Zappen beruhigt. Ich kenne kein schnelleres Heilmittel gegen Desorientierung und Verlorenheit als das Schalten durch die Kanäle. Nach einem zerfahrenen Tag zurück in die Wohnung kommen, nach dem Einchecken im gesichtslosen Geschäftshotel einer unbekannten Stadt: Wie oft schon hat mir das Fernsehen die Gewissheit zurückgegeben, in der Welt zu sein. Das Blau hinter dem Tagesschau-Sprecher. Das Konservenlachen der Sitcom mit dem Sofa in der Mitte. Die zu laut eingestellte Werbung auf RTL. Der kritische Blick des Fernsehkochs über die Teller. Die Naturaufnahmen der Regionalsender. Alles ist noch da, an seiner richtigen Stelle, ein zuverlässiger Eichpunkt der Wirklichkeit. Das versprengte Muster der Snooker-Kugeln. Die Simpsons. Die Großaufnahmen der Hände im Juwelierkanal. Columbo. Weiter hinten der Senderramsch, der Bildschirm verstellt von Schriftzügen und Tickern. Ganz am Ende Arte, eine gewichtige Schwelle, an der ich kehrtmache wie ein Schwimmer am Beckenrand.
Die Geborgenheit, die das Fernsehen geben kann, stellt sich unabhängig von bestimmten Programmen oder Sendungen ein. Die Tätigkeit selbst, ihr Rhythmus, ist wichtiger als der Inhalt des Gezeigten. Fernsehen lernen heißt zappen lernen, auch wenn ein Heer an Kulturkritikern in den Achtziger- und Neunzigerjahren das Gegenteil behauptet hat. Als sich in Deutschland die Anzahl der Kanäle durch das Privatfernsehen vervielfachte, identifizierte man das Zappen bekanntlich als Symptom eines kulturellen Verfalls. In dem ohnehin zweifelhaften Medium erschien es noch einmal als gefährlichster Zugang: Das schnelle Umschalten, hieß es, raube die Konzentration auf das Dauerhafte, treibe das Gift der »Zerstreuung« in die Köpfe. Im Verhältnis zu den raschen Szenenfolgen wurde die Position des Zuschauers stets als passiv und riskant wahrgenommen: Die Bilder drohten ihn zu »überfluten«, in seiner Menschlichkeit zu zerstören. Der Fernsehkonsum sollte daher gebändigt werden, auf einzelne Sendungen beschränkt, um die verheerenden Schleusen nicht bedingungslos zu öffnen.
Heute haben die Medienpädagogen mit neuen Krisenschauplätzen im Internet zu tun, und im Rückblick auf die Hochzeit des Fernsehens stellt sich etwas ganz anderes heraus: Das Zappen, 20 Jahre lang mit aller Macht bekämpft, wird als spezifisches Merkmal dieses Mediums in Erinnerung bleiben. Am Anfang war das Fernsehen »Heimkino« auf einem einzigen Kanal, gegenwärtig verwandelt es sich in eine Online-»Mediathek«. Kino und Internet aber sind Archive, deren Bestände dauerhaft verfügbar und zu beliebigen Zeiten abrufbar sind. Nur das klassische Fernsehen ist reine Gegenwart; bis in die Siebzigerjahre hinein wurde kaum eine live ausgestrahlte Sendung gespeichert, nach ihrem einmaligen Aufscheinen verschwanden die Bilder für alle Zeiten im Vergessen. Fernsehen: eine Feier des Simultanen, auf 7, 32 oder 108 Kanälen, und die ureigene Art, diese Feier zu begehen, ist der ständige Einsatz der Fernbedienung.
Wenn Freunde oder Arbeitskollegen über das Fernsehen reden, dominieren inzwischen die stolzen Nachrichten von seiner Abschaffung. Wer etwas auf sich hält, sieht nicht mehr fern, und die Lücke in der Wohnzimmereinrichtung hat es zu einem Statussymbol gebracht wie früher die kostbare Truhe selbst. Das DVD-Serien schauende Paar – das aufgeklappte Apple-Notebook am Fußende des Bettes - ist das Emblem unserer Zeit; Menschen unter 30 wiederum reagieren verblüfft, wenn sie hören, dass sich einer beim Fernsehen noch von vorgegebenen Ausstrahlungsterminen leiten lässt. Das Zappen wirkt angesichts dieser Umstellungen wie eine aussterbende Kulturtechnik – was schon daran erkennbar ist, dass man vor dem Computer keine Fernbedienung mehr benötigt. Der Abstand von Konsument und TV-Empfänger, jahrzehntelang durch die Achse zwischen Couchgarnitur und Apparat vorgegeben, ist geschrumpft. Beim Fernsehen liegt das Laptop vielleicht nicht auf dem »Schoß«, wie sein Name besagt, aber höchstens einen halben Meter entfernt.
Überflüssig wird die klassische Fernbedienung aber auch deshalb, weil mit dem Klicken durch die Mediatheken oder die DVD-Serien genau das wegfällt, was das Fernsehen ausgemacht hat: die ungespeicherte Gleichzeitigkeit des Angebots. Die Frequenz des Zappens stieg ja immer mit dem Verdacht, dass auf einem anderen Sender gerade etwas noch Interessanteres, Lustigeres, Berührenderes laufen könnte, dass ein entscheidender Moment der Fernsehgeschichte ein für alle Mal verloren ginge, wenn man ihn nicht jetzt sofort erhaschen würde. In diesem Bemühen liegt auch das Aktive und Schöpferische des Zappens: eine Fähigkeit, die das Beharren auf der Unmündigkeit der Couch-Potatoes immer ausgeblendet hat.
Das Glück des Fernsehens besteht also in der Konfrontation zweier Dramaturgien: zwischen der vorgegebenen der einzelnen Sendungen und der selbstständigen des Zuschauers. Ich werde zwar durch die Programmschienen geführt, kann aber mit den Tasten meiner Fernbedienung jederzeit eine Entgleisung provozieren und mich querfeldein weiterbewegen. Genau diese Reibung an den Gegebenheiten wird mit dem Übergang des Fernsehens ins Internet enden, weil der Zuschauer nun vollkommen emanzipiert ist von örtlichen und zeitlichen Vorgaben. Er kann jede Sendung zur beliebigen Stunde ansehen, überall auf der Welt. Dieses Höchstmaß an Freiheit gilt allgemein als wünschenswert. Aber beraubt die völlige Personalisierung der Programmauswahl den Zuschauer nicht jener Dynamik, die der Kampf gegen das Gegebene gerade hervorgebracht hat? Die Kunst des Zappens ist aus diesem Kampf erwachsen. Sie begann mit dem Überbrücken von Werbepausen in der Frühzeit des Privatfernsehens, das etwa mein Vater, ein Virtuose der Fernbedienung, so traumwandlerisch beherrschte, dass er jedesmal in der Sekunde der Fortsetzung wieder auf dem ursprünglichen Kanal landete. Und sie ist für manche Zuschauer zur einzig gültigen Art geworden, den Fernseher zu nutzen. In absehbarer Zeit wird das Zappen verschwunden sein. Vielleicht verwandelt sich die jahrzehntelang verdammte Technik schon bald in einen Gegenstand nostalgischer Verklärung.
Fotos: Mierswa-Kluska