SZ-Magazin: Einige Südkoreaner schreiben so etwas wie Liebesbriefe an Nordkorea. Sie selbst sind aus Nordkorea geflohen und lebten bis vor Kurzem in Seoul. Haben Sie auch schon so einen Brief formuliert?
Yeonmi Park: Nein, aber ich kenne einige Menschenrechtsaktivisten, die das machen. Sie hängen Flugblätter in Südkorea an große Luftballons und warten, bis der Wind günstig steht und die Ballons nach Norden trägt. Viele Ballons schießt die nordkoreanische Armee allerdings gleich hinter der Grenze ab.
»Dass wir uns nie getroffen haben, bedeutet nicht, dass wir euch nicht lieben«, heißt es auf diesen Flugblättern. Menschenrechtsorganisationen schicken auch USB-Sticks mit amerikanischen Liebesfilmen und südkoreanischen Fernsehserien nach Nordkorea. Glauben Sie, solche Filme eignen sich als Propagandamaterial gegen die Diktatur im Norden?
Bei mir hat das gewirkt. Ich habe als Kind mit meinen Eltern in Nordkorea einige verbotene Filme gesehen. Mit sieben, acht Jahren ist man zu jung, um ernsthaft die Inhalte zu reflektieren. Aber als ich Titanic zum ersten Mal sah, verstand ich sofort, dass die Geschichte etwas Ungewöhnliches erzählt, was es in Nordkorea gar nicht gibt und was ich nie zuvor gesehen hatte: eine Liebesgeschichte zwischen zwei normalen Menschen.
Gibt es keine Liebesfilme in Nordkorea?
Nein, im Fernsehen dreht sich alles um Propaganda für das Regime und seine Führer. Liebesfilme, Romanzen, Actionfilme, Komödien – gibt es alles nicht. Auch keine Popsongs oder Liebeslieder. Vor meiner Flucht wusste ich nicht, was Jazz oder Rockmusik ist.
Titanic hat also Ihr Leben verändert?
Nicht allein der Film, aber er brachte mich immer wieder zum Weinen und war sicher einer der entscheidenden Faktoren, die 2006 den größten Einschnitt in meinem Leben zur Folge hatten: die Flucht aus Nordkorea. Da war ich 13. Titanic ist immer noch mein absoluter Lieblingsfilm.
Wer schaut sich solche Filme in Nordkorea an?
Ich schätze mal, 70 Prozent der Bevölkerung, in Grenznähe zu China nahezu hundert Prozent. Selbst Soldaten schauen sich die Filme an. Auch die reiche Elite in Pjöngjang.
Woher stammen die Filme, die Sie gesehen haben?
Die meisten werden aus China über die Grenze geschmuggelt.
Anders als Aktivisten sind Schmuggler in erster Linie an Profit interessiert, nicht an Politik.
DVDs oder USB-Sticks bringen viel Geld auf dem Schwarzmarkt. Es gibt durchaus Geld und vermögende Leute, während viele andere hungern. Wir haben die Filme auch auf dem Schwarzmarkt gekauft oder von Verwandten geliehen. Meine Mutter ermahnte meine Schwester und mich, nie unseren Freunden davon zu erzählen. Liebesfilme waren strengstens verboten. Wir zogen die Vorhänge zu oder schauten sie uns unter der Decke an.
Wie riskant ist es, sich DVDs anzuschauen?
Spezialeinheiten der Polizei durchsuchen regelmäßig die Häuser der Bevölkerung, und wenn sie Filme finden, schicken sie die Besitzer ins Arbeitslager oder machen ihnen einen Schauprozess und exekutieren sie zur Abschreckung. Andere Flüchtlinge haben berichtet, dass an einem einzigen Tag im Jahr 2013 gleich achtzig Leute hingerichtet worden sind. Und es gibt Sippenhaft in Nordkorea: Die gesamte Familie eines Kriminellen sinkt im sozialen Status, drei Generationen lang darf dann kein Familienmitglied mehr studieren.
Warum riskiert man diese Strafen?
Das Leben ist so hart. Man braucht etwas, um sich von dem Elend abzulenken. Man ist ja nicht mal neidisch, man hält es gar nicht für möglich, so zu leben wie die Leute in den amerikanischen oder südkoreanischen Serien.
Wieso hält das Regime etwas Ablenkung denn für gefährlich?
Weil die Serien auch jedem klarmachen, dass jedermann Menschenrechte und die Freiheit zu lieben besitzt. Wir dürfen nicht lieben, uns frei bewegen oder frei leben. Das Regime versagt uns diese Rechte. Natürlich interessieren sich die Leute in erster Linie für die Mode, die Auslagen in den Geschäften, den Luxus in Seoul. Aber sie entdecken dabei unweigerlich auch viele Gefühle und Sehnsüchte, die das Leben im Westen ausmachen und die uns weitgehend abgehen: Liebe, emotionale Verletzungen, Weinen. Ich wusste nicht einmal, dass ich meiner Mutter sagen könnte: Ich liebe dich. Ich habe meinen Vater nie zu meiner Mutter sagen gehört: Ich liebe dich. Überhaupt sind die Männer in südkoreanischen Filmen so höflich den Frauen gegenüber! Bei uns war es lange noch üblich, dass Männer ihre Frauen schlugen. Das hat sich etwas gebessert.
Haben Sie Ihre Eltern je beim Küssen beobachtet?
Nein, Küssen ist etwas Romantisches. Wir hatten keinen Schimmer, was Romantik bedeutet. Wir besaßen keinen Begriff für romantische Liebe. Es ist wie in 1984 von George Orwell: Wenn einem das Wort für etwas fehlt, existiert die Sache einfach nicht.
Es gibt kein Wort für Liebe im Nordkoreanischen?
Es gibt eines in der Schriftsprache, das im Alltag niemand benutzt, jedenfalls nicht für die Liebe zu seinem Geliebten, zum Freund, zur Mutter. Genauso wenig gibt es ein Wort für Depression oder Stress. Das einzige Wort für Liebe ist eines, mit dem man seine Liebe für das Regime und die Führer ausdrückt. In Nordkorea sieht man nicht, wie Menschen einander lieben und wehtun oder wie sie deprimiert sind. Man weiß nicht, dass solche Gefühle existieren, und schon gar nicht, wie man sie mitteilen könnte. Man arbeitet für die Revolution, man funktioniert – und man lebt in ständiger Furcht, verraten und ins Arbeitslager gesteckt zu werden. Erst durch verbotene Filme erfährt man, was es bedeuten kann, Mensch zu sein, wie schön ein Liebespaar aussehen kann. In meinem Leben vor den Filmen sah jeder gleich aus, und wir dachten, dass jeder gleich aussehen muss. Wir dachten, wir leben im besten Land der Welt und müssen die Welt draußen um nichts beneiden.
Hingen bei Ihnen zu Hause auch die Porträtfotos der drei Kims?
Die sind Pflicht. Wie ein Schrein, keine andere Religion praktiziert so eine absurde Heiligenverehrung: Die Porträts müssen sauber und staubfrei gehalten werden. Wenn Kims Foto in der Zeitung erschienen ist, darf ich die Zeitung nicht so hinlegen, dass sein Foto verdeckt wird. Wenn das Haus abbrennt, bringt der Vater als Erstes die Porträts in Sicherheit, noch vor Frau und Kindern.
Haben Sie Kim Jong-un je persönlich gesehen?
Wo denken Sie hin! Kim ist das Zentrum des Universums und zeigt sich normalen Menschen nicht.
Wie heiratet man in Nordkorea?
Wir haben arrangierte Ehen: Die Eltern suchen die Partner für ihre Kinder aus. Einmal habe ich meine Mutter gefragt, warum sie meinen Vater geheiratet habe. Ihre Antwort lautete: Mir genügte, dass ich ihn nicht gehasst habe. Sie hielten sich vor der Hochzeit einige Male bei der Hand, aber meine Mutter wusste nichts davon, dass man mit jemanden ausgehen könnte, sie hatte nie von einer Romanze gehört. Heute hat sich das etwas verändert: Die Leute achten darauf, jemanden zu heiraten, den sie auch gern mögen. Aber immer noch spricht bei einer Hochzeit niemand von Liebe. Niemand sagt: Ich liebe dich. Wir kennen das mittlerweile alle aus den verbotenen Filmen, aber es klingt noch zu ungewohnt.
Ist Nordkorea eine sehr konservative Gesellschaft?
Ja, aber vor allem ist es in Nordkorea verboten, Mensch zu sein, man ist Revolutionär. Man trägt Uniform, die Frauen haben alle kurze Haare. Ich wusste nicht einmal, dass ich Kind war. Jeder arbeitet, es macht keinen Unterschied, wie alt man ist. Jeder kämpft für die Revolution und gegen den amerikanischen Bastard. Man lebt dort in einem anderen Universum, ohne jeglichen gesunden Menschenverstand. Noch so ein Wort, das es dort nicht gibt.
Darf man sich scheiden lassen?
Theoretisch ist das möglich, aber es ist sehr schwierig, und man braucht triftige Gründe. Oder viel Geld, die Korruption blüht. Eine Scheidung schmälert auch berufliche Aufstiegsmöglichkeiten.
Gibt es Homosexualität?
Nie davon gehört. Heute denke ich mir natürlich, dass es auch Schwule gegeben haben könnte und immer noch gibt. Aber Homosexualität gehört zu den vielen Dingen, die ich erst durch Filme und später im Ausland kennengelernt habe.
Sind Liebesfilme mächtiger als einfache Propaganda?
Auf lange Sicht ganz sicher. Bevor ich die Serien sah, war ich richtig psychotisch gewesen durch die viele Gehirnwäsche, ich glaubte, das Regime könne meine Gedanken lesen, und Kim Jong-il sei Gott. Die Serien haben den Glauben an das Regime nicht gleich umgeworfen, aber allmählich ins Wanken gebracht und mich ganz langsam verändert. Die Menschen vertrauen Spielfilmen auch mehr als jeder Propaganda. Popkultur ist so stark, weil sie eine tiefe Sehnsucht nach Spaß und Unterhaltung befriedigt. Langfristig wird sich Nordkorea diesem Einfluss kaum entziehen können.
Als Sie mit 13 Jahren gemeinsam mit Ihrer Mutter nach China flohen, wurden Sie mehrfach vergewaltigt und von Menschenhändlern verkauft, bis sie nach zwei Jahren schließlich nach Südkorea gelangten. Nach all dem, was Männer Ihnen angetan haben: Können Sie sich noch verlieben?
Ich hatte lange Zeit Schwierigkeiten, Vertrauen zu Männern zu fassen, aber jetzt bin ich verliebt und habe einen wunderbaren Freund, einen Amerikaner. Viele Flüchtlinge bleiben traumatisiert. Ich sehe auch das Positive meines Weges und bin sogar für all das dankbar, was ich in Nordkorea und China erlitten habe, denn ohne diese Dinge wäre ich nicht hier, sondern hätte wahrscheinlich jetzt drei hungernde Kinder in Nordkorea.
In Südkorea sind Sie recht bekannt. Sie waren drei Jahre lang jede Woche in einer Unterhaltungsshow zu Gast.
Ich sollte erzählen, wie der Alltag in Nordkorea aussieht.
Wurden Sie als prominenter Flüchtling je von Nordkorea bedroht?
Alle Überläufer, die in Seoul leben, werden bedroht, und es gibt eine Reihe nordkoreanischer Agenten, die im Süden unterwegs sind. Eine Freundin hat ein Attentat überlebt und wird nun von drei Leibwächtern begleitet. Ich weiß nicht, ob ich auch auf einer Todesliste stehe. Aber als ich letztes Jahr ein Buch über meine Flucht schrieb, tauchten auf Youtube zwei Videos auf, die mich als bezahltes Propagandapüppchen des Westens und Lügnerin desavouieren, die bestraft gehöre. Auch meine Tante und mein Onkel wurden vor die Kamera gezerrt, um zu bezeugen, wie schlimm ich sei und dass ich lüge.
Diese Videos sind auf Englisch. Warum?
Sie sind für die Leute im Ausland gedreht, die immer noch glauben, Nordkorea sei eigentlich ein großartiges Land. Die sollen beruhigt werden.
Sehen Sie noch viele Filme oder Serien?
Die Fernsehserie Friends habe ich mir 2014 jeden Tag angesehen, um schnell Englisch zu lernen. Jetzt habe ich keine Zeit mehr. Seit Januar studiere ich Kulturwissenschaften an der Columbia Universität in New York und muss viel lesen.