Rita, die Cousine meiner Mutter, war keine besonders schöne Frau. Trotzdem blieben die Männer von Moskau und Baku oft wie erschrocken stehen, wenn sie ihnen auf dem Arbat oder auf dem Kirov-Boulevard entgegenkam, und manche trauten sich sogar – meist ohne Erfolg –, sie anzusprechen. Rita ging nicht schnell und nicht langsam. Ihre schönen Hüften schwankten leicht hin und her, ihre großen Brüste auch. Sie lächelte, ohne zu lächeln, mit einem kleinen, dunkelrot geschminkten Mund, und ihre gezupften Augenbrauen sahen wie die Flügel eines Raubvogels aus, der sich vielleicht bald auf sein Opfer stürzen wird.
Als Rita noch zur Schule ging, war Artur, der Sohn des aserbaidschanischen Schauspielers Nakim Ismajilov, einer ihrer besten Freunde. Artur war groß und dünn, er war selbstsicher, aber zurückhaltend, und er hatte dieses Sesam-öffne-dich-Lächeln, das die Natur noch seltener verschenkt als ein großes Pianisten- oder Fußballertalent. Im Winter 1937 – Artur war vierzehn – holten morgens um fünf ein paar müde NKWDMänner Arturs Vater zu Hause ab. Angeblich hatte der bekannte Shakespeare-Schauspieler und Regisseur für den iranischen Geheimdienst gearbeitet. In diesen Jahren ließ Stalin Hunderttausende verhaften, wegbringen und töten, und immer dachten sich seine Leute einen anderen verrückten Vorwand aus, um das Leben eines Menschen und seiner Familie zu zerstören. Einen Monat nach seiner Verhaftung wurde Arturs Vater zum Tode verurteilt und erschossen. Arturs Lächeln verschwand für lange Zeit.
Als die Filme von Arturs Vater noch gezeigt werden durften, hatten Artur und Rita sie sich immer zusammen im Nizami-Kino angeschaut. Nach der Vorstellung standen sie oft auf dem kleinen Platz vor dem Kino und unterhielten sich. Über ihnen hingen – statt schlecht gemalter, greller Filmplakate wie überall anderswo auf der Welt – die schönen, ernsten Porträts von Lenin und Stalin. Rita und Artur kauten Sonnenblumenkerne und tranken Kwas, und sie erzählte ihm, dass sie später aus dem spießigen Baku nach Moskau verschwinden würde. Danach gingen sie langsam zur Strandpromenade, vorbei an den bröckelnden Jugendstilhäusern der Innenstadt, die feuchte Luft roch wie immer nach verbranntem Erdöl und Meer, und die Männer von Baku schauten der jungen, aufgedonnerten Rita hinterher. Ja, schon als Teenager wollte Rita, dass man sie will, nur mit Artur, dachte sie, sei es etwas anderes. Aber Artur wollte sie natürlich auch. Er war, seit er denken konnte, verliebt in Rita – weil sie so süß und unfreundlich sein konnte, so verletzlich und verletzend, und weil alle anderen hinter ihr her waren.
Geht es in der Liebe um guten Sex und tiefe Blicke, oder geht es um ein halbwegs angenehmes Überleben zu zweit? Und was hat das eine mit dem anderen zu tun? Ihr erster Mann, den Rita als achtzehnjähriges Mädchen heiratete, war zwanzig Jahre älter als sie. Er war – in einer erfundenen Geschichte hätte er einen anderen Beruf – natürlich Schauspieler. Vadim Pachlavuni, unehelicher Sohn eines reichen Armeniers und einer französischen Kinderfrau, war nicht sehr groß, er hatte dichte, schwarze Haare, blaue, untreue Augen, und seine Nase wurde vom Alkohol allmählich rot. Als Rita sich in ihn verliebte, sah sie nicht, dass Vadim ein trauriger, harmloser Angeber war. Sie sah einen Mann, der ihr von der Bühne des Russischen Theaters in Baku als Trofimow im Kirschgarten vor der halben Stadt zuprostete. Er nahm sie in Restaurants und Cafés mit, die Ritas Freunde nur aus den Erzählungen ihrer Eltern kannten, und wenn sie zusammen im Bett waren, berührte er sie an Stellen, die Artur bei ihr nicht einmal vermutete.
Kurz bevor Rita und Vadim heirateten und nach Grosny gingen, wo Vadim in der von den Deutschen zerstörten Stadt das alte Theater wieder aufbauen sollte, fiel in einer großen Zweizimmerwohnung in der Proletarskaja-Straße in der Altstadt von Baku Artur vor Rita auf die Knie. Er nahm ihre Hand und sagte: »Wenn du schon heiraten musst, Rita, dann heirate mich!« Hinter der Glastür stand ihre Mutter Flora, die natürlich für Artur war und gegen Vadim, und hörte heimlich zu. Flora selbst, eine laute, harte, jüdische Kleinbürgerin aus Wladikawkas, hatte – weil ihr toter Vater ihr das damals in einem Traum befohlen hatte – einen Mann geheiratet, den sie zuerst nicht wollte und später nicht liebte. Aber sie blieben bis zum Schluss zusammen und überstanden gemeinsam Krieg, Stalinismus und den ganzen anderen Stress, der Leben heißt. Als die Glastür aufging, zuckte die lauschende Flora keineswegs vor Schreck zusammen. »Und?«, flüsterte sie. Artur schüttelte den Kopf. Aber wie ein Besiegter sah er trotzdem nicht aus.
Wer mit dir eine Familie gründet, endet bestimmt auch bald in einem NKWD-Keller!
Rita und Artur, hier um 1960 in Baku, kannten sich fast ein ganzes Leben lang, doch Artur musste lange warten und viel ertragen, bis seine Liebe erhört wurde.
In Grosny blieb Rita nicht lange. Sie bekam dort ein Kind – und verlor einen Ehemann. Vadim war die meiste Zeit im Theater. Dort konnte er so viel trinken, wie er wollte. Zu Hause schloss er sich oft in das kleine, dunkle Zimmer am Ende des Ganges ein, und als er mal wieder eine ganze Nacht nicht nach Hause kam, ging Rita, ihre schlafende Tochter Katia auf dem Arm, in das Zimmer hinein. Überall standen leere Wodka- und Weinflaschen, auf dem Boden, auf den Stühlen, auf der Fensterbank. War das der Moment, als Rita aufhörte, den tollen Vadim zu lieben? Nein. Aber jetzt verstand sogar sie, dass er, egal wie berühmt er war und wie tief er sich auf der Bühne beim Applaus in ihre Richtung verbeugen konnte, kein Mann fürs Leben und fürs Überleben war. Auf Wiedersehen, mein Herz, es war schön, aber es war nicht genug.
Zurück in Baku, wo sie jede Straße und jedes Gesicht kannte, wohnte Rita mit dem Baby wieder bei den Eltern in der Proletarskaja. Artur, der inzwischen Jura studierte, kam fast jeden Abend vorbei. Sie aßen alle zusammen, hinterher gingen Artur und Rita mit dem Kinderwagen raus. Meistens gingen sie zur Strandpromenade. Die Bohrtürme draußen im Meer traten immer weiter in die Abenddämmerung zurück, und Arturs Hoffnung, dass er nun endlich Rita überreden könnte, seine Frau zu werden, verschwand genauso schnell.
»Und jetzt?«, sagte er zu ihr. »Was hast du vor?«
»Mama und Papa wollen, dass ich Medizin studiere.«
»Was wollen sie noch?«
»Vielleicht, dass ich dich heirate – aber sicher bin ich nicht.«
»Wo willst du studieren, in Baku oder in Moskau?«
»Was glaubst du?«, sagte sie und lachte laut. Und dabei dachte sie: Schade, netter, lieber Artur, dass dein Vater als Verräter hingerichtet wurde. Wer mit dir eine Familie gründet, endet bestimmt auch bald in einem NKWD-Keller!
Kurz nachdem Rita nach Baku zurückgekehrt war, wurde Vadim verhaftet, weil er, um weiter trinken zu können, Geld aus der Theaterkasse stahl, und im Gefängnis, wo Rita ihn ein paarmal mit dem Kind besucht hatte, starb er ganz plötzlich an Leberversagen, so jung, so alt. Natürlich fühlte sich Rita schuldig. Und natürlich hatte sie erst mal von Baku und ihrem bisherigen Leben genug.
In Moskau – sie kam allein, ohne Katia, die in der Proletarskaja blieb – wohnte Rita zuerst in einem einzigen Raum mit meiner Mutter und ihren Eltern. Das ging so über ein Jahr. Dann zog sie zu Freunden, wo sie sich mit deren Sohn ein Zimmer teilte. Doch als sie eines Nachts seltsame kratzende Geräusche hörte, die Augen aufmachte und den Jungen aufrecht in seinem Bett sitzen sah, den Blick auf den Ausschnitt ihres Nachthemds gerichtet, zog sie schnell weiter zu ihrem Bruder, der mit seiner Frau und deren Eltern in einer Kommunalwohnung in der Bolschaja Dmitrowka lebte.
Bei ihrem Bruder bekam Rita ein Klappbett und eine Ecke im Wohnzimmer. Sie war die Letzte, die schlafen ging, und die Erste, die aufstand. Sie wusch sich schnell, schminkte sich und zog eins der schönen, gut geschnittenen, deutschen Kleider an, die sie noch in Baku auf dem Flohmarkt gekauft hatte und die aus den Paketen stammten, die die sowjetischen Soldaten von der Front nach Hause geschickt hatten. So ging sie dann, sexy und wählerisch wie immer, in die Redaktion der Großen Sowjetischen Enzyklopädie, wo sie, statt Medizin zu studieren, als Sekretärin arbeitete. Und so spazierte sie in der Mittagspause – sich so unsichtbar in den Hüften wiegend, dass man es kaum bemerkte – über die Gorki-Straße und über den Arbat. Und so erschien sie abends wieder in der Bolschaja Dmitrowka zu einem der Essen, die man dort immer häufiger für sie organisierte, und jedesmal saß ein anderer unverheirateter Mann am Tisch, den sie zum Fürchten fand.
Suchte Rita in Moskau einen Liebhaber, der auch ihr Ehemann sein würde? Oder wollte sie einen Ehemann, der vielleicht irgendwann ihr Liebhaber werden würde? Als ein Untergebener des Geheimdienstchefs Berija sie in der Post auf dem Arbat – sie wollte ein Paket mit Kleidern und Schokolade für Katia aufgeben – fragte, ob sie gern eine der vielen Geliebten seines Vorgesetzten werden würde, sagte sie natürlich Nein, und vielleicht hätte sie sogar Ja gesagt, wenn sie nicht wie alle in Moskau gewusst hätte, dass die meisten Frauen und Mädchen, die bei Berijas Orgien auf seiner Datscha mitmachten, früher oder später sterben mussten. Als aber kurz darauf ein sympathischer, riesiger Panzeroffizier mit einem vernarbten Gesicht und einer freundlichen, weichen Stimme in der Bolschaja Dmitrowka am Esstisch saß und zwischen Rote-Beete-Salat, Borschtsch und Pelmeni erzählte, wie er bei der Schlacht von Kursk fast in seinem Panzer verbrannt wäre; als er dann sagte, die meisten seiner Verbrennungen habe er sich geholt, als er vor zwei Jahren seine beiden Kinder aus seinem brennenden Haus gerettet habe, nur für seine Frau sei es zu spät gewesen – da dachte Rita, dieser Soldat ist der Richtige für mich, denn wer stark ist, wird bestimmt auch im Bett nichts Falsches machen. An Artur, den Sohn des Staatsfeinds Nakim Ismajilov, dachte sie in diesem Moment nicht. Es war Frühling, Frühling 1949, durch die offenen Fenster strömte frische, warme Abendluft ins Wohnzimmer, und der paranoide Massenmörder Stalin, der sein eigenes Volk jagte, lebte immer noch.
Und mit welchen Frauen traf sich der zarte, beharrliche, zurückhaltende Artur, während Rita in Moskau war? Das weiß keiner in der Familie so genau. Er studierte zu Ende, er ging viel ins Theater, er fing an, für die staatlichen Eisenbahnen als Jurist zu arbeiten, und er kam fast jeden Tag in der Proletarskaja vorbei. Dort trank er mit der kleinen Katia und den Großeltern Tee und aß Hagebuttenkonfitüre dazu, dann nahm er Katia auf den Spielplatz mit, und wenn er sich von ihr verabschiedete, küsste er sie wie sein eigenes Kind. Latifa, die Tochter, die er viele Jahre später mit Rita bekam, weiß nur von einer einzigen Frau, mit der ihr Vater vor ihrer Geburt etwas gehabt hatte. Ihren Namen erwähnte er nie. Sie war wie Rita Jüdin, konnte auch sehr tyrannisch und sehr liebevoll sein. Geheiratet hat er sie trotzdem nicht, denn er hatte für sein Leben einen anderen Plan.
Rita zahlte dem Professor nichts für die Wohnung, aber sie schlief dort mit ihm.
Artur mit Latifa, der gemeinsamen Tochter mit Rita.
Rita und der Panzeroffizier waren nicht einmal zwei Jahre verheiratet. Sie lebten zusammen mit seinen Kindern – aber ohne Katia – in Tallinn, in einer fast schon verrückt großen, lichtdurchfluteten Wohnung mit lauter schönen tschechischen Möbeln in der Nähe der Kaserne. Der Offizier wurde irgendwann General und Divisionskommandeur, und irgendwann schliefen Rita und er miteinander. Einmal fuhren sie nach Baku, und natürlich trafen sie gleich am ersten Tag Artur auf der Straße, den Rita ihrem neuen Ehemann als alten Schulfreund vorstellte. Artur lächelte noch hypnotischer und herzlicher als sonst – und machte hinterher so lange einen Bogen um die Proletarskaja, bis Rita und der General wieder nach Estland abgereist waren. Kurz danach – es war ein kalter, heller Morgen in Tallinn – setzte sich der General in der Kaserne an seinen Schreibtisch, er nahm den Telefonhörer in die Hand, bat seinen Adjutanten, ihn mit seiner Frau zu verbinden, und kippte mit dem Kopf tot auf den Tisch. Rita, die erst seit Kurzem wusste, dass sie schwanger war, hatte seit diesem Tag keine Zweifel mehr, dass jeder Mann, den sie heiratete, sterben musste. Sie bekam das Kind nicht, sie fuhr wieder zurück nach Moskau und besorgte sich dort eine Stelle als Sekretärin im Geologischen Forschungsinstitut. Sie fand ein Zimmer zur Untermiete, das zwar mehr hoch als breit war, aber dafür eine Tür hatte, die sie hinter sich zumachen konnte. Ein paar Monate später überließ ihr der Chef des Geologischen Forschungsinstituts die kleine Wohnung seiner verstorbenen Großmutter, einer Komintern-Kämpferin der ersten Stunde, in einem großen sechsstöckigen Haus in der Gorki-Straße, wo auch der Schriftsteller Ilja Ehrenburg und die Kinder von Ministern und Politbüro-Mitgliedern wohnten. Rita zahlte dem Professor nichts für die Wohnung, aber sie schlief dort mit ihm.
Der Professor – das blonde Haar etwas zu lang, grüne, harte Augen und kurze Ringerarme – sah nicht wie ein Professor aus, und es war von Anfang an klar, dass er nicht Ritas Ehemann werden kann. Er hatte eine Frau und zwei Kinder, die er nicht verlassen würde, und Rita selbst wollte ihn auch nicht heiraten, dafür mochte sie ihn einfach zu sehr, und noch einen toten Ehemann hätte sie nicht ausgehalten. Als eines Tages ein paar Geheimdienstleute die verliebte Rita in einer Wohnung beim Sokolniki-Park überreden wollten, den Professor zu bespitzeln, sagte sie, nun selbst in Gefahr, trotzdem Nein, so ergeben war sie ihm. Später freundete sie sich mit seiner Frau an, sie passte auf die Kinder auf, wenn das Ehepaar abends zu Empfängen ging oder Ferien machte, und wann immer eins von ihnen zu weinen begann, dachte sie an ihre eigene Tochter, die schon so lange ohne sie in Baku leben musste. Dann nahm sie das fremde, weinende Kind in den Arm und stellte sich vor, das sei ihre Katia. Geduld, mein Herz, dachte sie, Mama will nur ein bisschen glücklich sein und ist bald wieder zurück.
Der Professor, den Rita wie keinen Mann davor liebte, hatte nicht nur mit Studenten zu tun, er war einer der wichtigsten Manager des Landes, er suchte neue Erdgas-Vorkommen und plante ihren Abbau, und er hatte mindestens einmal in der Woche einen Termin im Energie-Ministerium. Darum konnte er sich, als wäre Moskau nicht Moskau, sondern Paris oder New York, eine Geliebte mit einer Wohnung in einer der besten Straßen der Stadt halten. Und darum konnte er Rita ab und zu auf eine Dienstreise mitnehmen. Einmal fuhren die beiden zusammen nach Baku, wo sie nicht in der Proletarskaja, sondern in dem großen, alten Intourist-Hotel am Strand wohnten, das viele für das schönste Gebäude der Stadt hielten. Artur wusste, dass sie da waren, das hatte ihm Ritas Mutter Flora erzählt, und dabei hatte sie ihn so angewidert angeschaut wie einen Schwächling und Träumer, der er nicht war. Am nächsten Tag sah Artur das Paar von Weitem in der Nähe des Hotels. Rita – inzwischen ein bisschen breiter und schwerer, aber für ihn immer noch die einzige Frau auf der Welt – trug ein schwarz gepunktetes weißes Sommerkleid, hohe, bei jedem Schritt leicht schwankende Schuhe und einen großen Strohhut mit einer Borte aus weißen Federn, die in dem Wind, der vom Kaspischen Meer herüberwehte, flatterten. Ihr korpulenter, energisch dahinschreitender Begleiter hatte einen hellgrauen Anzug mit breiten Draufgänger-Revers und teure braune Wildlederschuhe an, und er beachtete Rita, die die ganze Zeit redete, kaum. Artur schob die zu Fäusten geballten Hände in die Hosentaschen, er drehte sich um und ging weg.
Kurz danach – Rita war inzwischen zurück in Moskau – bekam sie seit Langem wieder einen Brief von Artur. Obwohl sie ihm nicht antwortete, kam bald noch ein Brief, danach noch einer und noch einer. Zuerst wollte Artur wissen, wie es Rita ging. Dann schrieb er ihr, dass er inzwischen Staatsanwalt geworden war und auf der Warteliste für eine der schönen, neuen, hellen Wohnungen stand, die bald am Stadtrand von Baku gebaut werden sollten. Später philosophierte er ein bisschen herum, er machte sich Gedanken darüber, ob die Liebe zwischen einem Mann und einer Frau mehr sein könnte als ein kurzes, böses, leidenschaftliches Scharmützel – »eine Freundschaft vielleicht, die immer hält?« Und nun ging es auf einmal in seinen Briefen um seine Gefühle für Rita, er fragte sie nach ihren Gefühlen für ihn, und er verriet ihr, dass er, als er sie vor ein paar Monaten in Baku mit diesem Parteitypen auf dem Primorskij-Boulevard gesehen hatte, gedacht habe, sie verdiene mehr, als eine heimliche Geliebte zu sein, und das auch noch in den besten Jahren ihres Lebens. »Von ihm wirst du kein Kind bekommen, Rita, rede dir nichts ein, und das Kind, das du schon hast, wirst du auch noch verlieren. Ich will aber ein Kind von dir, und deine Katia ist längst wie meine Tochter.« Als Rita diese Zeilen las, wurde sie sehr wütend. Ein paar Wochen später las sie Arturs Brief noch mal. Dabei sah sie plötzlich sein langes, dunkles Gesicht und das stürmische, ehrliche Artur-Lächeln, und sie lächelte auch.
Das nächste Mal kam Rita ohne den Professor nach Baku. Kaum war sie da, traf sie sich mit Artur. Sie gingen wie früher ins Kino, sie liefen stumm nebeneinander über den Kirov-Boulevard, sie verirrten sich, obwohl sie hier eigentlich jede Straße kannten, in der Altstadt, und als sie endlich vor Arturs Haus standen, zögerte Rita, aber Artur sah sie sehr ernst und entschlossen an. Er sagte: »Rita, du musst keine Angst haben. Stalin ist tot, und die Partei hat längst meinen Vater von jeder Schuld freigesprochen.« Dann grinste er doch noch. »Eigentlich schade, dass er nicht wirklich ein iranischer Spion gewesen ist. Das wäre ziemlich aufregend gewesen, oder?« Später, als Artur neben ihr schlief, lag Rita wach da, sie sah ihn immer wieder verstohlen an und fragte sich, ob sie, zurück in Moskau, dem Professor beichten müsste, dass sie ihn mit einem alten Schulfreund betrogen hatte. Nein, dachte sie, das wird nicht nötig sein, einmal ist keinmal, und ich kann ihn ja sowieso nicht heiraten, sonst ist er bald tot. Dann schlief sie ein.
»Liebste Rita«, stand auf der Rückseite eines Fotos, das den jungen Artur leicht im Profil zeigte, so schön und männlich wie nie, »in ein paar Stunden fährst du zurück nach Moskau. Ich will dir nichts Trauriges schreiben, und etwas Lustiges fällt mir nicht ein. Du sollst wissen, dass ich dich immer mehr als mein Leben geliebt habe und immer noch liebe, du bist alles für mich, vergiss mich nicht. Pass auf dich auf und auf deine Gesundheit. Denk daran, dass Katia und ich hier auf dich warten. Bleib gesund, das ist das Wichtigste, und für unser Glück werden wir dann schon selbst sorgen, du und ich. Ich bin sicher, dass es so sein wird.« Das Foto fand Rita, als sie wieder in Moskau war, in dem alten Buch mit den Isaak-Babel-Geschichten, das Artur ihr in Baku zum Abschied geschenkt hatte.
Ein Jahr später heirateten Rita und Artur. Sie lebten sechzehn Jahre lang zusammen, mal mehr, mal weniger glücklich, die meiste Zeit in der schönen, hellen Neubausiedlung am Stadtrand von Baku. Dann starb Artur plötzlich, und Rita blieb die restlichen vierzig Jahre ihres Lebens allein.
Illustration: George Butler