Als mein Vordermann plötzlich sehr nah war und ich eine Vollbremsung mit quietschenden Reifen hinlegen musste, um ihm nicht draufzufahren. Als mein Wecker mich aus dem Mittagsschlaf riss. Als ein Hund laut bellend an den Zaun vorm Gehweg schoss. Als der andere keine Vorfahrt hatte und trotzdem auf die Kreuzung fuhr.
In all diesen Momenten rief ich: »Alter!« Das fiel mir auf. Warum rufe ich »Alter«? Rufen normale Menschen nicht »Argh!«, »Oje!« oder, wie meine Mutter, »Schei …« – kurze Pause – »… benkleister!«? Was sagt es über mich, dass ich »Alter!« rufe in einem Augenblick, in dem ich keine Zeit habe zu überlegen, was ich äußere, sondern es mir einfach entfährt wie ein Blitz dem Himmel? Was sagt es über andere Menschen, was ihnen in einer Schrecksekunde jeweils entfährt? Meine Lebensfrau ruft in solchen Momenten »Scheiße!«, obwohl sie dieses Wort sonst nie benutzt. Eine Dame, die in der Redaktion in einem Nebenzimmer arbeitet, meint von sich, sie rufe im Schreck »Fuck!«. Ein Kollege erzählte von einem Bekannten, der sage in solchen Augenblicken allen Ernstes: »Hoppsi!«
Ich rufe Arnulf Deppermann an, Professor am Leibniz-Institut für Deutsche Sprache der Universität Mannheim. Dort ist die, wie er sagt, größte Datensammlung des gesprochenen Deutsch entstanden: rund 10 000 Stunden Mitschnitte von Gesprächen im deutschsprachigen Raum, etwa Alltagsunterhaltungen in Familien, Teamgespräche im Büro, Coachings, WG-Diskussionen. Deppermanns Institut macht diese Aufzeichnungen seit 2008, jedes Jahr kommen jeweils dreißig bis vierzig Stunden hinzu. Diesen Wust des gesprochenen Wortes zerlegen sie am Institut in seine Einzelteile und analysieren diese wie Laborproben.
Unter anderem wird tatsächlich untersucht, was Menschen in Schreckmomenten sagen, etwa wenn sie eine unerwartete schlechte Nachricht erfahren. Die häufigste Interjektion, so lautet der Fachbegriff, war nach Deppermanns Auskunft »Oh Gott!«. Das würden in erster Linie Frauen sagen, die mit Deppermanns Worten »stärker Etikette-orientiert sind als Männer und Vulgarismus vermeiden«, anders formuliert: die Manieren haben. Auch »Fuck!« und »Shit!« kämen oft vor, aber nur bei Jüngeren. »Mist!« falle in den Mitschnitten ebenfalls häufig.
Und »Alter«?
»›Alter Schwede‹, ja. ›Alter‹ allein nur als Anrede, aber selten als Ausruf«, sagt Deppermann. Das sagt im Schreck sonst fast kein Mensch? Warum dann ich?
»Ich will Ihnen nicht zu nahe treten, verstehen Sie mich nicht falsch«, sagt Deppermann, »aber wir kennen das von Demenzkranken. Ich meine damit: Was leicht verfügbar ist, das ist leicht aktivierbar. Vielleicht haben Sie den Ausdruck früher häufiger benutzt. Auch Demente benutzen vermehrt Sprachformen, die aus ihrer Kindheit und Jugend stammen.«
Ich bin am Rande des Ruhrgebiets aufgewachsen, da sagt man »Alter!« wirklich viel, zu Menschen, Tieren, Situationen. Lustig, dass das in Momenten des Kontrollverlusts jetzt, mehrere Jahrzehnte seit meinem Wegzug, wieder hochkommt.
Lustig auch, dass ich das selbst dann rufe, wenn ich allein im Auto sitze. Ein Redner, kein Publikum. Wozu soll das gut sein?
Deppermann vergleicht es mit dem Gestikulieren. Als man Menschen in Experimenten daran gehindert habe, während des Telefonierens zu gestikulieren, hätten die Leute nicht mehr flüssig formuliert. »Menschen verhalten sich auch allein in hohem Maß wie in Gesellschaft«, sagt Deppermann. Auf die Schreckausrufe bezogen: Auch die habe man sich in sozialen Situationen angewöhnt.
Und warum überhaupt Schreckausrufe? Menschliches Verhalten wird ja gern mit der Evolution begründet, aber ich sehe keinen evolutionären Nutzen darin, im Falle des unerwarteten Hervortretens eines Löwens aus dem Gebüsch »Ups!« zu rufen. Der kanadische Soziologe Erving Goffman schrieb, derlei Ausrufe seien möglicherweise ein Weg, andere Menschen zu beruhigen: Wenn jemandem ein Stück Fleisch durch den Grillrost rutscht, ruft er demnach »Ups!«, um sein Umfeld davon zu überzeugen, dass sein Verstand noch funk-tioniert und er das Fleisch nicht fallen ließ, weil er ganz generell einen an der Waffel hat. Man signalisiere auch: Mir ist klar, dass mir da gerade was Blödes passiert ist.
Man dürfe sich diese Ausrufe sowieso nicht vorstellen wie Reflexe, nicht wie die Hand, die man von der Herdplatte zieht, sagt Arnulf Deppermann. Was man im Schreck ruft, sei insgesamt zwar wenig kontrolliert, aber es gebe durchaus Leute, die auch im Affekt den Ausruf unterdrücken könnten – oder ihn im Gegenteil stilisieren.
Dazu gehöre ich nicht. Leider. Würde ich einen Ausruf stilisieren, dann riefe ich regelmäßig »Donnerwetter!«, vielleicht auch »Potztausend!«. Das hat Klang, das hat Noblesse.
Am Mannheimer Institut ist noch etwas aufgefallen. Was jemand im Schreck ausruft, kommt auch auf die Ursache des Schreckens an, genauer: darauf, wer schuld ist. Ist man selbst schuld, der andere oder niemand? Falls man selbst oder niemand schuld ist, rufen die Menschen laut Arnulf Deppermann »Scheiße!«, »Fuck!«, »Mist!«. Ist aber der andere schuld, rufen sie eher so etwas wie »Mensch!« oder »Ach komm!«. Mir scheint, auch »Alter!« passt in die letztere Reihe. Kann es sein, dass ich im ersten Moment dazu neige, anderen die Schuld zu geben? Ich fürchte, im Straßenverkehr ist das auf jeden Fall so. Auch der bellende Hund und der von mir selbst gestellte Wecker, siehe oben, schienen mir im Affekt die Schuldigen zu sein. Als mir aber kürzlich vorm Abspülen die innig geliebte Armbanduhr herunterfiel, die dabei zersprang, rief ich nicht »Alter!« – ich fand wohl niemanden, der schuld gewesen sein könnte. Ich rief stattdessen: »Oh nein!«
Immerhin, das gefällt mir ganz gut. Schön altmodisch. Wenn ich künftig dafür sorge, dass mir hier und da ein Weinglas aus der Hand fällt, schaffe ich es vielleicht doch noch zum »Donnerwetter!«. Ich weiß nur nicht, was meine Lebensfrau dann ruft.