…und irgendwann war da wieder Hoffnung

Wenn die Diagnose »Krebs« lautet, hört die Welt für einen Moment auf, sich zu drehen. Die Erinnerungen eines Mannes, der den Kampf trotzdem nicht aufgegeben hat.

Jon Gluck mit seiner Frau Didi und Tochter Abby.
Jon Gluck, 42
Knochenkrebs, Diagnose im Jahr 2003

Es war einer dieser lausigen New Yorker Abende im Spätherbst, kalt, dunkel, Regen- und Graupelschauer. Auf dem Heimweg von der Arbeit rutschte ich auf einer zugefrorenen Pfütze aus. Ich verdrehte mir die linke Hüfte, fing mich aber wieder und ging weiter. Am nächsten Morgen tat meine Hüfte weh. Ich hatte im Lauf meines Lebens einige Sportverletzungen erlitten, und genauso fühlte es sich jetzt wieder an – wie nach einem Bänderriss. Wird schon vergehen, dachte ich. Einige Wochen verstrichen, und es tat immer noch weh. Im Januar ging ich zum Orthopäden. Er machte Röntgenaufnahmen, konnte aber nichts finden. Meine Hüfte schmerzte weiter, aber ich war zu eingespannt, um noch einen Arzt aufzusuchen. Einige Monate zuvor hatten meine Frau Didi und ich unsere erste Wohnung gekauft, wir waren noch immer dabei, uns einzurichten. Im April kam unsere Tochter Abby zur Welt. Ich war 37 Jahre alt und gesund. Eine schmerzende Hüfte schien da nicht so wichtig zu sein. Im November tat meine Hüfte allerdings immer noch weh. Ich konnte nicht mehr schnell gehen und es fiel mir zusehends schwer, Abby hochzuheben. »Es ist jetzt ein Jahr her, seit mir das passiert ist«, sagte ich mir. »Von allein wird das nicht besser.« Ich ging wieder zum Orthopäden, Dr. Weiner. Er ordnete eine Kernspintomografie an.

Ich dachte mir, schlimmstenfalls komme eine kleine Operation auf mich zu. Nach zwei Tagen erhielt ich einen Anruf: »Dr. Weiner möchte Sie sehen. Der Befund Ihrer Kernspin liegt vor.« So naiv war ich damals: »Toll«, dachte ich, »der Typ ruft mich mit meinem Befund an, noch bevor ich dazukomme, mich bei ihm zu melden.«
Am 4. November, fünf Tage nach der Kernspintomografie, war ich wieder in Dr. Weiners Praxis. Sofort wurde ich in ein Behandlungszimmer geführt.

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Ich bin Kind einer Generation, die mit dem Fernsehen aufwuchs: Alle dramatischen Augenblicke im Leben eines Menschen – Hochzeiten, Geburten, Todesfälle – haben sich vor unseren Augen bereits abgespielt, lange bevor wir sie selbst erleben. Was nun folgte, kam mir deshalb unangenehm vertraut vor.

Dr. Weiner trat ein und schloss die Tür. Er bat mich, Platz zu nehmen. Dann setzte
er sich mir gegenüber und musterte mich. »Mir liegt der Befund Ihrer Kernspintomografie vor«, sagte er. »Sie haben eine Läsion an Ihrer Hüfte.«
»Eine Läsion?«, fragte ich. »Also einen Tumor?« »Ja«, antwortete er.

»NEIN!«

Das Erste, was ich zu Dr. Weiner sagte, war: »Nein! Nein, nein, nein, nein. Das ist unmöglich. Ich bin 37. Ich fühle mich prima.« Und: »Ich habe eine sieben Monate alte Tochter. Das kann nicht stimmen.«

Weiner erklärte, der Tumor messe neun mal sieben mal vier Zentimeter. »Schön«, dachte ich. »Zentimeter – also klein.« Im nächsten Moment nannte Dr. Weiner meinen Tumor »groß«.
Aufgrund der festgestellten Symptome vermutete er einen sogenannten Chondrosarkom bei mir – Knochenkrebs. Er betonte aber, der Tumor könne auch ein sekundärer Tumor sein, der mit einem primären, noch unentdeckten Krebs zusammenhänge. Ich warf mit wilden Theorien und Begriffen um mich, deren genaue Bedeutung ich selbst nicht kannte. Konnte es sich nicht um eine Kalkablagerung oder einen Knochensporn handeln?

Dr. Weiner hielt das für eher unwahrscheinlich. Der Tumor sitze an einer heiklen Stelle, meinte er: in der Pfanne des Nussgelenks, das die Hüfte bildet. Wahrscheinlich werde eine Chemotherapie auf mich zukommen sowie eine Operation, bei der ein großes Stück meines Beckenknochens entfernt werden sollte. Im besten Fall, sagte Dr. Weiner, könne er anschließend meine Hüfte mit
einem Kadaverknochen koppeln und eine Art künstliches Gelenk konstruieren. Die Alternative, die er mir netterweise damals verschwieg, bestand darin, mein linkes Bein zu amputieren. Dr. Weiner sprach nur davon, dass ich vielleicht »eine umfangreiche Behinderung« in Kauf nehmen müsse.

(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Wie sagt man es seiner Frau?)

EVOLUTION UND SELBSTMITLEID
Gegenüber von Dr. Weiners Praxis tollten ein paar Grundschulkinder auf einem Spielplatz herum. Ich weiß noch, wie ich ihnen zusah und dachte: »Meine Tochter wird ihren Vater nie richtig kennenlernen.« Welchen evolutionären Zweck Ausbrüche von Selbstmitleid in solchen Momenten erfüllen? Keine Ahnung.

Als Erstes rief ich meinen Chef an. Ich machte mir plötzlich Sorgen, zu spät zur Arbeit zu kommen. Übertriebenes Pflichtbewusstsein? Eher nicht. Wie mir später klar wurde, zögerte ich damit nur die unangenehme Aufgabe hinaus, mit den Leuten zu sprechen, die mir am nächsten standen.

Nach meinem Chef kontaktierte ich Barbara Gol. Sie ist Psychologin und Psychotherapeutin, seit fünf Jahren war ich bei ihr in Behandlung. Sie kannte mich gut und besaß die nötige Ausbildung und Erfahrung, um mit so einer Situation umzugehen. Ich vertraute ihr. Sie sagte am Telefon, ich könne sofort vorbeikommen.

REDEN MIT DIDI
Didi und ich trafen uns 1994 in San Francisco. Sie ist ebenfalls Journalistin, wir arbeiteten kurze Zeit bei der gleichen Zeitschrift. Didis Mutter wuchs in Buenos Aires auf, ihr Vater in Berlin. Vom ersten Tag an war Didi für mich eine äußerst attraktive Mischung aus europäischen und südamerikanischen Eigenheiten – klug, gebildet, elegant und leidenschaftlich. Sie wurde meine Frau. Wenn Didi froh ist, ist sie froh. Wenn sie traurig ist, ist sie traurig. Wenn sie wütend ist, ist sie wütend. Ihre Gefühlsaufwallungen zählen sicher zu ihren liebenswertesten Eigenschaften. Aber nun fürchtete ich, sie könnte durchdrehen.

Dr. Gol beruhigte mich und fragte, ob ich es Didi gleich hier in ihrem Büro sagen wolle. Ich hielt das für eine gute Idee. Als Didi eine knappe halbe Stunde später eintraf, trug sie den Gesichtsausdruck eines Menschen, der ahnt, dass sich sein Leben ändern wird. Soweit ich mich erinnern kann, sagte ich: »Ich habe schlechte Neuigkeiten. Heute Morgen kam der Befund meiner Kernspintomografie: Ich habe einen Tumor an der Hüfte. Sie können noch nicht sicher sagen, was es ist. Ich habe gefragt, ob es auch sein könnte, dass es nichts ist. Aber sie sind ziemlich sicher, dass es nicht nichts ist.« Didi drehte nicht durch. Sie nahm nur meine Hand in die ihre und hielt sie ganz fest.

(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Aberglaube, die Macht des Lebens und: ist der 11.9.2001 schuld?)

DIE MACHT DES LEBENS
An diesem Abend badete ich Abby, las ihr eine Geschichte vor und brachte sie ins Bett. Ich stand eine Weile an ihrem Kinderbett. Ich erinnere mich, dass ich dachte: »Ja, im Universum gibt es eine Todesmacht, und diese Macht ist mir näher als je zuvor. Aber es gibt auch eine Macht des Lebens.«

ABERGLAUBE
Familiär bin ich nicht durch Krebs vorbelastet, abgesehen von einem Großvater, der mit Mitte neunzig Prostatakrebs bekam. Ich habe nie ernsthaft geraucht, treibe Sport und trinke Alkohol nur in Maßen. Was also hat mich krank gemacht?

Mein Haupttheorie lautete: der 11. September. Ich hatte am 11. September und die Jahre danach in Manhattan gearbeitet. Jeder weiß: Die Luft dort war alles andere als gesund. Die Experten hatten jedoch starke Zweifel, dass nach so kurzer Zeit bereits die ersten Krebsfälle auftreten würden. Was also dann?

Mein Handy hatte ich immer vorn links in der Hosentasche, an meiner Hüfte. Meine Familie zog mich gern damit auf, ich würde mich ausschließlich von Erdnussflips, Chips und Gatorade ernähren. Vielleicht hätte ich netter zu meinen Mitmenschen sein sollen.

Ich bin nicht religiös, aber ich ertappte mich dabei, dass ich betete. Aus irgendeinem Grund war es mir wichtig, allein und heimlich zu beten. Ich gewöhnte mir an, dabei die Brille abzunehmen und zum Schluss dreimal meine unteren Daumenknöchel zu küssen. Zunächst bat ich Gott, mir das Leben zu retten. Später machte ich ihm zeitlich befristete Vorschläge: Lass mich Abbys Schulabschluss erleben. Wie sieht’s mit ihrem Studium aus? Ihrer Hochzeit? Ich klammerte mich an seltsame, Totemartige Gegenstände. Didis Mutter ist Pianistin. Sie hatte von einer Konzertreise nach Peking einen kleinen Buddha mitgebracht. Ich strich ihm aus Aberglauben über den Scheitel. Didi kaufte mir in einem Souvenirladen im Krankenhaus einen Stofftiger. Ich hatte ihn jeden Tag in meiner Aktentasche dabei. Nicht, dass ich daran geglaubt hätte – aber ich habe ihn immer noch.

VERZEIHUNG, FALSCHER KREBS
Wenn man noch nie Krebs hatte, stellt man sich die Sache so vor: Man macht einen Test, der positiv oder negativ ausfällt, und erhält eine Diagnose – wie bei jeder anderen Krankheit. Aber Krebs ist nicht wie Tuberkulose oder eine Rachenentzündung. Es gibt Hunderte Arten, viele davon lassen sich schwer bestimmen. Man muss oft eine Reihe von Tests über sich ergehen lassen, die allesamt nicht zu einem eindeutigen Befund führen. Die Ärzte tragen die Einzelteile zusammen und basteln daraus ein schlüssiges Bild.

Meine Diagnose nahm drei Ärzte in Anspruch, mal abgesehen von den Radiologen, den Tomografie- und Labortechnikern und den Medizinern, die um einen Zweitbefund gebeten wurden. Dazu Dutzende Tests und Nachuntersuchungen. Die Erstellung der Diagnose zog sich über zweieinhalb Monate hin und veränderte sich in dieser Zeit radikal. Dr. Weiner verwies mich an einen Spezialisten, Patrick Boland, einen orthopädischen Onkologen. Boland fand es ermutigend, dass die Tests bei mir bisher keine Anzeichen für eine Ausbreitung ergeben hatten. Er fügte jedoch hinzu, dass nur eine »computertomografisch unterstützte Knochenbiopsie« Gewissheit bringen könne.

Vor einer Knochenbiopsie betäubt eine Krankenschwester den entsprechenden Körperteil. Dann führt der Arzt eine Nadel durch die Haut ein, bis sie auf Knochen trifft. Das Einführen der Nadel verursacht kaum Schmerzen, die Entfernung des Knochengewebes jedoch schon. Als ich Boland wegen des Befunds aufsuchte, begegnete er mir im Gang, den Laborbericht unterm Arm. Er hatte ihn selbst noch nicht gelesen und fing sofort an zu blättern. Der maßgebliche Satz darin lautete: »Es ist mit einem Neoplasma der Plasmazellen zu rechnen.«

Ich erkundigte mich, was das bedeute, und Boland erklärte, es handle sich um eine Form von Knochenmarkkrebs, nicht um einen Knochenkrebs. Er könnte nur auf diese eine Stelle begrenzt sein, was man dann als solitäres Plasmozytom bezeichnen würde, er könnte aber auch das erste Symptom eines sogenannten multiplen Myeloms sein. Multiple Myelome seien unheilbar, während ein solitäres Plasmozytom manchmal erfolgreich behandelt werden könne. Der Haken: Ein solitäres Plasmozytom wachse sich häufig zu einem multiplen Myelom aus.

(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Die ersten Tränen und Andy, der größte Optimist der Welt)

MEIN ÄLTESTER FREUND
Ich bin das jüngste von vier Kindern. Meine Schwester Jen hat ein immer offenes Ohr und ein mitfühlendes Herz. Tina leidet ebenfalls mit, wenn es einem schlecht geht. Mein Bruder Andy hätte Chancen auf den Titel »Weltgrößter Optimist«. Unsere Mutter hänseln wir gern wegen ihrer übertriebenen Fürsorge für ihre Kinder und unseren Vater, weil er eine fast übernatürliche Ruhe ausstrahlt. All diese Eigenschaften erweisen sich als sehr hilfreich, wenn man wie ich Verwandte anrufen muss, um ihnen zu eröffnen, dass man Krebs hat. Es gab natürlich auch Leute, die mir von Freunden erzählten, die ein solitäres Plasmozytom oder multiples Myelom hatten und daran gestorben waren.

Ein Freund aus meiner Heimatstadt schrieb mir einen Brief. Er schloss mit dem Satz: »Du bist mein ältester Freund.« Ich weiß nicht, warum, aber als ich diese Zeile las, brach ich das erste Mal, seit ich von meinem Krebs erfahren hatte, in Tränen aus.

EINE DIAGNOSE, DIE BIS INS MARK GEHT
Da meine Diagnose nun also Knochenmarkkrebs lautete, brauchte ich wieder einen neuen Arzt. Ich suchte Steven Gruenstein auf, einen Hämatologen und Onkologen am Mount-Sinai-Krankenhaus. Dr. Gruenstein ist ein liebenswerter Mann, groß wie ein Bär. Er hat selbst einen Nierenkrebs überlebt. Seine erste Aufgabe bestand darin, zu bestätigen, dass ich ein solitäres Plasmozytom hatte und kein multiples Myelom. Er nahm eine Knochenmarkbiopsie in seinem Behandlungszimmer vor und verpasste mir einen Krückstock. Der Tumor drohte die äußere Knochenwand zu beschädigen und Gruenstein fürchtete, ich könnte mir einen Bruch zuziehen.

Zwei Tage später rief er mich wegen meiner Befunde an. Das Ergebnis war nicht eindeutig – die Probe enthielt nicht genug Zellen, um zu einer gültigen Aussage zu gelangen. Ich müsse das Verfahren wiederholen lassen. Einstweilen ordnete Gruenstein eine PET-Ultraschallaufnahme an. Diese Aufnahme zählt unbestritten zu den wichtigsten Tests für multiple Myelome, und die frühe Erkennung der Krankheit würde mir höchstwahrscheinlich zusätzliche Lebenszeit bescheren. Trotzdem lehnte meine Versicherung die Übernahme der Kosten ab. Meine bisherigen Tests hatten ja keinen Beweis für ein multiples Myelom ergeben – also hatte ich auch keines. Dr. Gruenstein setzte einen Brief auf, und der Test wurde genehmigt. Nur einer von vielen Fällen, in denen ich mich mit Versicherungen herumplagen musste.

Ich ließ die Ultraschallaufnahme eines Abends nach der Arbeit vornehmen. Dabei wird ein radioaktives Isotop gespritzt, das als eine Art Spürhund für krebsartige Aktivitäten fungiert. Beim Hinausgehen fragte ich einen der Techniker, ob ich denn jetzt strahlen würde. Das war als Witz gemeint, aber er erwiderte: »Na ja, schon.«
Das Isotop habe eine Halbwertszeit von ungefähr sechs Stunden, erklärte er. Deshalb sollte ich an diesem Abend besser nicht neben meiner Frau schlafen. Vor allem, wenn sie schwanger sei. »Das nicht«, antwortete ich, »aber wir haben eine sieben Monate alte Tochter.« – »Oh«, sagte er, »von ihr sollten Sie sich auf jeden Fall fernhalten.«

(Lesen Sie auf der nächsten Seite: www.angst.com - warum man nicht im Internet nachforschen sollte)

LEBEN IN UNGEWISSHEIT
Einen Monat nach meinem Krebsbefund besuchte ich wieder Dr. Gruenstein in seiner Praxis. Er sagte, aufgrund der bisher vorgenommenen Tests glaube er, dass ich nur ein solitäres Plasmozytom habe und kein multiples Myelom und dass sich der Tumor mit der richtigen Behandlung zurückbilden könne.

Zurückbilden? Wie lange würde das vorhalten? Einen Tag? Einen Monat? Ein Jahr? Für immer? Das konnte mir Dr. Gruenstein nicht sagen. Ich fragte ihn, wie die Chancen stünden, dass sich daraus irgendwann ein multiples Myelom entwickeln könnte. Wieder gab es keine definitive Antwort. Die gute Nachricht lautete, dass ich weder eine Operation noch Chemotherapie benötigte. Bestrahlung sei die angemessene Behandlung. Wie hoch standen die Erfolgschancen? Wieder musste Dr. Gruenstein passen. Krebs bedeutet ein Leben in Ungewissheit.

ANGST.COM
Mehrfach war ich davor gewarnt worden, im Internet zu forschen. Aber jetzt, da ich eine genaue Diagnose hatte, siegte meine Neugier doch. Ich erfuhr, dass die Behandlung solitärer Plasmozytome sehr erfolgversprechend ist, wenn sie in Gewebe auftreten. In Knochen dagegen stehen die Aussichten vergleichsweise schlechter. Außerdem sei es wahrscheinlicher, dass sich die Plasmozytome dort zu multiplen Myelomen entwickeln. Im Übrigen lernte ich, dass Menschen mit multiplen Myelomen eine Chance von etwa zwanzig Prozent besitzen, länger als fünf Jahre zu überleben. Ich schaltete den Rechner aus.

LIEBT SIE MICH ÜBERHAUPT?
Ich erwähnte bereits, wie froh ich war, dass Didi nach außen hin nicht ihren Gefühlen nachgab. Ihre Stärke gab mir viel Kraft. Aber gleichzeitig fragte ich mich: Wenn sie immer die Fassung behält und nie verzweifelt, liegt ihr dann überhaupt etwas an mir? Nach einer Weile nahm ich ihr es fast übel, dass sie keinen Nervenzusammenbruch erlitten hatte. Wir redeten darüber, und sie erklärte mir, dass sie sich sehr wohl sorgte. Aber sie konnte und wollte es sich jetzt nicht leisten, ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen. Das sah ich zwar ein, aber mir war gar nicht nach einer vernünftigen Begründung. Ich wollte den Zusammenbruch.

(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Die Lust und der Tod)

DIE LUST UND DER TOD
Didi und ich haben lange darüber nachgedacht, aber wir können uns beim besten Willen nicht erinnern, was wir in diesem Jahr über die Weihnachtstage gemacht haben. Wir wissen nur noch, dass wir uns im Dezember und im Januar hauptsächlich auf meine Behandlungen vorbereiteten. Eines Abends zum Beispiel hatten Didi und ich eine Unterhaltung, von der Eheleute in der Regel nie glauben würden, sie je führen zu müssen. Im Wesentlichen ging es darum, ob sie, wenn ich sterbe, nur Abby oder Abby und noch ein weiteres Kind haben wollte.

Auch wenn ich überlebte, würde mich die Bestrahlung meiner Hüfte möglicherweise unfruchtbar machen. Wir beschlossen deshalb, ein paar hundert Dollar zu
investieren und meine Spermien einfrieren zu lassen. An einem klaren, sonnigen Wintertag ging ich in der Mittagspause von meinem Büro zu einer Fruchtbarkeitsklinik. Ich rief meine Schwester Jen auf dem Handy an und sagte: »So weit sind wir also gekommen: Ich bin 37 Jahre alt. Ich habe Krebs. Ich muss mich Bestrahlungen unterziehen, die mich vielleicht heilen oder auch nicht. Und jetzt gleich gehe ich in die Fruchtbarkeitsklinik und hole mir einen runter.«

Was den Vorgang selbst angeht, blieb in meinem Gedächtnis im Grunde nichts haften. Ich erinnere mich aber, dass ich die Kleine am Empfang ganz niedlich fand. Wie es scheint, loten Männer selbst im Angesicht des eigenen Todes aus, was das Leben für sie noch bereithalten könnte.

KÄMPFEN IN DER U-BAHN
Inzwischen hinkte ich ziemlich schlimm und ging die ganze Zeit am Stock. Irgendwie dachte ich, dass man mir in der U-Bahn automatisch einen Sitz anbieten werde, aber kaum jemand tat mir den Gefallen. Die Stadt zwang mich dazu, mir meinen Platz zu erkämpfen, so wie vor meiner Krankheit auch. Seltsamerweise gefiel mir das sogar.

(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Ein Besuch in der Schattenwelt - und eine erlösende Nachricht)

GANZ UNTEN
Drei Monate und fünf Tage nach der Krebsdiagnose begann meine Bestrahlung. Ein paar Wochen zuvor hatte ich mich mit Jack Dalton getroffen, einem Bestrahlungsonkologen am Mount-Sinai-Krankenhaus. Er hatte für mich einen Stundenplan erstellt: Ich würde fünf Tage pro Woche bestrahlt werden, fünf Wochen lang – 25 Sitzungen insgesamt. Er sagte, ich würde zwar Müdigkeit verspüren, aber keine Übelkeit, und sollte deshalb in der Lage sein, jeden Tag zur Arbeit zu gehen.
Die Strahlentherapie selbst ist nicht der Rede wert. Man legt sich auf den Tisch, der ist Teil eines Gerätes, das an einen riesigen Röntgenapparat erinnert. Ein Techniker richtet einen mithilfe eines Systems von vorab festgelegten Markierungen und Lasern aus. Dann schwenkt er ein großes Gerät – ähnlich einer Satellitenschüssel – über den Körper, und man wird 30 Sekunden lang bestrahlt.

Man spürt dabei nichts. Bisweilen fragte ich mich, ob ich nicht unwissentlich an einem Placebo-Experiment teilnahm. Das Bestrahlungszentrum am Mount-Sinai-Krankenhaus liegt im Keller, also buchstäblich unter der Erde. Dort sah ich einige der kränksten Leute, die ich jemals zu Gesicht bekommen hatte – eine Schattenwelt, bevölkert mit kranken Menschen, wie wir sie für gewöhnlich aus unserem Leben verdrängen. Vielleicht wäre es auch zu viel verlangt, jeden Tag mit den schlimmen Seiten des Lebens konfrontiert zu werden. Vielleicht sind wir aber auch einfach nur gefühllos und zu feige, um diesen Anblick zu ertragen.

DAS FLÄSCHCHEN
Am 8. April fand ich mich bei Dr. Gruenstein ein. Er wollte einen weiteren Proteintest vornehmen, warnte mich aber gleich, es sei noch zu früh, als dass meine Werte auf ein Normalmaß reduziert sein könnten. Er wolle nur sicherstellen, dass sie inzwischen nicht nach oben geschnellt waren – eine Möglichkeit, die ich bis dahin nicht erwogen hatte. Ich ließ am gleichen Tag Blut abnehmen. Als der Labortechniker das Fläschchen wegtrug, sagte ich: »Machen Sie das Beste daraus!«

PLAPPERN WIE EIN VOLLTROTTEL
Am Samstag, den 17. April 1965 kam ich auf die Welt. Am Freitag, den 16. April 2004 sagte mir Dr. Gruenstein am Telefon, mein Proteinspiegel habe sich normalisiert. Mit dem Krebs ist es folgendermaßen: Sie wissen, es gibt kein Heilmittel, und Sie wissen, dass Sie nicht als geheilt gelten, solange Sie nicht fünf Jahre lang krebsfrei gewesen sind. Aber wenn Sie Ihr Arzt anruft und sagt, die Strahlentherapie habe angeschlagen und es gebe »derzeit keinen Hinweis auf die Krankheit« und dass dies »das denkbar beste Ergebnis« der Bestrahlung sei – tja, dann plappern Sie los wie ein Volltrottel: Sie danken ihm und sagen, dass Sie ihm Ihr Leben schulden, aber jetzt wirklich auflegen und Ihre Frau anrufen müssen, und dass Sie ihn morgen wieder anrufen, um die weiteren Schritte zu besprechen.

Und dann legen Sie auf und stoßen mitten im Büro einen kurzen Freudenjauchzer aus, und dann rufen Sie Ihre Frau an und erzählen ihr die Neuigkeiten, worauf sie mit einem »Ich hab’s doch gewusst!« reagiert, und Sie sagen ihr, dass Sie ihre Zuversicht immer gespürt haben, und Sie danken ihr dafür, sich klugerweise bis jetzt damit zurückgehalten zu haben, und Sie spüren förmlich den großen Stoßseufzer der Erleichterung am anderen Ende der Leitung, einen riesigen, dicken, kosmischen Stoßseufzer, und sie weist Sie als Erste darauf hin, dass Sie diese Nachricht am Tag vor Ihrem Geburtstag bekommen haben, und sagt: »Jetzt müssen wir heute Abend doppelt feiern, weil wir doch sowieso auf deinen Geburtstag anstoßen wollten.« Und dann legen Sie auf und erzählen allen in Ihrem Büro, Ihrem Chef und seiner Sekretärin und wer sonst noch Ihren Weg kreuzt, dass Sie – jedenfalls bis auf Weiteres – am Leben bleiben und nicht sterben werden. Und dann verlassen Sie umgehend das Büro und treffen sich mit Ihrer Frau zum Abendessen.

Noble Restaurants besuchen Didi und ich nur zu besonderen Anlässen. Selbst dann fällt es uns schwer, diese Ausflüge zu genießen. Man sollte glauben, dass der Abend damals eine Ausnahme gewesen wäre, aber er war es nicht. Unsere anfängliche Euphorie wurde von einer Unmenge komplizierter Gefühle abgelöst. Die frohe Kunde brachte irgendwie auch die ganze Trauer und all die Strapazen wieder zum Vorschein, die wir durchgemacht hatten. Wir waren kraftlos und matt und hatten vergessen, wie man einfach nur glücklich ist.

(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Folgeschäden und die Angst-vor-dem-Tod-Diät)

FOLGESCHÄDEN
Krebs ist eine Atombombe, keine herkömmliche Waffe, also ist mit Folgeschäden zu rechnen. Zunächst die drohende Wiederkehr. Drei Monate nachdem ich als krebsfrei bezeichnet worden war, begannen unzählige Nachuntersuchungen. Sie ziehen sich bis heute hin. Eine Zeit lang musste ich alle drei Monate zu den Tests, inzwischen sind es nur noch alle sechs Monate. Sie zehren jedes Mal aufs Neue an den Nerven.
Durch die Bestrahlung laufe ich ein erhöhtes Risiko, sekundären Krebs wie Prostata- oder Darmkrebs zu bekommen. Die Gefahr, dass ich mir ein Bein breche, ist ebenfalls höher. Und ich wurde tatsächlich unfruchtbar, zumindest vorübergehend. Aufgrund des Schadens an meinem Beckenknochen und dem umliegenden Gewebe dauerte es ein Jahr, bis mir Dr. Weiner erstmals leichtes Fitnesstraining genehmigte. Ein weiteres Jahr verstrich, bis ich zur Physiotherapie durfte.

Heute hinke ich nicht mehr und benötige keinen Stock, aber meine Hüfte schmerzt wie bei einem Arthritispatienten. Ich darf schwimmen und auf dem Trimmrad strampeln, aber weder joggen noch Basketball spielen und auch nicht mit einem richtigen Fahrrad fahren – Stürze vom Rad sind nämlich strengstens verboten. Weil ich über drei Jahre einen Haltungsschaden hatte, bildete sich Arthritis in meiner gesunden Hüfte. In der Zeit, als ich keinen Sport treiben durfte, nahm ich zehn Kilo zu. Letzten Herbst hieß es bei meiner jährlichen Gesundheitsuntersuchung, mein Cholesterinspiegel sei so hoch, dass ich Medikamente schlucken müsse. Ich bat um eine Galgenfrist, innerhalb der ich mit strenger Diät und Fitnesstraining die überschüssigen Pfunden loswerden wollte – sie wurde mir gewährt. Meinen derzeitigen Cholesterinwert weiß ich nicht, aber bis jetzt habe ich acht Kilo abgenommen. Fehlen noch vier Kilo zu meinem Gewicht aus der Zeit vor dem Krebs. Ich nenne es die Angst-vor-dem-Tod-Diät.

DER ZUSAMMENBRUCH
Zwei Tage nachdem ich für krebsfrei erklärt worden war, wollte Didi eine Einkaufstüte hochheben, als ihr ein stechender Schmerz in den Rücken schoss. Um zwei Uhr nachts weckte sie mich auf. Sie weinte und konnte sich nicht bewegen. Der Rettungsdienst brachte sie ins Krankenhaus, wo man ihr Schmerzmittel verabreichte. Sie hatte vorher noch niemals Probleme mit dem Rücken gehabt. War da eine Frau, die lange eine Last stemmen musste, nun darunter zusammengebrochen, weil sie es endlich durfte? So könnte man den Vorfall wohl deuten.

NIE WIEDER KOPFSCHMERZEN

Eine gängige These lautet, dass man nie wieder unter Kopfschmerzen leidet, wenn man einmal Krebs hatte. Das stimmt. Dafür übertrug sich meine ganze Paranoia auf Abby, als sie vergangenen Sommer rätselhafte Schmerzen im linken Bein entwickelte. Sobald sie es belastete, fiel sie einfach hin. Didi und ich hatten vorher nie miterlebt, dass sie gestürzt war oder sich irgendwie verletzt hatte, also brachten wir sie zur Ärztin. Sie riet uns zu einer Röntgenaufnahme. Als wir im Röntgenzimmer standen, bekam ich plötzlich die Krise: mysteriöses Beinleiden? Kommt mir bekannt vor. Linkes Bein? So fing es bei mir auch an? Röntgenaufnahmen? Hatte ich zwar nicht, aber Kernspin war ja quasi das Gleiche!

Die Aufnahmen von Abbys Bein zeigten allerdings keinerlei Befund, und das Hinken verschwand so plötzlich, wie es aufgetreten war. Die Ärztin meinte, es sei wahrscheinlich eine Verstauchung oder ein Virus gewesen, der ihre Gelenke befallen hätte. Später entwickelten Didi und ich eine andere Theorie: Abby war mit einem Vater aufgewachsen, der die meiste Zeit ihres Lebens gehinkt hatte. Und was man täglich sieht ...

(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Schuldgefühle eines Übelebenden)

SCHULDGEFÜHLE EINES ÜBERLEBENDEN
Mir ist bewusst, dass ich bisher eher glimpflich davongekommen bin. Ich litt nur fünf Monate und zwölf Tage lang an Krebs. Ich musste keine schlimmen Behandlungen über mich ergehen lassen, und meine Prognose ist einigermaßen optimistisch (obwohl es mir schwerfällt, das niederzuschreiben). Ich lebe in einer Stadt mit erstklassiger medizinischer Versorgung und besitze eine halbwegs ordentliche Krankenversicherung.

Ich möchte mein großes Glück gern auch als solches empfinden, aber manchmal fällt mir das sehr schwer. Eine Kollegin, die sich während meiner Erkrankung immer besonders fürsorglich um mich kümmerte, starb vor zwei Jahren mit 56. Meine Cousine Julie wurde mit einem Herzfehler geboren und starb mit neun Jahren. Ich weiß noch genau, wie meine Eltern zu ihrer Beerdigung gingen, während wir Kinder mit einem Babysitter zurückblieben. In unserer jetzigen Wohnung hängt ein Foto von Didis Vater, wie er stolz grinsend neben einem prächtigen Marlin steht. Er war Angler, so wie ich. Warum bin ich immer noch hier? Warum sind sie es nicht mehr?

EIN UNGEBETENER GAST
Krebs ist wie ein ungebetener Gast. Man möchte nicht allzu freundlich mit ihm umgehen, sonst kreuzt er wieder auf. Jedenfalls befürchtet man das. Trotzdem hat der Krebs mein Leben auch verbessert.

Mir fällt es jetzt leichter, das Leben zu genießen. Kleine Dinge – Probleme in der Arbeit, der Berufsverkehr, verspätete Züge – bringen mich weniger aus der Ruhe. Ich verbringe mehr Zeit mit den Menschen, die ich liebe, und weniger mit Menschen, die ich nicht leiden kann. Ich habe weniger Angst vor dem Tod.

Krebs ist ein ausgezeichnetes Mittel gegen Selbstverliebtheit. Man muss sich nur eine Frage stellen: Wenn ich wirklich so wichtig bin, warum lässt mein Schicksal den Rest der Welt im Großen und Ganzen unberührt?

Ja, ich achte mehr auf mich, bin aber nicht zum Mönch geworden. Ich esse viel weniger Lebensmittel mit künstlichen Farbstoffen. Aber ich telefoniere mit dem Handy, lasse beim Zahnarzt Röntgenaufnahmen machen und esse und trinke gelegentlich zu viel.

Didi behauptet, ich würde jetzt anders sprechen – bedächtiger, ernsthafter und mit mehr Gefühl.

(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Didi, ich und das Wort Scheidung)

DIDI UND ICH
Irgendjemand sagte einmal, dass Krebs eine Ehe entweder zerstört oder sie stärker macht. In unserem Fall galt beides. Didi war eine Superfrau. Sie ging zur Arbeit, kümmerte sich um Abby, begleitete mich zu meinen Untersuchungen, wenn ich sie darum bat, und ertrug meine Launen. Dennoch ergaben sich Probleme, und dass sie nie einen Nervenzusammenbruch bekam, war nur eines davon.

Sosehr wir uns einig waren, dass wir »die Sache durchstehen«, »nicht aufgeben« und »positiv denken« wollten, so war es dennoch nicht zu leugnen, dass ich Krebs hatte und sterben konnte. Diese Tatsache machte es uns schwer, uns zu amüsieren. Wir gingen nicht mehr richtig aus. Jede beliebige Unterhaltung war belastet: »Wie war dein Tag, Schatz?« – »Super, ich hatte mal wieder eine Knochenmarkbiopsie. Und du?«

Rückblickend lautet meine Erklärung: Wir hatten Angst davor, uns zu sehr zu lieben. Je stärker wir uns einander verbunden fühlten, desto schwerer würde es für Didi werden, wenn ich sterben sollte. Ich erzählte Dr. Gol, meiner Therapeutin, dass ich merkte, wie ich zu Abby auf Distanz ging. Meine Logik: Vielleicht ist es besser
für sie, wenn sie niemals ein Verhältnis zu ihrem Vater aufgebaut hat, als ihn später
zu vermissen. Dr. Gol entgegnete: »Wollen Sie denn nicht so oft wie möglich in ihrer Nähe sein, egal, was am Ende passiert? Warum genießen Sie es nicht einfach?« Aus mir unerfindlichen Gründen konnte ich diesen Rat bei Abby umsetzen. Bei Didi dagegen nicht, und sie war umgekehrt genauso wenig dazu in der Lage. Wir entfernten uns immer mehr voneinander.

Unser Verhältnis besserte sich auch nicht, als es hieß, ich sei krebsfrei. Im Gegenteil. Inzwischen hatte unsere Unzufriedenheit ein Eigenleben entwickelt. Stillschweigend grübelten wir beide vor uns hin: »Was für eine grauenhafte Beziehung!«

Letzten Sommer platzte es endlich aus Didi heraus. Es war nicht das erste Mal, dass wir uns fetzten, aber dieses Mal ging es richtig zur Sache.

Wir waren in Wyoming – auf Familien- und Angelausflug – und Abby schlief. Es begann mit einer Unterhaltung über Didis Arbeit und irgendwie kippte die Stimmung. Ehe ich mich versah, schrie und weinte Didi. Im Wesentlichen sagte sie Folgendes: »Wir sind mitten in einem riesigen Durcheinander gefangen. Ich liebe dich, aber im Augenblick kann ich dich nicht ausstehen. Ich weiß, dass es dir genauso geht, also mach mir nichts vor. Wie zum Kuckuck soll es jetzt weitergehen?« Wir brüllten uns gegenseitig an und warfen uns Dinge an den Kopf. Auch das schlimme Wort von der »Scheidung« fiel.

In früheren Beziehungen war dies der Punkt, an dem ich den Schwanz einzog. Entweder gab ich meinem Gegenüber die Schuld, oder ich tat so, als sei alles nur halb so schlimm. Didi ließ mir das nicht durchgehen.

Stark vereinfacht ausgedrückt: Sie hatte einfach den Mut, das Problem beim Namen zu nennen, und der Krebs gab mir die Kraft, ihr zuzuhören. Wir klärten einige unserer Probleme selbst, andere in einer Therapie. Allmählich wurde es besser.
Am Tag nach unserem großen Streit unternahmen wir nichts Besonderes, um uns zu versöhnen, aber er entwickelte sich dennoch zu einem Vorboten für das Ende der Eiszeit. Didi ging mit Tim, einem guten Freund von uns, der als Fremdenführer in der Gegend arbeitet, zum Angeln. Ich fuhr mit Abby zu einem Volksfest. Für abends hatten wir einen Babysitter bestellt, und ich wollte mich mit Didi und Tim zum Essen treffen.

Didi hatte zwar kaum Fische gefangen, aber dafür einen traumhaft schönen Tag erlebt. Es war das erste Mal seit Abbys Geburt und dem Ausbruch meiner Krankheit, dass sie sich einen Tag frei genommen hatte. Seit mehr als drei Jahren! Sie war mit Tim auf dem Snake River durch den Grand Teton National Park geschippert, einem der herrlichsten Flüsse auf diesem Planeten. Als Didi von Bord stieg, hatte sie einen Sonnenbrand und strahlte übers ganze Gesicht. Sie sah aus wie neugeboren.
An dem Abend gingen wir drei zu einem Mexikaner, es gab Burritos und Margaritas. Wir aßen viel zu viel und tranken noch viel mehr. Am nächsten Morgen wachten Didi und ich mit einem dicken Kater auf. Deshalb verbrachten wir die meiste Zeit des Tages damit, mit Abby im Bett DVDs zu glotzen. Es war grandios.

MIT ABBY SPRECHEN
Eines Tages werde ich es Abby erzählen müssen. Irgendwann wird sie Didi oder mich aus heiterem Himmel fragen, warum ich nicht mit ihr Schlittschuhlaufen oder Skifahren gehe. Mein erster Impuls besteht darin, ihr die Wahrheit zu sagen. Aber ist es wirklich nötig, eine Vierjährige damit zu beunruhigen, dass ihr Vater sterben könnte? Niemand kann seinem Kind garantieren, dass er so bald nicht sterben wird, aber die meisten Menschen können dies ihrem Kind in gutem Glauben versichern. Krebspatienten können das nicht.

Ich habe mir immer wieder im Kopf zurechtgelegt, was ich sagen würde, bin aber noch zu keiner befriedigenden Lösung gelangt. Wenn ich gesund bleiben kann und es bis ins fünfte Jahr schaffe – Abby wäre dann sechs Jahre alt –, habe ich vielleicht kein Problem mehr damit, ihr zu erzählen, was vorgefallen ist, und ihr zu sagen: »Deinem Papa geht es jetzt gut, und er wird noch ganz, ganz lang nicht sterben.«

»DANKE«
Kürzlich feierte ich das dritte Jahr ohne Krebs. Didi und ich gingen in ein Restaurant, aßen und tranken dazu Wein und fühlten uns gut. Es war eine laue Nacht, und wir gingen zu Fuß nach Hause. Wir hätten jeden denkbaren Weg einschlagen können, aber wie der Zufall es wollte, gingen wir den Broadway entlang. Erst jetzt fällt mir auf, dass wir direkt an der Stelle vorbeikamen, an der ich auf dem Eis ausgerutscht war.

Als wir zu Hause waren, schlief Abby schon. Wir verabschiedeten den Babysitter und machten uns bettfertig. Didi ging ins Schlafzimmer, und ich blieb noch ein wenig auf, um zu lesen. Später sah ich noch mal zu Abby ins Zimmer. Wenn ich sie zu Bett bringe, sage ich immer einen kleinen Spruch zu ihr: »Ich liebe dich am allermeisten, für immer und ewig, egal, was kommt.« Ich flüsterte es ihr ins Ohr und gab ihr noch einen Gutenachtkuss.

Didi schlief bereits. Vermutlich lag es an dem Jahrestag oder an der schönen Nacht, wer weiß. Aber zum ersten Mal nach vielen Monaten, vielleicht sogar einem ganzen Jahr, nahm ich meine Brille ab und kniete nieder. Und als ich fertig war, küsste ich dreimal meine unteren Daumenknöchel. Nur dass ich dieses Mal um nichts bat oder um irgendetwas feilschen wollte. Ich weiß nicht genau, mit wem oder was ich sprach. Jedenfalls sagte ich nur ein Wort: »Danke.«