Wie trauert man richtig?

Nach manchen Terroranschlägen zeigt der deutsche Staat seine Betroffenheit, nach anderen nicht. Die Frage, wonach sich das richtet, ist nicht leicht zu beantworten.

Offizielles Gedenken: Nach dem Absturz der Germanwings-Maschine im März 2015 hängen die Flaggen auf dem Reichstag auf Halbmast.

Am Tag, als Helmut Kohl starb, zog die Agentur Scholz & Friends eine Werbeseite in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zurück, auf der neun leere Todesanzeigen zu sehen gewesen wären. Die sollten im Auftrag der Aktion »Runter vom Gas« neun Menschen symbolisieren, die täglich auf Deutschlands Straßen ums Leben kommen. Jetzt plötzlich fanden die Werber ihre Idee nicht mehr so passend.

Nachdem ein islamistischer Terrorist in Manchester 22 Kinder und Jugendliche mit sich in den Tod gesprengt hatte, sagten Angela Merkel und Horst Seehofer einen für den nächsten Tag geplanten Auftritt in München-Trudering ab. So etwas hatten sie zuvor nie getan.

Das Brandenburger Tor wird seit 2015 nach schweren Terroranschlägen in den Nationalfarben des angegriffenen Landes angestrahlt, einmal, nach Orlando, in den Farben des Regenbogens. Nachdem eine Bombe in der St. Petersburger U-Bahn 15 Menschen zerfetzt und fünfzig verletzt hatte, einige davon schwer, gab es keine Betroffenheitsillumination.

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Warum nicht? Hätte die FAZ-Anzeige erscheinen können, wenn nur ein ehemaliger Minister gestorben wäre? Was bedeutet das Wort »nur«, wenn es um den Tod geht? Wären Merkel und Seehofer ins Bierzelt gekommen, wenn nur sechs Kinder zu Tode gebombt worden wären in Nordengland? Oder 22 Erwachsene? Wenn es fünfzig Kinder getroffen hätte, aber in Afghanistan oder noch weiter weg?

Wer sich Antworten auf diese Fragen nähern will, sollte sich nicht nur im Roten Rathaus erkundigen und im Kanzleramt. Er muss möglicherweise auch von Goethe erzählen, von Jesus, vom Alten Fritz und von Sigmund Freud, der 1917 in Trauer und Melancholie so einleuchtend erklärte, warum Menschen, die nach einem Verlust nicht trauern, bald in einer Depression feststecken. Das gilt offensichtlich auch für Kollektive. Weswegen man fast alles, was man außerdem braucht, in dem Buch der Mitscherlichs Die Unfähigkeit zu trauern – Grundlagen kollektiven Verhaltens findet. Auch, dass in Zeiten kollektiv unterdrückter Trauer zuverlässig Hypermoralisierer zur Stelle sind, die ihre eigene Angst, Depression und Ich-Entleerung mit Ressentiments aufwerten und alles entwerten, was andere an Trauerarbeit versuchen: Hat da etwa jemand seine Anteilnahme, Betroffenheit und Trauer über einen Anschlag nicht hinreichend ausgestellt oder, noch viel schlimmer, durch falsche Symbole?

Das Brandenburger Tor ist dafür ein schönes Beispiel. Es war und ist eine mitfühlende, solidarische Geste, das Wahrzeichen der Hauptstadt in den Nationalfarben eines vom Terror angegriffenen Landes anzustrahlen. Spontan entstanden ist diese Geste, vielleicht auch anderswo abgeguckt, vielleicht auch nicht ganz zu Ende gedacht.

Wikipedias »Liste von Terroranschlägen« zählte im Jahr 2016 weltweit 113 Anschläge. Und für 2017 sind sie auch schon wieder bei mehr als fünfzig. Alle drei Tage hätte das Brandenburger Tor also illuminiert werden können. Oder müssen?

Also haben die Besserwisser durcheinander gerufen und getwittert: Das ist doch die Inflationierung einer Geste! Hört damit auf! Oder lasst besser – passend zur Situation auf der Erdkugel – jede Nacht blaues Strobolicht flackern! Warum überhaupt soll es Terroristen gelingen, mit ihren Irrsinnstaten die Wahrzeichen der Welt anzuknipsen?

In Paris machen sie das Licht deswegen jetzt manchmal ganz aus. La Tour Eiffel, der einen eigenen, manchmal sogar englisch sprechenden Twitter-Account hat, sagt dann: »I will turn my lights off tonight, at midnight, to pay tribute to the victims of the Kabul attack.«

Der Regierende Bürgermeister von Berlin hat es anders gelöst, so, wie faustische Deutsche es nun einmal versuchen, wenn sie alles richtig machen wollen, Gefühle haben und nicht recht weiterwissen. Michael Müller hat eine Richtlinie schreiben lassen: Wir machen das grundsätzlich nur bei Partnerstädten. Jerusalem und Orlando erklären wir rückwirkend zu Ausnahmen, weil es Orte sind, »zu denen Berlin eine besondere Beziehung hat«. Jerusalem? Weil es Jerusalem ist. Und Orlando? Weil Berlin ja praktisch auch noch LGBT-Hauptstadt ist.

Zu St. Petersburg hatte Berlin dann plötzlich keine »besondere Beziehung«. Das Brandenburger Tor wurde nicht in Weiß-Blau-Rot angestrahlt. Da gab es Streit und Ärger.

Und als in einem Londoner Hochhaus 79 Menschen verbrannten? In der Richtlinie zur »Illumination des Brandenburger Tores« steht, dass »Unglücksfälle und sonstige Ereignisse wie Jahrestage etc. pp.« grundsätzlich ausgeschlossen sind.

»Etc. pp.«? Vielleicht kann man die in der neuen Weltsituation entstehenden Trauerrituale gar nicht in juristisch formulierte Verwaltungsanordnungen fassen.

Wer vorsichtig fragt, ob der Berliner Senat denn zufrieden ist mit dieser Lösung, dem antwortet die Sprecherin etwas spitz und findig: »Bei terroristischen Anschlägen und dem Umgang mit diesen Ereignissen handelt es sich für uns nie um Situationen, in denen Zufriedenheit eine Rolle spielt.«

Ein mürbes Frage-Antwort-Spiel: Wer hat sich das mit der Illumination des Brandenburger Tores ausgedacht? »Die Zuständigkeit liegt im Verantwortungsbereich des Regierenden Bürgermeisters.« Wer organisiert das? Wie? »Es liegt im Interesse von Senatskanzlei und Dienstleister, dass bei dieser Geste jede Form der Werbung unangemessen ist. Deshalb möchte das Unternehmen in diesem Kontext nicht genannt werden.« Ob die Betroffenheitslichtanlage fest installiert ist, traut man sich gar nicht mehr zu fragen. Und Sprecherin vom Regierenden Bürgermeister Berlins möchte man auch nicht sein. Klaus Lederer von den Linken, der manchmal vergisst, dass er nicht mehr Opposition, sondern als Kultursenator jetzt selbst die Regierung von Berlin ist, schrieb in feiner links-rilkescher Selbstbezichtigungsprosa, dass dem Ganzen »ein willkürliches Moment« innewohnt, weswegen es »der beste Weg wäre, zukünftig auf die Beleuchtung des Tors ganz zu verzichten«, auch um die »Unterstellung auszuräumen, es gäbe hier eine Hierarchisierung der Opfer«.

Die Zeit fand dann, »Opferhierarchie« sei ein schlimmes Wort aus dem iPhone eines Kultursenators. Zack. Je unsicherer die Menschen sind, desto sprungbereiter ist in ihnen die Bereitschaft zur Entwertung anderer, schrieben die Mitscherlichs 1967.

Ab welchem Level von Terror und Trauer irgendwo auf der Welt sollen in Deutschland Wahrzeichen angestrahlt und Veranstaltungen abgesagt werden? Lassen wir nach? Stumpfen wir ab? Warum dekorieren längst nicht mehr so viele Menschen ihre Facebook- und Twitteraccounts mit Trauerrand oder den Trikoloren eines von einem Anschlag betroffenen Landes? Warum schreiben nur noch ganz wenige »Je suis Manchester«? Ist das gut? Oder schlecht? Muss ich mich schämen, wenn mich achtzig Tote und 300 Verletzte bei einem Anschlag in Kabul weniger berühren als die zwölf Toten und 56 Verletzten vom Breitscheidplatz, der von meiner Wohnung nur 650 Meter entfernt ist?

»Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.« Wer aber ist mein Nächster? Der Nächste, den es irgendwo auf der Welt erwischt? Nur meine Familie, meine Freunde, meine Stadt?

Vor mehr als 2000 Jahren hat schon einmal jemand diese Frage gestellt. Laut Lukas 10, Vers 25–37, hat Jesus mit einem Gleichnis geantwortet, mit der Geschichte vom barmherzigen Samariter, die zum genetischen Code unseres moralischen Unterbewusstseins gehört, auch bei Atheisten und Agnostikern. Auf dem Weg von Jerusalem nach Jericho, diesem 27 Kilometer langen, einsamen Abstieg, der heute noch für Überfälle berüchtigt ist, lauern Räuber einem Mann auf. Sie schlagen ihn zusammen, reißen ihm die Kleider vom Leib, nehmen alles, was er besitzt, und lassen ihn schwer verwundet und bewusstlos liegen. Dann kommt »irgendein Priester« – und geht vorbei. Es kommt »ein Levit«. Geht auch vorbei. Schließlich, wie es sich nach der jahrtausendealten Regel-de-tri volkstümlicher Narrative gehört, kommt »irgendein Reisender« aus Samaria. Die Samaritaner sind zur Zeit, in der diese Geschichte erzählt wird, ein von den Juden verachtetes, halbheidnisches syrisch-persisches Mischvolk. Dieser Samaritaner erkennt, was zu tun ist: Er verbindet den Mann, gibt ihm zu trinken, transportiert ihn in den nächsten Gasthof und bezahlt dort sogar die Rechnung für die folgenden Tage.

Der Trick an der Geschichte ist, dass aus der Frage »Wer ist mein Nächster, den ich lieben soll wie mich selbst?« eine ganz andere Frage geworden ist: »Wem werde ich Nächs-ter?« Diese Objekt-Subjekt-Vertauschung ist eine scharfe moralische Anforderung und das Fundament christlicher Ethik. Es ist die vorweggenommene Globalisierung von Hilfsbereitschaft und Mitleiden.

Und trauern um Menschen, die man persönlich nicht gekannt hat? Kann man das also auch?

Natürlich. Immer schon. An einem Samstag im April vor 230 Jahren wurde Goethe während seiner italienischen Reise auf dem Marktplatz von Caltanisetta von den »angesehensten Einwohnern« ausführlich nach Friedrich dem Großen gefragt. Den liebten und bewunderten die Leute auf Sizilien offenbar so sehr, dass Goethe es nicht übers Herz brachte, ihnen zu gestehen, dass der Alte Fritz gar nicht mehr lebte. Im August des Vorjahres war er in Potsdam gestorben. »Die Theilnahme an diesem großen Könige war so lebhaft, daß wir seinen Tod verhehlten, um nicht durch eine so unselige Nachricht unseren Wirthen verhaßt zu werden.«

So würde es heute nicht mehr funktionieren. Im Zeitalter der vom Internet herbeigezauberten totalen Gleichzeitigkeit erfährt es alle Welt sofort, wenn ein Großer gestorben ist oder 22 Kinder in Manchester von einer Bombe zerfetzt wurden. Für die Trauer, die dann augenblicklich und gleichzeitig weltweit einsetzt, bilden sich langsam neue Rituale. Viele Menschen gehen raus und bringen Kerzen, Blumen und ihre Tränen an den Sterbeort, vor die Botschaften oder in die Gotteshäuser. In Deutschland strömen an solchen Tagen auch Muslime, Atheisten und Nichtgetaufte in die christlichen Kirchen, auf der Suche nach Trost, Gemeinsamkeit und Ritual. Trauerfeiern sind seit Lady Di und 9/11 zu universalen, medialen Großereignissen geworden. Das Gemeinschaftserlebnis hilft gegen den vorübergehenden Verlust des Sicherheitsgefühls. Trauerrituale stärken diese Weltgemeinschaft. Facebook funktioniert dann wie ein Kondolenzbuch, Twitter wie eine gemeinsame große Todesanzeige.

Psychologen sagen, es gehe bei den neuen Formen der spontanen Massentrauer auch um die unzulänglich beweinten persönlich nahen Menschen. Um die eigene Vergänglichkeit. Um die eigene Bedeutung. Wenn ich definiere, wem ich der Nächste bin, setze ich auch mich in Szene: Ich bin traurig, also bin auch ich wichtig und gehöre dazu.

Ein Klick, ein R.I.P. und weg. Trauerarbeit kann man das nicht immer nennen. Es ist oft nur die schnelle Entlastung von unterdrück-ter oder verdrängter Trauer im eigenen Real Life. Hans Magnus Enzensberger hat diesen Prozess »Instant-Katharsis« genannt.

Im Umgang mit dem Tod hat sich vieles verändert. Es gibt einerseits viel mehr Verdrängung von Gedanken an den Tod als in anderen Zeiten, viel mehr einsames Sterben in Krankenhäusern ohne den Beistand von Verwandten und Freunden. Menschen brechen weder bei der Arbeit noch auf der Straße in Tränen aus, weil sie einen nahen Menschen verloren haben. Nicht einmal die Kleidung signalisiert wie früher, dass jemand einen Todesfall zu verarbeiten hat. Im Alltagsleben gibt es keinen Tod, keine Zeit und keinen Raum für konkrete Trauerarbeit. Die Zahl der anonymen Bestattungen und Rasenbeisetzungen steigt. Die starke medizinische, rechtliche und bürokratische Kontrolle des Sterbens hat viele Menschen un-fähig gemacht, Tod und Trauer überhaupt eigenständig zu erleben und zu verarbeiten. Andererseits gibt es keine Nachrichtensendung ohne Tode, keinen Tatort ohne Leiche.

Wie eine Gegenbewegung sind neue Orte und Ausdrucksformen für Bestattung und Trauer entstanden, jenseits der Leichenhallen, Krematorien, Friedhöfe: Es gibt Aufbahrungs- und Trauerräume in Krankenhäusern und Pflegeheimen. Es gibt digitale Gedenkseiten im Internet, die etwa »World Wide Cemetery« heißen, virtuelle Friedhöfe, auf denen man spazierengehen und Botschaften hinterlassen kann wie Steine auf realen Gräbern. Überall entstehen oft spontan erfundene Formen neuer Todeskultur, wie die Kreuze am Straßenrand nach einem Unfall. Eines Tages waren sie da, niemand weiß, wer damit angefangen hat.

Am Volkstrauertag aber trauert: niemand. Offenbar müssen auch staatliche Trauerrituale neu erfunden und ausgehandelt werden. Das, was wir immer hatten – Fahnen auf Halbmast, Trauerflor an Staatskarossen, vom Bundespräsidenten angeordnete Staatstrauer, Schweigeminute im Bundestag –, wird allmählich durch Neues ersetzt und ergänzt. Nach 9/11 beschlossen die EU-Außenminister 180 Sekunden der Stille. Es gibt Chefs, die in die Morgenkonferenz nach Anschlägen einen Gedenkmoment einbauen. Die deutsche Fußballnationalmannschaft trug schwarze Bänder am Ärmel beim Confederations Cup nach Helmut Kohls Tod. Auf dem Nato-Gipfel vereinbarten die Staats- und Regierungschefs spontan eine Schweigeminute für die Kinder von Manchester.

Für so etwas gibt es fast überall noch keine Regeln, Beschlüsse oder Richtlinien. Auch die Trauerfeier in der Gedächtniskirche nach dem Anschlag auf dem Breitscheidplatz wurde spontan organisiert; so spontan, dass Bundespräsident und Kanzlerin eingeladen wurden, die Angehörigen der Opfer nicht. Weil man nicht zu Ende gedacht hatte und weil ja noch gar nicht alle Opfer identifiziert waren.

Dann war Selbstzerknirschung und grobe Kritik in unserer von Rechthaberei beschädigten deutschen Kultur: Italien und Israel haben ihren Toten vom Breitscheidplatz großes, rituelles Geleit gegeben, mit Fernsehübertragung; in Polen kniete der Staatspräsident Duda am Sarg des ermordeten Lastwagenfahrers Lukasz Urban, ein langer Truck-Korso rollte am Tag der Beisetzung über die Autobahn – und wir? Wissen nichts über die Opfer. Interessieren uns nur für den Täter und die Ermittlungsfehler. Ist das wieder die deutsche Unfähigkeit zu trauern?

Vielleicht ist es nur die deutsche Fähigkeit zu jammern. Man hätte ja auch stolz darauf sein können, wie gut es in Deutschland gelungen ist, die Angehörigen der Opfer vor der Öffentlichkeit und den Medien so abzuschirmen, wie sie es sich gewünscht hatten – sogar, als sie dann alle gemeinsam beim Bundespräsidenten eingeladen waren.

Keine klaren Regeln, an denen man sich festhalten könnte bei der Organisation von Trauer. Auch im Kanzleramt nicht. Wie sollte so etwas auch aussehen? Opferzahlen, ab denen eine Veranstaltung abgesagt wird? Nur bei Kindern? Wie betroffen sind wir? Wie ist unsere Distanz zu dem Land, in dem etwas passiert ist?

Die Bundeskanzlerin entscheidet jeweils aus der Situation heraus, wie sie kondoliert, ob sie anruft, ein Telegramm schickt oder – in ganz schlimmen Fällen – im ersten Stock des Bundeskanzleramtes vor die Presse tritt. Ob ein Termin abgesagt wird, hängt davon ab, was geschehen ist und was für ein Termin das ist. Einen Auftritt in Trudering im Bierzelt kann man nur ganz oder gar nicht machen. Der geht nur mit Trachten, Blaskapelle und Gebirgsschützen. Das ist etwas anderes, als wenn Merkel eine Rede beim Bundesverband der Bauindustrie halten soll. Merkel und Seehofer haben am 22. Mai nach dem Anschlag in Manchester telefoniert und herausgefunden, dass sie den Bierzelt-Auftritt lieber absagen. Reine Gefühlssache also.

Die Begründungen für solche ethischen Entscheidungen werden immer schwieriger. Nicht nur, weil sie sich aus der Verankerung religiöser Kategorien gerissen haben. Sondern vor allem, weil die Bewertungs- und Entwertungssucht zu einer Hypermoral geführt hat, unter deren Kontrollblick einfach gar nichts richtig zu machen ist: In Trudering habt ihr abgesagt, aber jetzt macht ihr weiter Wahlkampf, egal was geschieht?

Es wird immer jemanden geben, der von seinem sicheren Nichts-entscheiden-dürfen-Platz am Rechner ganz und gar falsch findet, was andere machen oder nicht machen. Dabei wäre das Gegenteil klug. Man müsste lernen, es auszuhalten: Anerkennen, dass wir die neuen Trauerrituale für die Opfer des globalen Terrors erst noch finden und aushandeln müssen. Nicht alles gleich bewerten und entwerten. Neugierig sein, beweglich bleiben, Stilfreiheit und Entwicklungsfreiheit nehmen und geben. Es muss nicht alles geregelt werden. Man braucht nicht sofort eine Richtlinie oder ein Gesetz. Man darf sogar Fehler machen. Wir üben noch.

Tag und Nacht zünden die Berliner immer noch Hunderte von Kerzen an und legen Blumen auf die Stufen zur Gedächtniskirche. Wenn ich vorbeigehe, denke ich an die, die hier gestorben sind, an ihre Familien, an den polnischen Lkw-Fahrer, an die, die in der Berliner Charité weiter um ihr Leben kämpfen. Ihre Namen kenne ich nicht. Aber ich habe sie mir zu meinen Nächsten gemacht.

Foto: DPA