Rollstuhl für Sara
Nach fünf Wochen erkämpft sich die Mutter die Erlaubnis, ihre Tochter einmal pro Woche für eine Stunde zu besuchen. Allein. Kein Essen, kein Trinken, zwei Aufsichtspersonen. Beim ersten Treffen verlässt Judith die Station nach einer halben Stunde. Auch bei den nächsten Treffen ändert sich das Verhalten der Mutter nicht. Sie weiß nicht, was sie mit dem Kind anfangen soll, denkt Schulz. Sie wirkt distanziert und emotionslos. Judith beantragt einen Rollstuhl für Sara. Sie hat Mühe mit dem Laufen, sagt sie. Etwas mit ihren Beinen stimmt nicht. Eine Abklärung beim Orthopäden gibt Entwarnung. Die Mutter verlangt eine Zweitmeinung.
Kinderarzt Weber erhält einen Brief von den Eltern. Die Vorwürfe sind massiv. Sie haben uns angelogen und falsch beraten. Wir überlegen uns juristische Schritte wegen Verleumdung und Körperverletzung. Auch Felix Schulz, Saras behandelnder Arzt im Epilepsiezentrum, steht unter Druck. Immer wieder versuchen die Eltern, das Besuchsrecht mithilfe ihres Anwalts auszudehnen. Sobald mit Mühe eine Regelung vereinbart ist, soll eine neue her. Telefonanrufe, E-Mails, Briefe. Am schwersten aber wiegt für Schulz die Verantwortung. Was, wenn dem Kind im Epilepsiezentrum etwas passiert?
Nach drei Monaten hat Sara keinen einzigen Krampfanfall erlitten. Auch nach dem langsamen Absetzen des antiepileptischen Medikaments nicht, bei dem ein erhöhtes Risiko für Entzugsanfälle besteht. Da ist nichts, sagt Schulz dem Gericht. Wir haben Saras Hirntätigkeit mehr als 200 Stunden lang im EEG gemessen. Das ist sehr lange. Wir haben sie 13 Wochen lang rund um die Uhr beobachtet. Die Symptome, die Sara beim Eintritt gezeigt hat, wurden durch Valium verursacht, das Judith ihrer Tochter in zu hoher Dosis verabreicht hat. Das Kind ist gesund. Krank ist die Mutter.
Das Gericht erklärt die dreimonatige Trennung von Mutter und Kind für rechtmäßig und weist die Beschwerde der Eltern gegen den Sorgerechtsentzug ab. Das Kind sei nach wie vor gefährdet durch die Mutter, die ihm Valium verabreicht und Symptome angedichtet habe. Trotz des Urteils entlässt das Gericht Sara nach Hause. Ein weiterer Aufenthalt im Epilepsiezentrum sei nicht nötig. Es ist nicht an uns, sagt das Gericht, die Vormundschaftsbehörde ein weiteres Mal einzuschalten und zu beraten. Das ist verantwortungslos, sagen die Ärzte. Gefährlich. Falsch.
Die Kinderschutzgruppe erlässt innerhalb weniger Tage eine neue Gefährdungsmeldung. Bevor Judith nicht Einsicht zeigt und in eine Therapie einwilligt, können wir Sara nicht in die Familie zurückgeben. Ebenso entscheidend ist, dass der Vater endlich Verantwortung übernimmt. Die Vormundschaftsbehörde verlängert daraufhin den Sorgerechtsentzug, ebenso die Beistandschaft, die seit drei Monaten besteht. Wir platzieren Sara für eineinhalb Jahre in einer Pflegefamilie, sagt Remo Stucky.
Der Vormundschaftspräsident ist müde und erschöpft und liegt nachts wach. Im Dorf wird er von Nachbarn, Freunden und Bekannten der Familie nicht mehr gegrüßt.
Plötzlich Anerkennung als Mutter
Die Eltern wehren sich erneut schriftlich gegen die Entscheidung. Beim Gericht, bei den Ärzten, bei der Vormundschaftsbehörde. Verantwortlich für den Medikamentenmissbrauch sind die Ärzte, die uns falsch instruiert haben, schreiben sie. Mindestens sechs weitere Personen haben Sara krampfen sehen. Vater Bruno. Schwester Salome. Judiths Mutter. Zwei Nachbarinnen. Eine Pflegefachfrau im Epilepsiezentrum. Briefe von Judith: Als kleines Kind wurde ich geschlagen. Eine Psychologin hilft mir, dieses Trauma zu verarbeiten. Wenn Sie uns Sara noch mal wegnehmen, bringe ich mich um. Ich kann ohne sie nicht leben. Ich leide nicht am Münchhausen-Stellvertretersyndrom.
Sara entwickelt sich gut. Auch zu Hause tritt kein Krampfanfall auf. Urinkontrollen auf Valium sind negativ. Meist erscheint jetzt Vater Bruno in der Praxis, als Mutter Judith einmal mitkommt, verlangt sie erneut einen Rollstuhl für ihre Tochter. Weber denkt: Sie hat ein neues Leiden gefunden.
Judiths Psychologin bestreitet, dass ihre Patientin am Münchhausen-Stellvertretersyndrom leidet. Sie habe, ausgelöst durch die Gewaltproblematik in der frühen Kindheit und die Fehlgeburt, mit Depressionen und Schlafstörungen zu kämpfen, doch sie misshandle ihr Kind nicht, schreibt sie dem Gericht. Die plötzliche Trennung von Sara habe vielmehr das Trauma aus der Kindheit hochkommen lassen. Sie sei eine gute Mutter.
Drei Monate nach der Entlassung aus dem Epilepsiezentrum, Sara ist mittlerweile zweieinhalb Jahre alt, tagt das Gericht erneut. Es weist auch die zweite Beschwerde der Eltern gegen die Vormundschaftsbehörde ab und verfügt die sofortige Fremdplatzierung von Sara. Die Eltern verlieren das Sorgerecht für ihr Kind für mindestens 18 Monate. Nur wenn sie konstruktiv mit der Pflegefamilie zusammenarbeiten, nur wenn Judith sich in eine Psychotherapie begibt, besteht eine Chance für eine Rückplatzierung. Die Besuchszeiten bei der Pflegefamilie sind streng geregelt. Zwei Stunden pro Woche, dann vier, dann sechs. Nach einem halben Jahr darf Sara übers Wochenende nach Hause. Wenn alles gut läuft.
In der Pflegefamilie spielt Sara, sie isst und trinkt und schläft und spricht und lacht und weint, wie ihre beiden Pflegegeschwister auch. Einen Krampfanfall erleidet sie nie. Derweil kämpfen Judith und Bruno weiter um ihr Kind. Judith leugnet ihre Taten vehement. Ein psychiatrisches Gutachten ergibt eine schwere Persönlichkeitsstörung. In eine Therapie willigt sie dennoch nicht ein.
Mütter, die am Münchhausen-Stellvertretersyndrom leiden, sind fast immer psychisch krank. Sie verletzen sich selbst oder nehmen übermäßig Medikamente, Drogen oder Alkohol ein, leiden an Depressionen oder Angstzuständen. Fühlen sich isoliert und einsam. Einige entwickeln ein Borderline-Syndrom. Viele von ihnen waren in ihrer Kindheit oder Jugend selbst Opfer von Misshandlungen. Mit einem kranken Kind finden sie plötzlich Anerkennung, gelten als perfekte Mütter, die ihrem Kind nicht von der Seite weichen. Auch Judith wurde für ihre Stärke und Belastbarkeit bewundert. Ihrem Kind schaden oder es gar töten wollte sie nicht. Doch sie musste es krank machen, um es gesund zu pflegen, als Rettungsengel.
Heute ist Sara sieben Jahre alt. Seit drei Jahren lebt sie wieder bei ihren Eltern, deren Beschwerde gegen den Sorgerechtsentzug nach 18-monatiger Fremdplatzierung teilweise gutgeheißen worden ist. Das Mädchen besucht die erste Klasse, mag Radfahren und ihre große Schwester Salome. Sara ist ein ganz normales Kind.
Wenn da nicht ihr auffälliges Verhalten wäre. Wir müssen sie psychologisch abklären lassen, sagt die Mutter.
* Alle Namen von der Redaktion geändert.
Erschienen im Magazin des Tages-Anzeigers, 03/2011