Immer auf die Kleinen

Während wir noch glauben, Konzerne und Marktforscher wollten nur Luxuswaren absetzen, haben die längst eine neue Zielgruppe entdeckt: arme Menschen. Denn auch Cent-Beträge machen Umsatz.

Melina, 3, hat das Einkaufen schon lieben gelernt - auch wenn ihre Mutter nur wenig Geld hat.
Michaela Grunwald kennt das schon: Freitags klingelt es ständig an ihrer Haustüre. Dann stehen Nachbarn oder andere Leute aus der Gegend vor ihrer Wohnung im Berliner Bezirk Wedding, und sie weiß natürlich, was sie alle von ihr wollen. Auch jetzt hat es geklingelt, kurz nach halb fünf, und sie öffnet die Tür.

Immer freitags hat Michaela Grunwald, 41, schon die neuen Prospekte mit den Angeboten der Discounter in ihrer Wohnung, die sie einen Tag später im Wedding zu verteilen hat; und viele aus der Umgebung wollen heute schon einen Blick darauf werfen. Eigentlich beginnt die neue Angebotswoche ja erst am Montag. Wer aber weiß, welche Angebote es gibt, bekommt manches auch schon am Samstag. »Hast du den neuen Real-Prospekt schon da?«, fragt die Nachbarin, und Michaela Grunwald nickt. Hier in der Gegend, in der jeder Fünfte arbeitslos ist und die Kneipen »Zum fröhlichen Zecher« oder »Saufschrauben e. V.« heißen, leben die Menschen nach den Angeboten der Discounter: Sie wissen, wann die Italien-Wochen bei Aldi anfangen, und wenn eine Tafel Schokolade nur 49 anstatt 79 Cent kostet, liegt bei fast jedem, der bei Aldi einkauft, diese Tafel Schokolade im Einkaufswagen. An Tagen, an denen Real MP3-Player für 10 Euro anbietet, rufen sich die Menschen im Wedding gegenseitig an, um auf das Angebot aufmerksam zu machen. Und wenn Michaela Grunwald samstags die Prospekte von Kik oder Woolworth in die Briefkästen stecken will, öffnen die Leute ihr gern den Hausflur. Nur wenn sie Prospekte von Hertie verteilen muss, bleiben viele Türen zu. »Wer kann sich hier schon Hertie leisten?«

Mit dem Verteilen der Discounter-Prospekte bessert Michaela Grunwald das wenige auf, was sie zum Leben hat. Wie viele hier ist sie arm, lebt von dem, was der Staat für sie bereithält – vom Hartz-IV-Regelsatz plus Kindergeld plus Unterhaltsvorschuss vom Staat, denn keiner der drei Väter ihrer vier Kinder zahlt Unterhalt. Früher hat sie bei Nordsee und bei Rudis Resterampe gejobbt, aber seit elf Jahren ist sie arbeitslos, und ohne Ausbildung hat sie keine Aussicht auf Arbeit. Mit den knapp 1000 Euro, die ihr und ihren vier Kindern nach allen Abzügen bleiben, komme sie aber zurecht. »Und welchen Job könnte ich schon kriegen, bei dem ich so viel Geld verdiene?«, sagt sie.

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Für Menschen, wie sie hier im Wedding leben, hat man in diesem Land in letzter Zeit viele Adjektive gefunden, man nennt sie »marginalisiert«, »abgehängt«, »ausgeschlossen«, spricht von »Prekariat« und einer »neuen Unterschicht«, die in ihrer Homogenität erst in den letzten zehn Jahren entstanden ist. Eine Bevölkerungsgruppe mit eigenen Moden und Akteuren, deren Lebensprinzip der Billigkauf ist. Nicht nur die 6,9 Millionen Hartz-IV-Empfänger gehören dazu, sondern – gemessen an Kriterien wie drohender Armut, Arbeitslosigkeit, Bildung, Einkommen – bis zu ein Drittel unserer Gesellschaft, wie Soziologen schätzen. Und weil die diese neue Gesellschaftsschicht beobachten wie Nachtfalter, hat man viel erfahren über sie in letzter Zeit, über fehlende Bildung und ein verändertes Konsumverhalten: beim Fernsehen, bei der Kleidung, in Fragen der Ernährung. »Das wichtigste Kriterium der kulturellen Selbstdefinition dieser Schicht ist das Shopping«, sagt der Berliner Ethnologe Wolfgang Kaschuba.

Zum Verteilen ihrer Prospekte öffnet Michaela Grunwald die Türen mit Plastikteilen, die sie aus Cola-Flaschen schneidet.
Während Arbeiterfamilien vor 50 Jahren für ein neues Paar Winterstiefel oder einen Sonntagsanzug sparen mussten, können heute auch Menschen ohne größeres Einkommen am Konsum teilnehmen. Das Bild der Armut hat sich dadurch verändert. Wenn RTL oder ProSieben ihre Berichte aus Wohnungen von Hartz-IV-Empfängern senden, sieht man Piercings, Camouflage-Hosen, goldene Turnschuhe, Flachbildschirme, Spielkonsolen, MP3- und DVD-Player. Soziologen wie die Milieuforscher der Heidelberger Sinus-Gruppe erkennen innerhalb der Unterschicht eine »stark materialistisch geprägte Bevölkerungsgruppe«, »die den Anschluss an die Konsumstandards der breiten Mitte halten will«. Das wenige, was die Menschen haben, geben sie gern aus. Und so zynisch es klingt: Es sind viele. Das macht sie zur Zielgruppe. Ulrich Eggert, der eine Unternehmensberatung für den Handel in Köln leitet, sagt: »Der Markt ist groß, den lässt doch keiner liegen. Die Unterschicht wächst, die Mittelschicht bröckelt nach unten. Auf dem Boden fruchten Billigangebote und Sonderposten besonders gut.«

Laut Armutsbericht verdienen 13 Prozent der Bundesbürger weniger als 781 Euro netto, 13 weitere Prozent werden nur durch staatliche Unterstützung vor Armut bewahrt. Die Kluft zwischen Arm und Reich wird größer. Diese Aufspaltung der Gesellschaft hat neue Märkte zur Folge: ein Luxusmarkt, den Werber »Premium« nennen, auf der anderen Seite ein rasch wachsender Super-Discountmarkt, der schon lang nicht mehr nur von Menschen mit niedrigem Einkommen genutzt wird und eine Kultur des »Billig« in der Bundesrepublik gefördert hat. Seine Gründer hat er zu den reichsten Männern des Landes gemacht. Mittlerweile haben Discounter wie Aldi oder Lidl ihr Angebot verbreitert, um alle Schichten zu erreichen: für den Arbeitslosen das abgepackte Brot, für den Angestellten den Biojoghurt. Daneben drängen immer mehr Discounter auf den Markt, die sich noch billiger positionieren: So eröffnete sogar der Billigriese C & A eine neue Unterkette: Avanti, deren Angebote noch günstiger sind als die des Mutterhauses. »Da sich die Gesellschaft differenziert, differenzieren sich auch die Angebote – bis in alle Ecken und hin zu allen Rändern«, sagt Claudia Caspar von der Nürnberger Konsumforschungsgesellschaft GfK.

Auch Michaela Grunwald und ihre Kinder lieben das Einkaufen, und wenn sie losgehen, schnallen sie ihre Rucksäcke auf den Rücken: »Wer will schon Geld für Tüten ausgeben?«, sagt sie. »Mit den zehn Cent, die eine Tüte kostet, mach ich sinnvollere Dinge.« Die Grunwalds gehen zu Aldi, Lidl, Netto, Plus, Woolworth, Kik, Takko. Zu Mäc-Geiz, einer Kette, die Waren in Preisklassen zu 0,55 oder 1,50 Euro ordnet, oder zu Zeeman, einem Textil- und Drogeriediscounter, bei dem man ein Paar Ballerinas für 2,50 Euro kaufen kann.

Michaela Grunwald stört es nicht, dass es bei Discountern etwa keine Frischwurst gibt: »Das kennen meine Kinder nicht, das schmeckt ihnen gar nicht.« Ihr Vater, erzählt sie, der habe noch Butter gegessen, aber der hat auch zwölf Stunden am Tag malocht. Ihre Kinder sind an Margarine gewöhnt, an Maggi-fix-Gerichte und an Spaghetti. Und weil der Küchentisch zu klein ist, essen die Kinder nacheinander. Michaela Grunwald sagt, dass sie auch auf Gemüse auf dem Speiseplan achte, und legt Mais in Dosen und ein Glas Rotkohl in den Einkaufswagen. Dazu noch einen Kohlrabi und eine Packung Chicoree, für die Hasen.


Die Familie Grunwald (hier mit Michaela Grunwalds Freund, Zweiter von links) weiß detailliert über die Preise in den Discountern Bescheid.
Neben vielen Sonderposten- und Billigangeboten sind in den letzten Jahren weitere Märkte entstanden, die sich sogar ausdrücklich an ärmere Bevölkerungsschichten wenden: Kreditverträge etwa, die trotz negativem Eintrag bei der Schufa, der Schutzgemeinschaft für Kreditsicherung, abgeschlossen werden können; Anwalt-Hotlines, die für 1,99 Euro pro Minute Rechtsberatung zu Hartz IV liefern; oder ein Softwarepaket, das Lösungen für die wichtigsten Fragen zu Hartz IV verspricht: von einem Textgenerator gefertigte Antworten an den Sachbearbeiter und ein Programm, das Routen zu Behörden plant. Franz-Josef Frohwein, 58, der die Software programmierte, gelang so der Schritt aus der Langzeitarbeitslosigkeit.

Solche Dinge interessieren Michaela Grunwald nicht. Ihr Geld reicht für Lebensmittel, Kleidung, ab und zu ein Möbelstück von Domäne oder einen Computer, den sie auf Raten zahlt. Und es reicht für ihr Handy mit Prepaid-Karte. Früher hatte sie ein Handy mit Vertrag. Davon hat sie bis heute Schulden. Das eine hat sie gelernt: »Ich werde meine Kinder davor schützen, Handyverträge zu unterschreiben.«

Handyverträge sind fast so etwas wie die neue Geißel der Armut. Für viele Jugendliche gilt der erste unterschriebene Vertrag als Initiation in die Erwachsenenwelt, ähnlich wie der Führerschein in anderen Schichten. So etwa für Kathrin Fenske, 24, die auch im Wedding wohnt und wie alle anderen mit 18 einen Handyvertrag abgeschlossen hat. »Das gehörte dazu!«, sagt sie. Viele Rechnungen, Mahnungen, Verträge später saß sie beim Schuldnerberater, da kamen »krasse Rechnungen« zusammen, und das mit den Kündigungen hat sie auch öfter vergessen. Jetzt hat sie fünf Einträge bei der Schufa und kann im Moment auch nichts von den 7000 Euro Schulden zurückzahlen, weil sie gerade ihr zweites Kind bekommen hat, von ihrem türkischen Freund, der auch von Hartz IV lebt und noch bei seinen Eltern wohnt. Die Schuldnerberater in Neukölln und im Wedding kennen das Problem: »Auch arme Menschen konsumieren, wissen aber oft nicht, wie das richtig geht – weil sie es von ihren Eltern nie gelernt haben. Sie wissen nichts über Vertragsabschlüsse, Kündigungsfristen, Finanzierungen. Viele Unternehmen nutzen das aus, ziehen hier von Tür zu Tür«, sagt Frank Wiedenhaupt von der Neuköllner Schuldnerberatungsinitiative »Neue Armut«. Daher bieten er und sein Team nun in Schulen Aufklärungskurse an.

Wenn sich Kathrin Fenske etwas leistet, dann Dinge für ihre Kinder. Vor drei Monaten, als sie ihren zweiten Sohn geboren hat, bot eine Profifotografin im Krankenhaus ihre Dienste an – da konnte sie nicht Nein sagen, obwohl das Ganze 99 Euro kostete. Andächtig nimmt sie eine Schachtel aus dem Schrank, in der Pappumschläge mit Bildern
ihres Säuglings liegen, fotografiert mit schummrig-milchigem Weichzeichner. Am Kopf des Kindes sieht man Kathrin Fenskes Hand, die mit schwarzem Nagellack über den Haarflaum streichelt.

Die Einkaufswelt von Kathrin Fenske spielt sich auf der Müllerstraße in Berlin-Wedding ab, wo sich Handyläden mit türkischen Multishops abwechseln und neulich sogar ein H & M aufgemacht hat. Aber dort kann sie sich höchstens etwas aus der Kinderabteilung leisten, und ihre Freundin Laura schimpft, dass das Geschäft nicht die Bedürfnisse der Menschen hier erfülle. »Die hätten vorher mal besser eine Umfrage im Wedding gemacht! Dann hätten die erfahren, dass sich die Leute eine größere Babyabteilung gewünscht hätten, mit einem Fernseher und Spielsachen für die Kleinen darin!«


Selbst wer arm ist, kann sich heute etwas leisten - Kathrin Fenske im Billigmarkt.
Wenn die Werbung im Fernsehen etwas Neues mit Aroma anpreist, ein Raumspray oder einen Weichspüler, »dann hol ich mir das«, sagt Kathrin Fenske, weil sie alles liebt, was duftet und süß ist. Auf ihrem Wohnzimmertisch steht immer eine Schale mit Süßigkeiten. Ihre Zähne und die ihres Sohnes, dem sie ihre Liebe oft in Form von Schokolade beweist, sind schlecht – dem Fünfjährigen mussten neulich unter Narkose sogar einige entfernt werden. Sie mag Sido, Scooter und Verona Pooth, weil es der ja mit ihrem insolventen Mann jetzt genauso gehe wie allen anderen auch. Und sie liebt Ein-Euro-Shops, in denen sie Spielzeug und künstliche Fingernägel kauft. Ein Leben ohne Ein-Euro-Shops könnte sich Kathrin Fenske nicht vorstellen, sagt sie. 

Der König der Ein-Euro-Shops heißt Rainer Schum und ist in Würzburg Herr über Lagerhallen, groß wie Kathedralen, in denen surrende Gabelstapler Paletten mit Artikeln herumfahren: Malstifte, türkische Autofahnen, Ellbogenverbände. Schum betreibt in der Branche der Ein-Euro-Märkte das umsatzstärkste Unternehmen. Das bedeutet: Man hat fast immer mit ihm zu tun, wenn man in Europa einen Ein-Euro-Artikel sieht.

Die Einkäufer unter Schums 1200 Mitarbeitern stehen ständig in Kontakt mit Herstellern aus China, Indien, Polen und wissen, wo es Insolvenzen und Restposten zu kaufen gibt. Schum und sein Ein-Euro-Unternehmen erlebten in den letzten Jahren ein fast ungebremstes Wachstum, dieses Jahr erwartet er wieder eine deutliche Umsatzsteigerung, im letzten Jahr waren es 206 Millionen Euro Umsatz. Schum sagt, dass aber nicht nur Menschen mit geringem Einkommen bei ihm einkaufen. Seine Zielgruppe seien die, »die sparen müssen oder sparen wollen«. Ein Marktforschungsinstitut habe ermittelt, dass nur etwa elf Prozent die Ein-Euro-Discounter aus Geldmangel aufsuchen, die anderen seien Schnäppchenjäger. Eine genaue Käuferanalyse gebe es nicht, obwohl auch Schum sich Gedanken darüber macht, »dass es bald eine Käuferschicht geben könnte, die sich nicht mal mehr Aldi leisten kann«. Aber einige Erkenntnisse habe er im Laufe der Zeit über seine Kundschaft gesammelt: Zum Beispiel merke man, dass in einigen Filialen im August weniger los sei – weil die türkischen Kunden dann Urlaub machen.

Migranten als Käuferschichten wurden in Deutschland in den Neunzigern entdeckt. Als einer der Ersten fand der Pharmafabrikant Karl Thomae 1987 heraus, dass türkische Gastarbeiter, die am Fließband arbeiteten, oft unter Rückenschmerzen litten, und pries seine Schmerzsalbe Finalgon mit türkischsprachiger Werbung in Zeitungen an. Seitdem haben sich Agenturen auf »Ethnomarketing« spezialisiert. Ethnomarketing-Experten wissen, dass es in der Türkei noch viele Dörfer ohne durchgehende Stromversorgung gibt und es deswegen bei türkischen Familien in Deutschland oft als Luxus gilt, nachts das Licht brennen zu lassen – was sie für Stromanbieter interessant macht. Ethno-Agenturen übersetzen die Prospekte der Discounter, die dann türkischen Zeitungen beiliegen, und planen Werbungen für türkische Radio- und Fernsehsender in Deutschland. So zeigt ein Volkswagenspot einen türkischen Vater, der seine Tochter nicht mit Männern ausgehen lässt – so lange, bis einer mit einem Volkswagen kommt.


Melina Grunwald und ihr Bruder Umut, 8. Sein monatliches Taschengeld beträgt 1,50 Euro.
Der Begriff »Unterschichten-Marketing« ist in der Werbebranche aber noch ein ungemütliches Wort. Claudia Caspar von der Gesellschaft für Konsumforschung sagt: »Es gibt eine Hemmschwelle zuzugeben, dass die ›Unterschicht‹ eine relevante Zielgruppe für bestimmte Produkte ist.« In der Steinbeis-Hochschule für Marketing in Berlin steht »Marketing für die Unterschicht« aber schon auf dem Lehrplan, im Fach Marketing-Management. Regel Nummer eins: Werbung für die ärmeren Schichten darf sich nicht mit dem Attribut »arm« an die Zielgruppe wenden: Ältere Menschen wollen auch keine Seniorenteller bestellen. »Die meisten Billigprodukte werden aber gar nicht beworben. Dafür gibt es kein Budget. Sie nutzen oft Abstrahleffekte großer Marken«, sagt Karen Heumann, Chefstrategin der Hamburger Werbeagentur Jung von Matt. Deswegen sieht eine Billigmargarine ähnlich aus wie eine Rama.

Wer aber gezielt die Zielgruppe erreichen will, kann Daten über Einkommen und Kaufgewohnheiten zu jedem Haushalt in jeder deutschen Straße erwerben, etwa bei einem Unternehmen namens Acxiom. Wenn man auf deren Website den Begriff »Prekariat« eingibt, baut sich eine Landkarte auf, und die Gegenden, in denen viele Menschen in unsicheren Arbeitsverhältnissen wohnen, sind pink und lila markiert: lilafarbenes Ostdeutschland, pinkfarbener Ruhrpott. Dazu kann man lesen: »Egal ob Sie kaufkraftschwache Gebiete bei Ihren Selektionen ausschließen wollen oder sich auf potenzialstarke Zielgruppen konzentrieren möchten, bei Acxiom erreichen Sie treffsicher Ihre zukünftigen Kunden.«

In anderen Ländern, in denen die Kluft zwischen Arm und Reich breiter ist, betreiben internationale Unternehmen Feldforschung zu ärmeren Käuferschichten: Firmen wie Nestlé oder Unilever schicken Mitarbeiter in Ghettos und Favelas, um Waren aus Schubkarren heraus anzubieten und mehr über die Wünsche der Kunden zu erfahren. Aus Erfahrungen wie diesen entstand im letzten Jahr auch das Billigauto der indischen Firma Tata, das sich an Familien richten soll, die bislang zu fünft auf einem Motorrad gefahren sind.

Für die Grunwalds ist der Einkaufstag heute vorbei. Auf dem Heimweg bekommen alle noch ein Eis, dann tragen sie ihre Rucksäcke nach Hause, vorbei an den rauchenden Männern vor dem »Café Bosporus« und dem Internetshop, aus dem der Kuschelsong dringt und den Bierdosen kickenden Jungs den Takt liefert. Morgen will Michaela Grunwald noch einen anderen Discounter aufsuchen, in dem das Toastbrot billiger ist und auch das Deo. Die Lebensmittel reichen bis Monatsmitte, bis das Kindergeld kommt. Vielleicht schafft sie es, ein paar Euro davon zurückzulegen und noch zwei- oder dreitausend der Broschüren zu verteilen, die man in Werbesprache »Schweinebauchwerbung« nennt. Dann kann sie sich vielleicht bald ihre Traum-Schrankwand leisten, bei Domäne, für 95 Euro.

Sophie Henkelmann (Fotos)