Befreien

So geht digitale Aufklärung: Ein Konzern stattet indische Bauern mit Computern aus - und die können auf einmal nachschauen, welche Marktpreise sie für ihre Sojabohnen tatsächlich verlangen dürfen.


    Nur ein einziger Computer ist im nordindischen Jaithal innerhalb eines Tagesmarschs erreichbar. Er steht im Wohnzimmer von Dinesh Bairagi. »Ich habe ein Jahr gebraucht, bis ich ihn richtig bedienen konnte«, sagt er. Bairagi ist Sojabauer. Seit er den Computer hat, sitzt er bis zu zwölf Stunden am Tag vor dem Bildschirm.

    Dinesh Bairagis Drei-mal-drei-Meter-Wohnzimmer ist ein »elektronischer Dorfplatz«, auf Hindi: ein »e-Choupal«. Oft drängen sich bei ihm 15 Bauern um den Bildschirm, um zu erfahren, wie sich die Preise an der Börse und am nächsten Marktplatz entwickeln. Erst seit es den Computer gibt, wissen die Bauern im Dorf, wie viel ihr Soja tatsächlich wert ist.»Bevor es das e-Choupal gab, mussten wir uns mit dem zufriedengeben, was der Zwischenhändler uns geboten hat«, sagt Bairagi. Die Zwischenhändler in Indien besaßen ein Monopol: Nur sie wussten, wie viel die weiterverarbeitenden Fabriken zahlten. Und weil auf jedem Marktplatz nur eine Handvoll Zwischenhändler stehen, konnten sie die Preise drücken. Die Bauern dagegen wussten meist nicht mal die Preise auf dem Markt der Nachbarstadt. Schließlich legt ein indischer Bauer durchschnittlich 35 Kilometer zurück, um überhaupt einen Markt zu erreichen.

    Bevor Dinesh Bairagi den Computer bekam, musste er auf der Dorfversammlung schwören, ihn nur zum Wohle der Gemeinschaft zu nutzen. Eine Solaranlage und ein Satellitenempfänger auf dem Dach bringen ihn ins Internet, bezahlt hat die Anlage das Unternehmen ITC Limited: Der Mischkonzern ist einer der größten Soja-Verarbeiter des Landes. Die Konzernchefs waren es leid, die hohen Provisionen der Zwischenhändler zu zahlen. Also begann ITC vor zehn Jahren, im ganzen Land Bauernhäuser aufzurüsten.

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    6500 e-Choupals stehen inzwischen in Indien, die Informationen aus dem Netz erreichen 40 000 Dörfer. Gute Zeiten für fast vier Millionen Bauern: Einer Untersuchung der Weltbank zufolge stiegen deshalb zum Beispiel im indischen Bundesstaat Madhya Pradesh die Gewinne der Bauern um 33 Prozent.

    Dinesh Bairagi und die anderen Betreiber der e-Choupals prüfen im Auftrag von ITC die Qualität der Waren und schlagen einen Preis vor. Zwischen 20 und 50 Prozent der Bauern entscheiden sich dann für das Angebot, die Bauern bringen ihr Soja zu einer ITC-Sammelstelle und bekommen sofort ihr Geld. ITC Limited erhielt für sein Engagement den »World Business Award« der Internationalen Handelskammer, der Preis zeichnet Unternehmen aus, die die Entwicklungsziele der UN unterstützen.

    Aber ITC ist keine Hilfsorganisation: ITC steht für »Imperial Tobacco Company«, 26 000 Mitarbeiter, Börsenwert 19 Milliarden US-Dollar. Der Konzern verkauft Soja und Schulhefte, Hautcreme und Hotels. Vor allem aber verdient er sein Geld mit Zigaretten. Bleibt die Frage: Steht das e-Choupal-Programm wirklich für soziales Engagement? Oder geht es nur um die Image-Arbeit eines Tabakkonzerns? Vielleicht lautet die Antwort auch ganz pragmatisch: Mithilfe des Internets erschließt ITC neue Regionen als Absatzmarkt – Millionen Bauern mit e-Choupal sind Millionen neue Kunden für ITC. So ist allen gedient.

    In Dinesh Bairagis Wohnzimmer stehen in einem Regal Düngemittel und Fungizide bereit, Produkte von ITC. Bevor das Dorf Jaithal einen Internetzugang hatte, mussten die Bauern warten, bis ein Händler auf seinem Fahrrad vorbeikam. Jetzt mailt Dinesh Bairagi dem Konzern, ITC schickt dann, was den Bauern fehlt – Spaten, Samen und Dünger. Inzwischen verkauft Dinesh Bairagi sogar Fahrräder: Der Bauer hatte dem Konzern von den weiten Wegen erzählt, die sie zurücklegen müssen. In manchen Dörfern hat ITC neben das e-Choupal einen Supermarkt gebaut, einige e-Choupals bieten sogar Kleinkredite an. Die Weltbank hat die neue Kreditwürdigkeit in Zahlen gefasst: In Regionen mit e-Choupal wächst 19 Prozent mehr Soja.

    Inzwischen ist der elektronische Dorfplatz zum Vorbild geworden. Der im April verstorbene Coimbatore Krishnarao Prahalad, Professor an der Universität Michigan und einer der führenden Management-Experten, nannte in seinem Buch Der Reichtum der Dritten Welt die e-Choupals als Vorzeigeprojekt: »Die Kombination aus taktischen und sozialen Überlegungen, die ITC antreibt, ist einmalig.« Es gibt bereits Nachahmer-Projekte in Kenia, Tansania und Uganda. Und Christine Zhen-Wei Qiang, Ökonomin bei der Weltbank, hat berechnet, wie das Internet der Armut in der Dritten Welt entgegenwirkt: Zehn Prozent zusätzliche Online-Anschlüsse lassen die Wirtschaft in Entwicklungsländern zwischen 1,1 und 1,4 Prozent wachsen.

    Und Dinesh Bairagi?

    Der erhält für jedes Fahrrad, das er verkauft, 200 Rupien Provision – das sind nicht einmal zwei Cent. »Aber der Anteil ist mir egal. Ich bekomme den Respekt des Dorfes.«

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    Illustration: Christoph Niemann