Ein Traum, der wachsen muss

In wenigen Tagen wird das neue Europaparlament gewählt. Aber was ist das eigentlich für eine Idee: Europa? Was hält dieses Konstrukt zusammen? Auf der Suche nach Antworten hat der Autor Roger Willemsen in vier Wochen 19 Länder bereist.

Im Wasser unter der abendlichen Brücke zitterten nebeneinander die Lichter Asiens und Europas. Alle Kontinente tragen weibliche Namen, damit wir sie leichter lieben können. Aber wenn wir sie lieben sollen, heißt das, wir sollen sie auch in ihrer Schwäche und Bedürftigkeit anerkennen? Ich stand in der Mitte über dem Bosporus und hatte Europa vor mir, Europa mit seinen Minaretten und Moscheen, Asien in meinem Rücken, mit arkadischen Hügeln voller Villen und Gärten. Verkehrte Welt?

Ich war auf der Suche nach Europa, nach Gedanken, Bildern, Stimmungen und Stimmen, die seine Idee und seine Wirklichkeit beschrieben. Wo zeigte es sich, wo war es fassbar? Ich spazierte hinauf bis zum Taksim-Platz. Die Straßensperren standen noch, Polizeieinheiten wachten im Schatten der Mauern. Vor Wochen war hier Blut geflossen, und vor Monaten hatte ein Grünen-Abgeordneter im Deutschen Bundestag gesagt, auch für die Werte der Europäischen Union werde hier gestorben. Gibt es europäische Werte? Und ein anderer Parlamentsredner hatte gerufen: »Letztendlich sind die Demonstrationen ein Schrei nach Europa.«

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»Schreit ihr«, frage ich in ein Grüppchen aus Demonstranten hinein, »nach Europa?« Sie finden die Frage schnöselig und erwidern: »Europa kann warten, wir haben andere Probleme!« In den nächsten Wochen sollte ich diese Antwort dreimal zu hören bekommen, mit drei unterschiedlichen Begründungen: das erste Mal in Budapest. Dort traf ich einen Roma, der von seiner Mutter noch in einer Erdhöhle zur Welt gebracht worden war. Er beklagte sich über unseren Balkan-Kitsch, samt offenem Feuer, gerafften Röcken und »Zigeuner-Romantik«. »In Wirklichkeit sind wir Sinti und Roma wie die Wanderarbeiter Afrikas, wir leben in Ghettos, wir sind die Dritte Welt Europas! Nehmt uns erst einmal das Elend und die Diskriminierung, dann reden wir über Europa!«

Das zweite Mal war es in Lissabon eine Vertreterin des »neuen Fado«. Sie setzte der Weltschmerz-Folklore des portugiesischen Lebensgefühls etwas Soziales entgegen: »Wir empfinden wirklich Melancholie oder besser, Erkenntnistrauer. Das ist etwas anderes als Spaß für alle! Unsere Trauer bezieht sich auf unseren Niedergang. ›Oh Glanz von Portugal‹ heißt es in unserer Hymne. Was ist davon übrig? Und wir werden nicht einmal aggressiv; phlegmatisch sind wir und nostalgisch. Das ist Saudade, unser Weltschmerz, heute. Europa ist fern!« Und doch so nah, wollte ich fast sagen. Schon an der Algarve, wo der europäische Tourismus seine Farben verteilt, verflüchtigt sich auch der Weltschmerz. Hier erwartete mich direkt über der Atlantik-Brandung eine Imbissbude mit der Aufschrift »Die letzte Bratwurst vor Amerika«. Hinter der Theke lächelte ein Foto von Wieland Backes aus der Kulisse seiner Talkshow Nachtcafé. Europa war unausweichlich.

Der dritte Europa-Fatalist war ein bretonischer Restaurantbesitzer. Schon Paris, meinte er, sei doch ein Land, das vom Volk nichts wisse. Dieses Volk lebe in der immer verachteten Provinz und erhebe sich gerade gegen den Ausverkauf nationaler Werte an die USA, an die Weltwirtschaft, an Europa. Es sei alles dasselbe. Als ich aber einwarf: »Es war Charles de Gaulle, der vom ›Europa der Vaterländer‹ sprach«, fühlte er sich bestätigt: »Wo sehen Sie denn hier noch Vaterland?« – »In Ihrer Küche«, erwiderte ich. Er lachte und ließ es gelten.

An diesen Mann musste ich denken, als ich wieder durch die Straßen von Paris ging. Was hat diese Stadt nicht alles geprägt, das Monarchische wie das Republikanische, die Mode und das Essen, die aufklärerische Vernunft und das intelligente Kino, ja, selbst das Schwarz der Orchestermusiker geht auf die postrevolutionären Franzosen zurück, und die Nationalversammlung hat auch die europäischen Parlamente geprägt, bis in die Anordnung der Fraktionen nach links und rechts. Es ist alles noch da. Die Kunst besitzt hier Autorität, unterliegt nicht allein der »Wettbewerbsfähigkeit«, und die großen Gesten der Nation sind immer noch kulturelle.

Auch haben Frankreichs Intellektuelle immer wieder europäisch geträumt: 1851 hielt Victor Hugo vor der Nationalversammlung eine leidenschaftliche, wenn auch verhöhnte Rede für die Einheit Europas. Paul Valéry sprach vom »Homo Europeus«, André Gide von der europäischen Integration. Doch heute fühlen sich auch hier die Geistesarbeiter und Künstler eher einer Szene zugehörig als einer Region und suchen die Selbstbewahrung vor dem rabiaten Interessenverband, der Freihandelszone, die auch »Europa« heißen. »Wir wollten etwas Größeres«, hat Wim Wenders angesichts all der Konzentration auf technische und wirtschaftliche Aspekte in Europa geklagt.

Dieses Größere hätte eine gemeinsame Idee sein können. Doch sind die Europäer diesem gesamten Kontinent, seinen Kulturen und Geschichten, zugewandt genug? Kennen sie, lieben sie, was das »Europäische« als Ganzes ausmacht? Europa führt einen Wahlkampf der Floskeln und Begriffe, die kaum verhüllen, dass die Idee der europäischen Union im Ökonomischen wurzelte. Wo aber entwickelte sie sich zu mehr?

Lange war man sich vor allem auf Schlachtfeldern begegnet, dann auf Truppenübungsplätzen, an touristischen Ballungsorten, auf politischen Gipfeln, in Sportarenen, auf europäischen Sangesbühnen. Man begutachtete Marotten, kultivierte Eigensinn, und die nationalen Vorurteile waren so luftig und so poetisch wie Tratsch. An ihnen erfreuten sich die Europäer oft mehr als am Einheitsstreben, und wir Deutschen bewunderten heimlich, was immer sich der Effizienz verweigerte: Das Dolcefarniente, das Laisser-faire, die Mañana-Mentalität, für die wir nicht einmal Worte haben.

Als ich losreiste, um Europa zu suchen, sah ich es vor allem in zwei Formen vor mir: als Land der Sehnsucht jener in der Ferne, die hier ihr Glück suchen wollen, oder als Kontinent des Heimwehs der Exilierten. Wo aber sollte sich dieses Europa materialisieren, wo fassbar sein? Die Reise war lang, die Vielfalt der Szenen, der Kulturen, der Begegnungen erstaunlich, und doch öffnete sich am Ende wirklich ein begrünter Platz vor einer Berglandschaft, und ich dachte: Hier! Das ist seine Idee! Das ist Europa!

Doch wie gesagt, es sollte eine lange Reise sein bis zu diesem Platz, und zunächst sitze ich in der »Dolce Vita Drink Bar« in Krakau. Im Radio singt eine Frau wie unter starker Migräne, und draußen konkurrieren beim »City Sightseeing« das Auschwitz-Museum und das Salzbergwerk Wieliczka, eine Wunde und ein Weltkulturdenkmal. Gespalten steht das Land auch vor Europa. Polen, lange eine reine Agrargesellschaft, gehörte 1945 zu den Siegern, und sah für Jahrzehnte nicht danach aus. Die größten Nachbarn hatten das Land schon betrogen, überfallen, ausgebeutet. Den Vereinigten Staaten von Amerika beizutreten wäre manchem hier leichter gefallen als denen von Europa.

Ein heißer Frühlingstag. Alles schwitzt. Wer jetzt noch Hand in Hand schlendert, liebt wirklich. Ein Roma-Vater und -Sohn spielen Petite Fleur für Akkordeon und Klarinette, dreimal in Folge. Dann geht ihnen der Atem aus. Die Fliegen schlafen auf dem Salat der Touristen ein, und die Tauben flattern nur noch bis zum Sockel des Kopernikus-Denkmals. Ein Wagen mit der deutschen Aufschrift »Schwangerschaftselektronik« kommt vorbei. Ob es einen europäischen Traum gebe, frage ich den Mann neben mir. Seine Brauen zucken: »Unsere harte Zeit braucht Gefühle. Wenn ein Pole ›Romantik‹ sagt, glauben Sie mir, er weiß, wovon er redet.« – »Europa bedeutet für Sie Romantik?« – »Die Menschen müssen träumen. Je härter es wird, sie müssen träumen.« – »Gewiss«, sage ich. Er nimmt »Europa« nicht mal in den Mund.

Dieses Europa aber, das ist auch hier vor allem die Anwesenheit von Geschichte, Patina im Lebensraum, Erinnerung. So war Krakau über Jahrhunderte partnerschaftlich dem heute ukrainischen Lviv verbunden, dem alten Lemberg. »Waren Sie je dort?«, frage ich. »Das ist nicht weit genug weg«, erwidert der Träumer, als wolle er Europa als Ganzes hinter sich lassen, und ich erinnere mich, wie ich in der Pracht der alteuropäischen Mauern von Lviv eine öffentliche Bühne gefunden hatte, beschallt von Tanzmusik. Doch niemand tanzte. Die Bühne gehörte allein einem Auto und dem Slogan: »The Great Western Experience«. So gesehen hätte ich dem polnischen Träumer in seinem Fernweh vielleicht sagen müssen, Europa dehne sich längst bis in die USA?

Das brachte mich auf den ungarischen Schriftsteller Péter Nádas, mit dem ich auf einem Podium in Warschau gestritten hatte, weil ich die Existenz einer intakten gesamteuropäischen Öffentlichkeit leugnete. Gewiss, nach dem Krieg erhielten Zeitungen und Zeitschriften ihre Lizenzen nur, wenn sie übernational berichteten. Heute aber verschwinden europäische Filme und Bücher aus den Kinos und Buchläden, kein europäisches Land ist dem anderen kulturell so nah wie ganz Europa den Vereinigten Staaten, und selbst Jean-Claude Juncker bemerkte unlängst: »Das eigentliche Problem ist, dass wir Ignoranten sind.« Wir wissen einfach zu wenig voneinander.

Wie dicht Leben und Sterben europäischer Kulturen nebeneinander liegen...

Nádas aber, der stille Mann, verlor die Contenance und eiferte im Sinne seines europäischen Traums, den er so gerne vor der Marktwirtschaft gerettet hätte. Doch so sympathisch die Verteidigung einer Identität der Vielfalt auch ist, wir kennen keine portugiesische Soap, keine schwedische Comedy, aus den Kinos zieht sich der europäische Film zurück, und die Massenmedien haben sich aus Quotengründen vom Ideal eines echten Kulturaustauschs weitgehend verabschiedet. Im Fernsehen, auf dem Buch- und auf dem Musikmarkt bestehen wir also nicht auf Europa.

Zurück bleibt Befangenheit, wenn nicht Scham vor dem Regionalen. Man hört im Radio keinen Fado, keinen Dudelsack. Das genuin Europäische wird behandelt wie eine Heimatidylle. Das mag für die Deutschen und ihre belastete Heimat-Tradition plausibel sein, deshalb ist man hier selbst auf dem Dorf urban, aber anderswo? Kennt Europa Stammeskulturen?

Gerade die alpenländische Region ist so abweichend strukturiert mit ihrer Patchwork-Kultur. Sie ist Transitland. Die unterschiedlichsten Lebensweisen und Temperamente treffen hier seit Jahrhunderten aufeinander. Schroff sind die Grenzen der Sprachräume: durch hohe Berge voneinander isoliert, durch Pässe miteinander verbunden. Hier, wo seit Jahrhunderten Händler und Waren, Sprachen und Kulturen vorbeiziehen, liegt der letzte mitteleuropäische Urwald, und die Talschaften, nur wenige Kilometer voneinander entfernt, unterhalten oft keine Verbindung.

Während das Hochgebirge für Deutschland, Italien und Frankreich nur eine geografische Randerscheinung darstellt, sind die Alpen für die Schweiz und Österreich Inbegriff ihrer selbst. Von den slowenischen Karawanken im Osten bis nach Marseille im Westen entfalteten sich starke stille Kulturen, die die alpinen Klischees verneinen. Diese Alpentäler sind Freidenker-Heimat, volksmusikalisches Klanglabor und geprägt von Milieus, deren Verschrobenheiten und individuellen Profile wir kaum kennen.

Als ich vom Schweizer Musiker Christian Zehnder wissen will, welche Bedeutung seine traditionsbewusste Versenkung im globalisierten Europa noch habe, geht er zurück auf Naturklänge: »Tönen die Alpen? Ja, im Krachen des Donners, im Tosen des Wildbachs, im Bimmeln von Viehglocken, im Sirren von Insekten, in den summenden Gebeten, dem Rufen des Alpsegens, den uralten Liedern, die von der Einsamkeit der Bergwelt erzählen.« Sie exis-tieren, sind nur aus Deutschland fast völlig verschwunden und haben der sterilen »Volksmusik« Platz gemacht – auch ein Beispiel dafür, wie dicht Leben und Sterben europäischer Kulturen nebeneinander liegen, ähnlich wie bei den Lebensformen.

Im Norden Islands erlebte ich Musik wie Menschen unabgeschliffen von Konventionen, schroff, erratisch, von unverwechselbar europäischem Individualismus. Gegen Abend wurde im einzigen Kino ein Hollywood-Film gezeigt. Der Ton drang bis auf die Straße. Die Anlieger öffneten die Fenster, lehnten sich heraus, blickten auf die Außenwand des Kinos und hörten zu. Es gab ein Postamt, in dem vier Frauen ernst und ungern Telefonverbindungen »nach Europa« herstellten. Einer Kundin wurde der Gebrauch eines Briefumschlags erklärt. Telefon heißt »Draht«, das Fernsehgerät »Bildrausschicker«. Es ist, als würde Technologie in das Vokabular des frühen Werkzeuggebrauchs übersetzt.

Oder wer denkt bei Europa an die Samen, ehemals »Lappen« genannt, das einzige bis heute überlebende europäische Urvolk, das seit mehr als 10 000 Jahren den nordeuropäischen Raum bewohnt? Verteilt auf Norwegen, wo bis in die Sechzigerjahre die schulische Prügelstrafe auf die Verwendung ihrer Sprache stand, Finnland, wo man sich noch vor gut fünfzig Jahren bemühte, alles Samische auszutreiben, Schweden und die russische Halbinsel Kola, wo die Samen heute zu den Ärmsten der Armen gehören, leben sie zwischen Diskriminierung, Verelendung und Vernichtung ihres Lebensraums.

Ortschilder werden zerstört, samische Namen ausgestrichen und übermalt. Die Hälfte von ihnen spricht die eigene Sprache nicht mehr, manche verleugnen die eigene Herkunft. In den Tundren entstehen Windparks, Finnlands und Schwedens Bergbauboom ließ auf samischem Land Gold-, Nickel-, und Kupferminen entstehen.

Angesichts der dünnen Besiedlung fällt der Widerstand schwach aus. Auch lassen sich die Samen nicht durch ein Parlament vertreten, das nicht Teil ihrer Kultur ist. Nils-Aslak Valkeapää, langjähriger Kultursekretär im Weltrat der Urbevölkerungen, der bekannteste Künstler der Region, schreibt in einer Diktion, die uns an das Hopi-Orakel der Siebziger denken lässt und doch nordeuropäisch ist: »Wir bewohnen seit Jahrtausenden ein biologisch empfindliches Gebiet, ohne der Natur zu schaden. Wir halten uns für einen Teil der Natur, wir sind nicht ihre Herren. Deshalb können wir die Erde auch nicht besitzen. Sie hat uns genährt, sie hat uns beschützt.« Auch das ist Europa, Heimat aussterbender Völker, animistisch geprägter Medizin, naturreligiös animierter Musik, untergehender Kulturen und Sprachen, reich, bizarr und gefährdet.

Reist man dann südlich durch die Fjordlandschaft Norwegens, begegnet man immer wieder Menschen, die die Naturschönheit groß denken. Anders als im dicht besiedelten Süden Europas ist hier die oft beschriebene Idylle des Rückzugs in die Natur, in die Hütte am Fjord sogar realisierbar. Man staunt, wie viele Menschen diesen Weg tatsächlich antreten, und mag Norwegens Kultur also auch etwas Weltflüchtiges haben, der Staat ehrt seine Einzelgänger und bringt, was Menschen brauchen, in jeden Winkel: Straßen, Schulen, Krankenhäuser, Post und Waren. Derselbe Staat hat beim Massaker von Utøya bewiesen, wie moralisch hochstehend ein Gemeinwesen agieren kann, wenn es nicht revanchistisch denkt. Norwegen, das Land, das seine Unabhängigkeit erst seit knapp 110 Jahren besitzt, hat sich der Aufnahme in die Europäische Union widersetzt. Das mag ökonomisch begründet werden, aber auch unter Nationen gibt es vielleicht Eigenbrötler, die lieber allein gelassen werden möchten und dennoch bestehen.

Wo heute von Europa gesprochen wird, ist reflexartig von Bürokratie, vom Beamtentum die Rede. Aus den entlegenen, provinziellen Landstrichen reise ich also in die bürokratischen Zentren. In Madrid scheint die imperiale Architektur einschüchternd. In ihren kolossalen Proportionen symbolisierte sie Unterdrückung, die Deklassierung ganzer Stadtviertel, die sich hier zuerst in »noble« und »elende« teilten. Heute wirkt die alte Herrschafts-architektur gespenstisch leer. Neben den vielen Repräsentationsbauten war es vor allem der Beamtenapparat, den König Philipp II. von Spanien aufbaute, und der allen Europäern zum Vorbild wurde.

Uns Europäer eint wohl auch der Argwohn gegenüber der moralischen Macht der Institutionen.

Auf den Bänken des Paseo del Prado suche ich das Gespräch mit Arbeitslosen, Studenten, Rentnern. Der Chor ihrer Stimmen hat diesen Refrain: »Ihr nationalen und supranationalen Polit-Rhetoriker mit euern ›strategischen Partnerschaften‹ eurer ›Implementierung der Aufnahmeagenda‹, euern ›multilateralen Zweckverbänden‹, ihr habt uns müde europäisiert. Wenn ihr redet, sieht niemand Länder und Landschaften, niemand fühlt den Kontinent unter euern Floskeln.«

Sie sagen, Europa sei ein Kontinent, den man nicht einfach behandeln könne, als müsse er nun ein Staat werden. Sie opponieren gegen die Staatsidee, das Zentralistische überhaupt. Unter dem Asphalt der Ordnung Europas stoßen die tektonischen Platten der Ländergeschichten gegeneinander: historische Prozesse, Zyklen, Handelsströme, Stimmungen und religiöse Traditionen. Kein Wunder, dass Institutionen, die all dies vereinbaren wollen, auch Bollwerke sind. Das war bei den antiken Stadtstaaten so, entwickelte sich zu den mittelalterlichen Ständeordnungen und endete in den modernen Demokratien, in einer Gemeinschaft der Werte und der Barcodes, stark und solidarisch gegen China, Russland, Indien. Jetzt sollen wir Europa wählen als Global Player, würden aber eigentlich lieber den Campanilismus pflegen, die Ordnung rum um den Kirchenturm, die intakte Welt im Horizont dessen, was unser Auge sehen kann.

Und ist nicht schon aus den wirtschaftlichen Großkomplexen zu vernehmen, die Vielfalt und Unterschiedlichkeit störe die ökonomischen Prozesse? Anders gesagt: So viel Vielfalt könnten wir uns nicht leisten? So paradox es klingt: Vielleicht sind ja einige Gegner der zentralistischen Ordnung Brüssels trotzdem echte Liebhaber Europas und
jener Kulturen, die eben nicht in den Vereinigten Staaten von Europa auf- und untergehen wollen?

Ich reise tief hinein in den europäischen Schilderwald, die Plakate voller Gesichter und Parolen, die mich wählen machen sollen. Ich passiere die Ewigkeit der Friedhöfe und der Schlachtfelder, der Denkmäler und der mythischen Orte, und ich komme, wenn ich frage, immer wieder bei derselben Aversion gegen »Brüssel« an. Offenbar schaffen wir es nicht, unsere Institutionen mit Wohlwollen zu sehen, unterstellen ihnen niedrige Beweggründe, nennen sie mutwillig, faul und überbezahlt, nicht delegiert »von uns«, sondern »gegen uns«.

Uns Europäer eint wohl auch der Argwohn gegenüber der moralischen Macht der Institutionen. Die erheben sich mit ihrer Repräsentations-Hoheit, schaffen Ghettos der Bürokratie in Brüssel oder Straßburg, und dann komme ich zum Europäischen Gerichtshof nach Luxemburg, ein Rodin räkelt sich im Eingang, helles Holz, Glas, Naturstein dominieren. Licht flutet durch den 300 Meter langen Corso mit seinen Abwegen zu Kantinen, Läden, der Bibliothek. Eine Stammeskultur der Beschlipsten ist hier zu Hause, gewiss, aber ich finde, wie Robert Menasse beim Europäischen Parlament in Brüssel, offene Türen, kompetente Informanten, Aufgeschlossenheit jeder Frage gegenüber, finde eine Institution, die allein 24 offizielle Verfahrenssprachen kennt, und deren Mitarbeiter durchschnittlich 43 Jahre alt sind. Alles in allem ein sympathischer und plausibler Aufwand für das, was »Gerechtigkeit«, »Fürsorge« oder auch »Mitmenschlichkeit« bedeuten, wenn man sie bürokratisieren muss.

Der Bürger wünscht sich impulsiv Schutz vor den europäischen Institutionen. Diese aber wünschen sich bisweilen nicht minder Schutz vor dem Bürger, und in der Tat gibt es so viel Schützenswertes an diesem Nationengebilde, an seiner Verfassung wie an seiner Vorstellung von Recht, und dies ist zu verteidigen gegen die Europamüden, die Verächter so sehr wie gegen die Enttäuschten.

Bosnien ist enttäuscht. Es klingt aus jeder Unterhaltung auf den Straßen von Sarajevo, dieser alten Station auf den Handelswegen der Türken, Venezianer, Wiener, dem Schmelztiegel der Religionen, der Vielvölkerstadt, die bis zum Jugoslawienkrieg nie Schauplatz ethnischer Verfolgungen war. Sie hatte mehr Europa bei der Lösung der politischen Konflikte erwartet.

Serbien ist enttäuscht. In Belgrad ragen die Kriegsruinen noch mitten aus den Wohngebieten, als wollten sie sagen: Wir leiden noch, wir vergessen nicht, und der alte Professor, Vertreter der alten Intelligentsia, steht am Fenster seiner Mietswohnung und ist in der politischen Welt ohne Ort. Gegen seine Frau, die als letzte Zuflucht die Autorität der Monarchie anbietet, tritt er als ein fatalistischer Anhänger der Demokratie auf, nicht der von Belgrad allerdings. »Warum dann nicht der von Brüssel?« Er sieht mich an, als hätte ich ihn aufgefordert, sein Land zu verraten.

Und die Kommenden? Als ich auf einem kleinen Markt eine Orange schäle, setzt sich ein zwanzigjähriger Rapper neben mich und erklärt mir seine Musik: »Ich bin kein Amerikaner, ich meine es ernst. Mich kümmern keine Frauen, Pistolen und Gold, und ich mache nicht solche Gesten« – er spreizt die Finger und stößt sie rhythmisch in die Luft – »Ich rede auch nicht so komisch – ey, motherfucker! Das sind alles Ablenkungen. Darum geht es nicht. Meine Themen sind politisch, ich bin ernst.« Seine Augen blicken dem Ernst seiner Themen hinterher. Er ist politisch. Jetzt hat er es gesagt. Genauer weiß er es auch nicht.

Ich finde aber nicht die Enttäuschten allein. Es gibt auch Länder, die auf Europa immer noch als ein Versprechen blicken. Italien gehört dazu, das kindliche, das Land der Effekte, der Buffo-Typen an der Macht, Italien, das ebenso Land des Heimlichen und der unsichtbaren Einflüsse ist! Hier hat man sich, als das Gemeinwesen schon Schaden nahm, von Europa zeitweise mehr Ordnung erhofft, als sich das Land selbst zu geben vermochte.

Hoffnung in Europa zeigten die Länder des Baltikums! Als sie 1991 ihre Unabhängigkeit wiedererhielten, war die »singende Revolution« mutig und friedlich vorausgegangen und hatte Europa die Tür geöffnet. Prompt türmen sich im lettischen Riga heute rund um eine Puppenstuben-Altstadt mit Herder-Denkmal und Bremer Stadtmusikanten die Glaspaläste der Shoppingmalls von internationalen Ausmaßen.

Im litauischen Vilnius tritt man in eine Vergangenheitsform des baltischen Lebens ein: Die Kirchen ragen als Zapfen aus den buschigen Löwenzahnwiesen, es gibt goldene Ladenschilder, pastellfarbene Altbauten, aber auch humpelnde Alte in Blue Jeans, weißhaarige Ordensschwestern mit modischem Rucksack, Alte in Leggings. Doch halten die Radieschenverkäuferinnen noch die roten Büschel in den Passantenstrom und lächeln aus wattierten Anoraks. Europa ist ein Quilt.

In Estland weht die amerikanische Flagge so verbreitet, als sei sie gegen die Russen aufgepflanzt. Die Postkartenverkäuferinnen tragen Tracht. In den Antiquitätenläden liegen die heimischen Textilarbeiten neben Nazi-Hinterlassenschaften, ukrainischem Porzellankitsch, Matroschkas mit Putins Kopf, und in der Sushi-Bar geht eine Alte von Tisch zu Tisch und bietet Socken mit Rentiermotiven an.

»Wir misstrauen allen weißen Rittern, die auf dem Pferd kommen, um uns zu retten.«

Ja, die Länder im Osten, die oft besonders leidenschaftlich von Europa träumten, sind vielfältiger und heller geworden. Das begann mit Prag, das heute ein gelacktes Schmuckkästchen ist. Aber auch Budapest und Warschau haben sich entpuppt, schließlich Tirana und Sofia. Die Albaner, vormals Skipetaren, waren eine Stammesgesellschaft, die Sprache und Geschichte zusammenhielt. Nachdem Diktator Enver Hoxha 1967 zum Sturm auf Bilder, Museen, Kirchen, Moscheen aufgerufen hatte, erst mit dem Warschauer Pakt, dann mit China brach und das Land völlig isolierte, entlud sich nach seinem Tod 1985 der Hass in Zerstörungswut. 1997 griffen die Europäer ein.

Seither, so scheint es, wartet Albanien auf die Segnungen des Westens. Die Burg Skanderbeg in den Bergen hinter Tirana feiert den Feldherrn, der 1443 die Türken in die Flucht geschlagen hat. Der Tourismus, der ihn ehren soll, überschüttet den kargen Ort mit einer Andenkenflut ohne Abnehmer. Das Pathos der Stätte vermittelt sich nicht, und wenn man ans Meer fährt, findet man jeden Hügelzug vollgestellt mit Billboards. Sie sind die Vertreter der ankommenden Welt. Schau, sagt die Ware, so werde ich aussehen! Aber hinter den Plakaten ist keine Welt. Die Hotels stehen leer, der Küstenstreifen ist nur der Konjunktiv einer Côte d’Azur, sagt aber dennoch, wie alles: Europa, wir warten!

Auch Bulgarien, die Heimat des Orpheus, hofft weiter. Von hier hat die Welt zuerst Stimmen gehört. Der Gebrauch von Instrumenten ist in den griechisch-orthodoxen Kirchen nicht erlaubt: Instrumente können nicht beten. So erfuhr die Welt von der tiefen Religiosität im Land der 237 Klöster zuerst durch die Voix Bulgares und ihren chorischen Gesang, den schon Stevie Wonder und Frank Zappa priesen.

Das moderne Sofia dagegen ist eine raumgreifende Stadt mit Boulevards und großen Einfallstraßen, umgeben von massiven Hotel- und Bürokomplexen, zwischen denen alte Frauen mit Reisigbesen fegen. Vom Sozialismus bleibt das Monumentale des Raums, der die Menschen immer zu klein und zu wenig erscheinen lässt, eine imperiale Idee, die nicht wie in Paris und Madrid Könige aufruft, sondern die Symbolik der Parade, des Aufmarschs.

Gleich bei der »Bar Happy Grill« steht die Hagia-Nedelja-Kirche mit ihren von Ikonen gepflasterten, weihrauchgeschwärzten Wänden, Fresken und Ikonen. Ein Pope singt im hellen Tenor, ein Knabe steht, die hohe tropfende Kerze in der Hand, mit iPod-Stöpseln im Ohr und verneigt sich betend. Man atmet die Luft aus einem Schacht ins Mittelalter. Ein Kustode kommt und fordert mich auf, nicht mit übereinandergeschlagenen Beinen zu sitzen. Warum? Er deutet zum Altar: »Das Kreuz ist IHM allein vorbehalten.«

Auf dem Ikonenmarkt draußen sagt der Verkäufer, nach Europa gefragt: »Wir misstrauen allen weißen Rittern, die auf dem Pferd kommen, um uns zu retten. Erst der Zar, dann Ex-Präsident Borissow, dann die EU, sie klingen immer gleich. Auch die EU paktiert mit denen an der Macht. Es ist aber die Macht der Betrüger und der Ausbeuter. Wer bei uns gut ist, macht, dass er schleunigst ins Ausland kommt.« Dass das möglich ist, hält er für eine Segnung Europas. Dass man sich den Kopf über die ferne parlamentarische Vertretung zerbricht, für ein wenig dekadent. Die Frage ist auch für dieses Land nicht, wie es zu Europa steht, sondern wie Europa zu ihm steht.

Mir scheint, dies sind schlafende Länder, die so viel sein und geben könnten, besitzen sie doch vor allem die Neugier und die Lust, sich im Blick der Fremden selbst zu erkennen. Europa wurde von den Starken erdacht. Aber mit der Einheit verbanden alle gemeinsam Infrastruktur, Fortschritt, Marktöffnung, Wachstum. Sie sagten »Kultur« dazu.

Rumänien war Kornkammer und Armenhaus des Balkans, fror, hungerte, erlebte ein Wechselbad aus Faschismus und Kommunismus und tauchte endlich auf, erwacht zu Europa. Aber jetzt? Die großen Mietwohnblöcke sind halb verfallen. Durch die zerbrochenen Fenster stattlicher Bauten in Bukarest fliegen die Tauben ein und aus.

Aus den europäischen Krisenländern des Südens kehren die arbeitslos Gewordenen jetzt zurück, finden ihre Heimat ärmer vor, als sie sie verließen, und haben manchmal kaum noch ein Gefühl für sie – warum also für Europa? Diese Arbeitsnomaden ziehen als eine eigene Nation der Entwurzelten über den Kontinent. Kann man ihnen Leidenschaft für ein Parlament abverlangen, das fern, fremd und reich wirkt? Mihaela, laut Visitenkarte »Business Development Managerin«, sagt: »Ich werde gerne als Europäerin betrachtet, aber als Rumänin bin ich nicht sicher, dass man mich in Europa auch so sieht.«

Wir fahren durch eine Landschaft, die aussieht, als habe sich eine Tsunamiwelle daraus zurückgezogen und nichts als Fragmente des Lebens, Müll und Pfützen zurückgelassen. Siebzig Prozent ihres Einkommens geben die Menschen für Nahrungsmittel aus, kaum regionale allerdings, liegen die Äcker doch auch im Frühjahr brach, weil die Bauern keine Kredite für Saatgut und Landmaschinen bekommen.

Und dann, in diesem kleinen, aufgeräumten Ort Târgu Jiu am Südostrand der Karpaten, stehe ich plötzlich doch vor Europa, oder vielmehr wird diese Idee der Völkerverständigung, Nächstenliebe und visionären Kraft manifest. Da ist ein kleiner Park samt Allee. Folgt man ihrer Achse etwa 1300 Meter, so entfaltet sich die Idee gewissermaßen im Gehen. Zwischen 1935 und 1938 hat hier der Bildhauer Constantin Brâncui ein Ensemble aus drei Skulpturen errichtet, beginnend mit dem »Tor des Kusses«. Dies sieht nur aus wie einer jener Triumphbögen, die in vielen Hauptstädten nach gewonnenen Schlachten gegen die europäischen Feinde errichtet wurden. Dieser aber, mit seinem Kuss-Motiv in den Pfeilern, triumphiert für die Einheit.

Der »Tisch des Schweigens« auf der anderen Seite des Parks wirkt dagegen archaisch wie ein miniaturisiertes Stonehenge. Es sind Krähenrufe in der Luft und Klingeltöne. Doch der Tisch mit seinen zwölf Sitzen um das Tischrund assoziiert den Heiligen Gral, den Mythos des Verhandlungstischs, und die Sitze tragen, an die verrinnende Zeit erinnernd, die Form des Stundenglases.

Gut einen Kilometer weiter erhebt sich auf einem Rasenrund vor dem Panorama der Berge »Die endlose Säule«, ein schmales, statisch kühnes, aus 17 Segmenten emporstrebendes Fanal, dessen fragmentarischer Abschluss sich dem Himmel öffnet, Gradmesser für das Ziehen der Wolken, vor denen sich gerade zwei Vogelschwärme vereinigen.

Europa! Eine vollendete Leistung des Aufbaus ist dies, auch als Organisation von Licht und Schatten. Alle diese Segmente sind zugleich bauchig und kantig, sind andere und gleiche, haben die Zeit auf unterschiedliche Weise aufgenommen, ihren Verschleiß anders beantwortet und demonstrieren in ihrer metallisch gelb-goldenen Patina Individualität im Verfall. Aus der Ferne ist dies eine Form bloß, mit jedem Schritt darauf zu aber wird sie zugleich wirklicher und unwahrscheinlicher. Es ist dies das Banale, das sich in der Annäherung ins Erhabene verwandelt. Jeder Blick strebt nach oben und will abspringen in den Himmel der Ideen, wo ja auch die von Europa beheimatet ist.
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Die Europawahl 2014

Zwischen dem 22. und 25. Mai findet zum achten Mal die Wahl des Europäischen Parlaments mit Sitz in Straßburg statt. Die 751 Parlamentsmitglieder werden von rund 380 Millionen Bürgerinnen und Bürgern aus den 28 EU-Mitgliedstaaten gewählt. Anschließend wählt das Europaparlament den Präsidenten der Europäischen Kommission
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(Weitere Fotos: Roger Willemsen, Jahreszeiten Verlag/Marion Backhäuser)

Fotos: Carlos Spottorno