»Entschleunigung«?

Wer braucht alberne Modewörter, wenn er das Original haben kann? Eine Herbstreise ins Tessin bremst schöner als jeder »Wellness-Trip« (und es gibt mehr zu essen.)

Im italienischen Teil der Schweiz spiegelt sich das Land im Kleinformat: Das Tessin ist kontrastreich, widersprüchlich, reizvoll – und mit Klischees beladen. Versuch einer Entflechtung.

Eine Umfrage im Zürcher Freundeskreis ergibt folgende Stichworte zum Tessin: Autobahn, Stau, Deutsche, Holländer, Sonne, Merlot, Grotto, Mario Botta, Rentner, Geldwäsche, Lugano, Kastanienwälder, Ascona, Bellinzona, Provinz, Lago Maggiore, Alberto Giacometti, Wandern, Locarno, Filmfestival, Brissago-Zigarren, Verzasca-Tal, Otto Luttrop.

Das Erstaunliche an dieser Aufzählung, die beliebig lang fortgeführt werden könnte: »Herbst« fällt als Stichwort nie. Tessin bedeutet Sommer, Ferien, vielleicht Frühling. Dabei wäre jetzt die beste Jahreszeit, um einen Abstecher in die südliche Schweiz zu wagen. Die Hinreise würde sich äußerst angenehm gestalten, der Flaschenhals am Fuße des Gotthardmassivs ist diesseits leer, der Weinkeller jenseits voll. Allein die Vorstellung, den Boccalino zu heben, ohne den Ellbogen beim Tischnachbarn anzuschlagen, wäre eine Reise wert in den Kanton, der wie kein anderer die Schweiz in ihrer Vielfältigkeit und Widersprüchlichkeit widerspiegelt.

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Die Staubwolke auf den touristischen Trampelpfaden hat sich in dieser Jahreszeit gelegt, der Blick ist frei auf das genuine, authentische Tessin. Entschleunigung: eine Wortschöpfung, die für eine Lebenseinstellung steht, die im Tessin jeder schon kannte, bevor das Wort entstanden ist. Nicht zu verwechseln mit Dolce Vita. Kein Frönen, sondern harte Arbeit, aber mit einer lateinischen Leichtigkeit, die den Deutschschweizern abgeht. Auch darum zieht es besonders viele auf die Südseite des Gotthards. Ein bisschen Italianità, aber in helvetische Normen gegossen. Um Mitternacht ist auch im Grotto Feierabend, nachts stehen die Autos auf perfekt markierten Parkfeldern – ebenso perfekt geparkt. Man könnte das Auto offen lassen, am Morgen würde man es vielleicht sogar wiederfinden. Nicht nur ein Klischee, von denen es viele gibt in der »Sonnenstube« der Schweiz. Es regnet auch im Tessin, doch die Tropfen fallen, wo es schöner ist als sonstwo.

Erst 1803 schloss sich das Tessin der Eidgenossenschaft an, über 500 Jahre nach dem Rütlischwur, der gemäß Gründungsmythos den Anfang darstellt mit dem Bundesbrief von 1291. Der Regierungssitz des Kantons befand sich einmal in Lugano, dann in Bellinzona oder in Locarno, alle sechs Jahre übernahm einer der drei Hauptorte die Macht, eine Eigenheit der Tessiner, aber typisch schweizerisch. Niemand sollte aufbegehren können, primus inter pares, so wie der Bundespräsident der Eidgenossenschaft noch heute. Ein Anachronismus, mit dem die Schweizer – und die Tessiner im Speziellen – sehr gut leben können. Die Bevölkerung reagiert allergisch auf Vögte, auf fremde ebenso wie auf einheimische, die allzu lang auf dem Pferde sitzen. Ob Habsburger, EU-Kommissare oder Berner Regierungspolitiker – das Tessin war und ist hartes Brot für alle, die den Ehrgeiz haben, die Provinz zu domestizieren.

So selbstbewusst und stolz die Tessiner sind – sie haben einen Hang, sich selber kleinzumachen. Minderwertigkeitskomplexe gegenüber der finanzstarken Deutschschweiz, Abwehrhaltung gegen das laute Italien, Misstrauen gegenüber bierseligen Reisebussen. Alles im Ansatz da, aber mit Maß. Das Tessin ist das Gegenprogramm zu Ballermann auf Mallorca und zur Zürcher Clubszene. »Swissminiatur« heißt das Freilichtmuseum in Lugano, eine Schweiz im Kleinformat. Dasselbe gilt für das Tessin: Nirgends ist die Schweiz kompakter und übersichtlicher als hier. Und äußerst reizvoll. Es ist nicht nur schlecht, wenn der Gotthardstraßentunnel, das Nadelöhr ins Tessin, ein Nadelöhr bleibt. Der Espresso an der Seepromenade in Lugano ist ein Espresso, die Pasta al dente ist eine Pasta al dente. Wäre ein Anfang, anderswo.

Als der Berliner Marcus Gaab, 40, ins Tessin reiste, war er sich sicher, dass sich nie zuvor ein anderer Fotograf in diese einsame Landschaft verirrt hatte – bis er im Restaurant »La Froda« in Foroglio-Cavergno Fotos von Leni Riefenstahl entdeckte, die hier ihren FilmDas blaue Leuchten gedreht hat.

Sollten wir Sie dazu bewegt haben, Ihren nächsten Urlaub im Tessin zu verbringen, hier ein paar Tipps für schöne Hotels:

Villa Principe Leopoldo Hotel & Spa,
Via Montalbano 5, 6900 Lugano. 75 luxuriöse Zimmer und Suiten, 3 Restaurants, 2 Bars, Terrasse mit Blick über den Lago di Lugano, Park. DZ ab 440 Euro (Garten), ab 650 Euro (Seeblick), Tel. 0041/(0)91/985 88 55,
www.leopoldohotel.com

Hotel Eden Roc
Via Albarelle 16, 6612 Ascona. »Gault Millau Hotel des Jahres 2010« mit eigenem Badestrand am Lago Maggiore, EZ ab 185 Euro, DZ ab 330 Euro, mit Seeblick ab 490 Euro, Tel. 0041/(0)91/785 71 71, www.edenroc.ch

Casa Santo Stefano
Via della Chiesa, 6986 Miglieglia (16 km von Lugano, 700 ü. M.). Stilvoll renovierte Tessinerhäuser aus dem 18. Jahrhundert, Familienbetrieb, Ausgangspunkt für Wanderungen. DZ ab 100 Euro, Tel. 0041/(0)91/609 19 35,
www.casa-santo-stefano.ch

Hotel Lido Seegarten
Viale Castagnola 24, 6900 Lugano. Direkt am See, mit Pool und Schwimminsel, großer Restaurantterrasse, von der Besitzerfamilie geführt. DZ mit Seeblick ab 270 Euro, Tel. 0041/ (0)91/973 63 63,
www.hotellido-lugano.com

Hotel Ristorante Al Cacciatore
Piazzetta, 6562 Soazza. Idyllisches Dorf, 300 Einwohner. Historisches Gebäude, DZ ab 180 Euro, exquisite Küche, feines Kulturangebot, romantisches Ambiente, Tel. 0041/(0)91/ 831 18 20,
www.hotel-cacciatore.com

Fotos: Marcus Gaab