Der schießt den Vogel ab

Anders als seine Vorgängerin ist Olaf Scholz auf Twitter aktiv. Zeit für eine Bilanz nach dem ersten Jahr mit dem zwitschernden Kanzler: Bringen die Kurznachrichten dem Regierungschef irgendetwas? Und twittert er da eigentlich selbst?

Foto: Friedrich Bungert

Stellen Sie sich vor: Sie sitzen im Kanzleramt, frisch vereidigt, Koalition steht. Sie sind bereit, als mächtigster Politiker Deutschlands die Krisen der Republik, ja der Welt zu lösen. Aber jetzt sollen Sie auch noch twittern.

Ihre Vorgängerin Angela Merkel ist gerade so damit durchgekommen, es nicht zu tun. Wahrscheinlich dachte man am Ende, dass es sich jetzt auch nicht mehr lohnt, wo sie machtpolitisch eh am Ende war. Warum dann noch twittern? Aber zu ihrem Nachfolger hat jemand aus dem Social-Media-Team gesagt: Wir haben 2022, da muss ein Kanzler auch auf Twitter präsent sein.

Am 13. Februar 2022 setzte Olaf Scholz unter seinem neuen Account »Bundeskanzler Olaf Scholz« den ersten Tweet ab, große Aufregung. Der Kanzler twittert! Deutschlands erster Twitter-Kanzler!

Meistgelesen diese Woche:

»Frank-Walter #Steinmeier hat den Bürgerinnen und Bürgern in schwierigen Zeiten Orientierung gegeben und mit Herzblut das höchste Amt im Staat bekleidet. Ich bin froh, dass er dies weiterhin tun wird. Herzlichen Glückwunsch, lieber #Bundespräsident! Und: Hallo, Twitter!«

Was auf Twitter gefragt ist: Kommentieren, reagieren und sich beschweren, kritisch, schnell und ironisch. Also genau das, was Scholz nicht kann

Gut, erst mal was Leichtes. Aber wie verlief denn das erste Jahr des Twitter-Kanzlers? Zumal Olaf Scholz schon der letzte Bundeskanzler auf dieser Plattform sein könnte. Elon Musk könnte den Dienst schließlich schneller untergehen lassen, als Scholz in sein zweites Amtsjahr startet. Das Bundeskanzleramt meldet bereits, dass man sich nach Alternativen umsehe. Heute wäre es quasi schon wieder in Ordnung, Kanzler zu werden und zu sagen: Twitter? Da mache ich nicht mit. Basta! Beziehungsweise: Doppelwumms!

Aber Scholz musste ran. Und man hätte nach seinem ersten Tweet schon ahnen können, was ein knappes Jahr später Gewissheit ist: Wir haben keinen Twitter-Kanzler bekommen, höchstens einen Sprechroboter.

Was auf Twitter gefragt ist: Kommentieren, reagieren und sich beschweren, kritisch, schnell und ironisch. Also genau das, was Scholz nicht kann.

Gerne hätten wir nun den Kanzler ent­lastet mit unserer Anfrage beim Bundes­presseamt. Kann ja sein, er twittert gar nicht selber, sondern jemand noch Scholzigeres. Also: Wer genau oder wie viele Leute sind denn im #TeamScholz? Dazu äußert sich das Bundespresseamt nur vage. Eine »feste Zahl im Sinne der Fragestellung« lasse sich nicht nennen. Okay, wir wurden gescholzt.

Dann anders: Das statistische Analysetool »I write like« wurde mit Hunderten Romanen gefüttert, um Ähnlichkeiten und Unterschiede bei der Zahl der Wörter in Sätzen und dem Satzbau zu erkennen. Dadurch kann es bestimmen, wer wie wer schreibt. Nimmt man die Twitter-Kanzler-Tweets und fragt den Algorithmus, so lautet die Antwort, wem Scholz nahekommt: Kurt Vonnegut. Zur Erinnerung, das ist der Typ, der satirische Dystopien über die Dummheit der Menschheit schrieb, die oft damit enden, dass die Welt zugrunde geht – zwischendurch passiert ganz viel Verrücktes. Das ist nun eine Überraschung. Denn die Tweets von Olaf Scholz sind, nun ja: scholzesk.

Wie oft Scholz sich auf Twitter wohl selbst den Mund verbietet? Manches wird wohl immer ein Rätsel bleiben.

Foto: Friedrich Bungert

Hier eine Anleitung zum ultimativen Scholz-Tweet. Nutzen Sie vor allem diese Wörter: Wir, stehen, müssen, heute, gemeinsam, Ukraine, Deutschland, Europa, Bürgerinnen, Bürger – und das unverkennbare Lieblingswort: klar. Loben und beglückwünschen Sie sich für Ihre Arbeit – für die wirksamen Sanktionen gegen Russland oder das Ziel, ein klimaneutrales Land zu sein. Gratulieren Sie anderen, etwa der DFB-Frauen-Elf, dem DBB-Basketball-Team, dem indischen Premierminister anlässlich 75 Jahre Unabhängigkeit Indiens. Denken Sie an alle Feiertage und schreiben Sie was Nettes, zu Ostern, zum Opferfest und Jom Kippur. Zwischendurch schreiben Sie darüber, was Sie erlebt haben. Stichwort: heute. Nutzen Sie niemals ein Emoji, auch wenn es Ihnen noch so sehr in den Fingern juckt. Alles, was die Würde des Amtes und der Charakter des Scholzes er­lauben, sind Schlagwörter und Hashtags. Die sollten Sie nutzen!

Nehmen Sie all das und schreiben Sie nun etwa drei Aussagesätze, der erste kann eine Ich-Botschaft oder eine absolute Selbstverständlichkeit sein. Nicht verkünsteln, nicht schämen, einfach weiter. Schreiben Sie jetzt bloß nichts Sensationelles. Und voilà:

29. September 2022 – »Die Strom- und Gaspreise müssen fallen und sie werden fallen. Dafür haben wir heute die Weichen gestellt. Wir werden niemanden mit den hohen Rechnungen alleine lassen – weder die Bürgerinnen und Bürger, noch die Unternehmen. #Gaspreisbremse #Doppelwumms«

Zack, senden. Vielleicht schreiben Sie noch einen zweiten Tweet. Aber dann wirklich, Laptop zu. Feierabend. Auf Kommentare antworten Sie eh nicht.

Wäre Scholz’ Twitter-Feed ein Kinofilm: Ab Tweet drei würden alle vor Langweile anfangen, Popcorn zu werfen. Wobei es eher so aussieht, als hätte die Mehrzahl den Kinosaal verlassen. Schon der Blick auf die Zahlen ist traurig: Fast acht Millionen Deutsche nutzen Twitter, Scholz folgen nur etwas mehr als eine halbe Million. Sein erster Tweet, der mit Steinmeier und Hallo, bekam 12 215 Herzen – das sind nicht mal zwei Prozent seiner Follower, die da ein Like vergaben. Seitdem gibt es tatsächlich Tweets, die die Latte unter 400 Likes drücken. Sehr selten reißt einer die 10 000er-Marke.

Es stellt sich die Frage, ob man wirklich einen auf­regenderen Twitter-Kanzler will: einen, der mit Herzchen um sich wirft oder trötende Party-Smileys sendet. Zugegeben, es ist nicht leicht, als Bundeskanzler den Spagat hinzubekommen zwischen seriöser Politikvermittlung und dem, was die Leute auf Twitter gewohnt sind und mögen, nämlich vor allem: Ironie, Kritik und Krawall. Dafür gibt es Aufmerksamkeit, und die will Scholz ja. ­Immerhin twitterte er: »Ich bin Bundeskanzler geworden mit dem Anspruch, meine Politik zu erklären – das soll ab jetzt auch auf diesem Kanal geschehen. Zumindest in dem Maße, in dem die 280 Zeichen es zulassen.«

»Twitter dient Hinterbänklern«, sagt der Politologe

Tja, aber wo kein Publikum ist, findet auch keine Politikvermittlung statt. Wie kann ein Bundeskanzler Twitter dann überhaupt erfolgreich nutzen? Ein Anruf beim Münchner Politikwissenschaftler Martin Gross. Der überlegt keine Sekunde und antwortet: »Gar nicht. Twitter dient Hinterbänklern. Sie können twittern, dass sie in einer Abstimmung gegen die Parteilinie waren. ­Solche Leute werden erst hier sichtbar.«

Na ja, und Scholz hat, wenn er etwas geraderücken will, natürlich eine kleine Armada von leiblichen Twitterbots. Der SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert sitzt knallhart mit bleierner Unterlippe bei Lanz und verteidigt, was es zu verteidigen gilt. Der SPD-Parteivorsitzende Lars Klingbeil wird entsandt für die Charmeoffensive. Und für die beleidigte Larmoyanz gibt es den Kanzleramtschef Wolfgang Schmidt. Was andere twittern müssen, kann Scholz in persona losschicken. Das ist mal ein machtvolles Senden.