Kevin Farleys Arm steckt bis zum Ellenbogen im grau-gelben Gärschlamm; es riecht ein wenig streng und alkoholisch. Er wühlt und schwitzt und verzieht das Gesicht, dann endlich, mit einem Ruck, zieht er die Distelwurzel heraus. Er riecht an ihr, reibt sie, kostet vorsichtig – und ist begeistert. Vor 18 Monaten hat er die Wurzel in vergorene Reiskleie gepackt, damals schmeckte sie langweilig bis ungenießbar. Jetzt aber ist sie richtig gut geworden, sagt er. Gemeinsam mit seiner Frau Alex Hozven betreibt Farley den Cultured Pickle Shop in Berkeley, Kalifornien.
Die beiden zelebrieren hier die hohe Kunst des kontrollierten Verfalls. Wenn man Kevin Farley fragt, was er genau macht, umschreibt er seine Arbeit gern als »Mikrofarming«: Statt Rinder oder Schweine hält das Ehepaar Mikroorganismen. Mehr als 200 Ökosysteme bewirtschaften sie in ihrem Laden, von der gemeinen Milchsäurebakterien-Kultur bis hin zum komplexen Mischsystem aus Bakterien, Hefen und Schimmelpilzen.
Wie andere Farmer auch gehen sie täglich bereits gegen vier, halb fünf in den Stall, der bei ihnen »the Cave«, die Höhle, heißt, um sich um ihre Schützlinge zu kümmern. In Gläsern und Druckbehältern blubbert, gärt und schimmelt es hier, die Kulturen wollen gefüttert, belüftet und gepflegt werden. Hozven und Farley schöpfen gelbe, braune, rote Flüssigkeiten ab, sie öffnen Druckventile und ziehen ihre Ernte schmatzend aus Töpfen voll braunem, grauem oder gelbem Brei.
Das Geschäft selbst sieht aus wie ein besserer Hobbykeller, mit Arbeitstischen aus Holz, Messern, ein paar Regalen und einem Kühlraum. Der Name Pickle Shop hat schon viele Kunden verleitet, in dem Laden bloß saure Gurken zu vermuten – doch damit wird man der Arbeit von Alex Hozven und Kevin Farley nicht gerecht.
»Man kann alles fermentieren, was auch roh gut schmeckt«, sagt Hozven. Soll heißen: Kartoffeln, eher nein, Austern oder Thunfisch, kein Problem. »Es geht darum zu spielen, verrückt zu sein und Grenzen zu verschieben«, meint Farley. »Wenn du einmal angefangen hast, entdeckst du eine völlig neue Welt.«
Das Ehepaar lässt seine Mikororganismen auf so ziemlich allem wuchern, was Kaliforniens üppige Flora und Fauna hergibt: von Karotten und Spargel über grüne Erdbeeren bis hin zu Seeigel-Eiern und Jakobsmuscheln. Für das Gourmet-Restaurant »Elements« vergären sie derzeit die Muscheln in speziellen Bakterienkulturen, anschließend sollen sie dehydriert und mit Erdbeer-Kimchi serviert werden. Im »Meadowood«, einem von zwei Drei-Sterne- Restaurants in Kalifornien, wird mit ihren fermentierten Limetten gekocht, Joshua Skenes, neuer Kochsuperstar aus San Francisco, will gegorenen Fisch von ihnen für sein Restaurant »Saison«. Und Bi-Rite, der derzeit vielleicht schickste Gourmet-Shop der Westküste, hat ihre Kreationen im Angebot. Wie das alles begonnen hat? Mit Sauerkraut. Als Alex Hozven mit ihrem
ersten Sohn schwanger war, verspürte sie plötzlich Lust auf Vergorenes. Im nächsten Health Store fand sie Sauerkraut. Sie kaufte, aß und dachte: »Das kann ich besser.«
»Am Anfang haben mich die meisten für verrückt gehalten«, sagt sie. Die ersten Jahre hielt sie sich dank Veganern, Rohköstlern und anderen Menschen mit besonderen Essgewohnheiten finanziell über Wasser. Langsam aber kamen immer mehr Kunden. So viele, dass Kevin Farley bald seinen Job in einem Baumarkt schmiss, um ebenfalls Kraut zu hobeln. Heute haben die beiden zehn Sauerkraut-Sorten im Programm, vom Vintage Kraut mit Salz, Apfel und Kümmel, bis zum Sea Kraut mit Meeresalgen. Weil das Geschäft lief und der Gusto auf Fermentiertes stieg, fingen sie an zu experimentieren.
Vergangenes Jahr packte Farley Thunfisch und Seebarsch für 160 Tage in eines seiner Mikrosysteme – das Ergebnis erinnerte an Rohschinken und war seiner Meinung nach umwerfend. Seeigel-Eier, frisch ein aromaintensives Erlebnis für Fans, verlieren nach einem Tag in der richtigen bakteriellen Umgebung ihre Schärfe, sie werden fester und fast lieblich-fischig im Geschmack. Kevin Farleys große Liebe aber gilt weniger dem Fleisch als dem Gemüse. »Ich werde es nie verstehen«, sagt er. »Wenn du eine Wurzel 18 Monate fermentieren lässt und ein großartiges Produkt erzielst, dann beeindruckt das kaum jemanden. Aber lass irgendein Tier 24 Stunden reifen und die Leute fangen an, vor Aufregung zu kreischen.« Von seinen gereiften Jalapeños, eine Art Paprika, etwa kann er stundenlang schwärmen, von dem komplexen Geschmack, den sie nach 15 Monaten entwickeln. Oder der Knoblauch, den er vor mehr als einem Jahr eingelegt hat, und der heute fast schwarz ist, dafür aber mild, tief und leicht alkoholisch schmeckt. 18 Monate lang wusste er nicht, ob der Versuch gelingen würde, erst dann war klar, dass es geklappt hat. »Oft haut es nicht hin«, sagt er, »dann musst du wieder über ein Jahr warten, um zu wissen, ob du es diesmal richtig gemacht hast.«
Hefen, Schimmelpilze und Milchsäurebakterien.
Wer jemals trocken gereiftes Rindfleisch gegessen hat, der weiß um die Freuden Bescheid, die Mikroorganismen, auf Essen losgelassen, bescheren können. Doch während Fleischreifung inzwischen fast überall zum guten Ton gehört, ist es bei anderen Produkten noch weit weniger üblich, sie kontrolliert vergammeln zu lassen. Fast wöchentlich pilgern daher Köche aus dem ganzen Land zum Lernen hierher, und auch Michael Pollan, einer von Amerikas berühmtesten Kulinarik-Journalisten, kam zwei Tage zur Recherche vorbei.
Ersonnen wurde das Fermentieren als clevere Methode, um Essen zu konservieren: Wenn man schon nicht verhindern kann, dass Pilze, Bakterien und Hefen unser Essen besiedeln, dann macht man sich diesen Prozess lieber zunutze – und unterstützt erwünschte Mikroorganismen, während man den anderen das Leben möglichst schwer macht. Ein Nebeneffekt aber ist die unglaubliche Verwandlung des Geschmacks, den das Reifen bietet. Bakterien und andere Agenten des Verfalls erzeugen Aromen, die ohne sie unmöglich zu bekommen und mit nichts anderem zu vergleichen sind.
Alex Hozven und Kevin Farley arbeiten mit mehreren Methoden, besonders angetan haben es ihnen jene aus dem Fernen Osten: Die Fermentierung in Miso, einer Paste aus vergorenen Sojabohnen; die Fermentierung in Kasu, einem Abfallprodukt der Reiswein-Produktion. Und, die Königsdisziplin, die Fermentierung in Nuka, einer zum Leben erweckten Reiskleie.
Nuka ist die größte aller Verwandlungskünstlerinnen, weil in ihr nicht, wie bei der gemeinen Milchsäurevergärung, nur eine Art von Organismen am Werk sind, sondern drei: Hefen, Schimmelpilze und Milchsäurebakterien. Die Kleie wird erst acht Wochen lang täglich mit Gemüseresten und Schalen vermischt, die am nächsten Tag entfernt und durch frische ersetzt werden. So wird der Brei mit Mikroorganismen besiedelt, ohne zu sauer zu werden. Tägliches Umrühren versorgt die Kulturen mit Sauerstoff. Schön langsam entsteht so eine körnige Masse, in der so ziemlich alles fermentiert werden kann. Gutes Nuka enthält so viele Organismen, dass sich etwa eine Karotte nach nur zwei Tagen darin geschmacklich völlig verändert. In Japan wird die Paste seit Jahrhunderten traditionell für Gemüse verwendet – bei Hozven und Farley landen neben Kürbissen, Knoblauch und Rüben auch allerlei Meeresgetier darin. Wie Sauerteig wird die Kleie mit dem Alter besser, in Japan wird sie mitunter von Generation zu Generation weitervererbt. Die von Farley und Hozven ist derzeit vier Jahre alt – eines Tages sollen ihre beiden Söhne sie bekommen.
Trotz ihrer Kunden aus der Hochgastronomie stoßen die Kreationen der beiden noch auf Widerstände: »Die Menschen sind es gewohnt, nur tote Dinge zu essen«, sagt Alex Hozven, »unsere Produkte aber leben. Sie werden nie schlecht, sie werden nur anders. Die Menschen verunsichert es aber, wenn etwas kein Haltbarkeitsdatum hat.« Andere Kunden wieder würden Fermentiertes aufgrund der Bakterienkulturen für Medizin halten: »Sie fragen dann, wie viele Dosen Sauerkraut ein Glas enthält.«
Eine gewisse Beschränkung der Nachfrage ist Alex Hozven und Kevin Farley aber durchaus recht: Weil viele Produkte Monate brauchen, bis sie fertig sind, ist es schwierig, die Produktion spontan auszuweiten, die Farm zu vergrößern würde eine Menge Geld kosten. Derzeit überlegen sie sogar, ihren Betrieb eher wieder zu verkleinern. »Ich brauche meine Produkte nicht in allzu vielen Händen«, sagt Kevin Farley, »wir haben so schon genug zu tun.« Auch Kleinvieh macht schließlich Mist.
Das Rezept für »Sea Kraut«
»Sea Kraut«
Etwa zwei Kilo Kraut, idealerweise auf einer Mandoline oder einem Hobel dünn geschnitten
Ein etwa zehn Zentimeter langes Stück junger Klettenwurzel, ebenso dünn geschnitten
Eine kleine gelbe Beete (Ciochia Rübe), wieder einmal dünn geschnitten
Etwa 30 Gramm (ein Viertel Cup, also etwa 60-70 Milliliter)
getrocknete Arame oder Hijiki Algen
36 Gramm Salz (zwei Tablespoons feines Salz)
Mischen Sie alle Zutaten in einer großen Schüssel sehr gut durch und kneten Sie das Kraut ein wenig, so, als würden Sie es massieren wollen. Lassen Sie sie etwa zwei Stunden rasten. Das Salz sollte in der Zeit genug Flüssigkeit aus dem Gemüse ziehen, um es damit bedecken zu können. Kippen Sie Gemüse und Flüssiigkeit in einen sehr sauberen Keramikkrug und stellen Sie einen Teller auf das Kraut, der möglichst genau in den Krug passt. Füllen Sie einen Liter Wasser in einen anderen Krug oder eine PLastiktüte und beschweren Sie damit den Teller. Das sollte dafür sorgen, dass das Kraut in die Flüssigkeit gedrückt wird. Das Ziel ist, dass das Kraut komplett mit mindestens einem Zentimeter Flüssigkeit bedeckt ist und nicht mit Sauerstoff in Kontakt kommt. Sollte die Flüssigkeit, die das Salz aus dem Kraut gezogen hat, nicht reichen, gießen Sie das Kraut mit einer zweiprozentigen Salzlösung auf (20 Gramm Salz mit einem Liter Wasser mischen, aufkochen, abkühlen lassen, fertig). Bedecken Sie Ihren Tonkrug, etwa mit einem Tuch (nicht luftdicht!), und stellen ihn an einen kühlen (etwa 18 Grad Celcius) Ort. Lassen Sie das Kraut etwa sechs Wochen fermentieren und kosten es. Je nach Geschmack kann es weiter vergoren oder in saubere Gläser gefüllt und im Kühlschrank gelagert werden.Es werden keine Kulturen zugesetzt, sondern auf jene vertraut, die in der Luft und auf dem Kraut ohnehin vorhanden sind. Das gibt dem Kraut sein jeweils sehr lokales "Terroir", also einen Geschmack, der durch den Ort geprägt ist, an dem es fermentiert wurde.
Fotos: Mathew Scott