Lila Pause

Ein winziges Insekt lässt in der französischen Provence den Lavendel verdorren. Viele Bauern haben schon aufgegeben - ein einfallsreicher Wissenschaftler aber noch lange nicht. 

Der Lavendel blüht von Juni bis August. Er gehört einfach zur Provence - genau wie sein ärgster Feind.

Insekten-Gesicht in Nahaufnahme: die Augen beinahe bildschirmfüllend schwarz, dazwischen ein zierlicher Rüssel, der sich hektisch über ein Blatt tastet. Der Rüssel hält inne und – zack – bohrt sich ins Grüne. »Haben Sie gesehen? Da hat es zugestochen.« Eric Chaisse drückt den Pauseknopf und lässt das Filmchen wieder von vorn beginnen. Ein Problem in Dauerschleife. Das Problem heißt Hyalesthes obsoletus: Winden-Glasflügelzikade. Ausgerechnet! Denn die Zikade liebt hier in der Provence eigentlich jeder. Sie dominiert den Souvenir-Nippes von Kühlschrankmagnet über Handseife, Töpferfigur bis Kuscheltier. Die Glasflügelzikade hingegen frisst die Landschaft kahl.

Die französische Provence: Das bedeutet Grillenzirpen, Van-Gogh-Sonnenblumen und Lavendelfelder. Wenn die Glasflügelzikade so weitermacht, sind bald nur noch die Grillen und die Sonnenblumen übrig. Einige der stecknadelgroßen Insekten sind mit Phytoplasma-Bakterien infiziert. Sie werden von Tier zu Pflanze und dann zum nächsten Tier übertragen. Die Population der erkrankten Insekten wächst. Zwischen 2005 und 2009 ist die Hälfte der Lavendelpflanzen in der Provence eingegangen: Statt zu blühen, wurden die Pflanzen gelb und vertrockneten. »Die Situation des Lavendels ist sehr fragil. In zehn Jahren könnten wir hier keine Felder mehr haben«, sagt Eric Chaisse. Er ist der Mann, der das verhindern soll.

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Als eine Mischung aus Baumschule und Forschungslabor liegt sein Institut Crieppam in Manosque, eine Stunde landeinwärts von Marseille, mitten in der Provence. Hier versuchen Biologen und Agrarwissenschaftler herauszufinden, wie man die kranken Insekten loswerden könnte, ohne die Pflanzen zu schädigen.

In Gewächshäusern stehen Lavendelsetzlinge akkurat aufgereiht. Weil der Kampf gegen die Insekten schleppend läuft, setzen der Agrarwissenschaftler Chaisse und sein Team an der anderen Seite an: Sie lassen die erkrankten Pflanzen sofort gegen gesunde tauschen, sodass die Ansteckung eingedämmt wird. Damit die Bauern bei dem Aufwand mitmachen, kosten die Setzlinge zehn bis dreißig Cent. Eine ausgewachsene Pflanze kostet sonst fünf Euro.

In einem Flachbau mit Blechdach, der neben den Gewächshäusern steht, schwimmen die Problemtiere in Fläschchen in Alkohol. Glasflügelzikaden, gefangen im vorigen Sommer. Eric Chaisse nimmt eine Plastikröhre aus einem Regal. Sie ist mit Klebeband umwickelt. Zwischen Tausenden schwarzer Insektenleichen lässt sich erahnen, dass das Band einmal gelb gewesen sein muss. Für vier Stunden hatte Chaisse die Klebefalle ins Lavendelfeld gestellt. Chaisse hebt hilflos die Schultern: »Zurzeit sind die Tiere im Larvenstadium, wir werden erst im Sommer wissen, ob wir das Problem langsam in den Griff bekommen – oder ob die Tiere wieder ganze Felder befallen.«

1100 Tonnen ätherisches Lavendelöl werden in der Provence jährlich produziert. Hunderte Familien leben seit Generationen vom Lavendelanbau. Südfrankreich ist der weltweit größte Produzent von Lavandin und, nach Bulgarien, der zweitgrößte Produzent von Lavendel. Lavandin? Sieht für den Laien genauso aus wie Lavendel und wird seit den Fünfzigerjahren als robuste Alternative zum echten Lavendel gezüchtet. Auf 5000 Hektar Lavendelfelder kommen in der Provence dreimal so viele Lavandinfelder. Der Lavendel ist schwieriger zu destillieren, der Lavandin wirft fünfmal mehr Öl pro Pflanze ab, riecht aber etwas strenger. Den echten Lavendel braucht die Kosmetik- und Parfümindustrie. Mit ihm wurde Grasse in Südfrankreich zur Parfümhauptstadt. Der Lavandin kommt in Waschmittel, Seifen, Duftkissen. Als die Glasflügelzikade in den Achtzigerjahren begann, die Krankheit zu verbreiten, fraß und infizierte sie zunächst nur den echten Lavendel. Seit vier Jahren greift sie auch Lavandin-Plantagen an.

Eigentlich könnten es gute Zeiten für die Lavendelbauern sein. Immer mehr Leute glauben an die beruhigende Kraft des ätherischen Öls. Sie wollen Produkte, die wenigstens den Anschein von Natur erwecken und dafür ein paar Tropfen des duftenden Lavendelöls enthalten. Die Konkurrenz aus Bulgarien, Rumänien und China hat in Südfrankreich den Markt nicht destabilisiert. Vor allem die Nachfrage nach Lavendel aus kontrolliertem Bio-Anbau steigt. Wurden 2010 noch 9,5 Tonnen Öko-Lavendelöl aus der Provence verkauft, waren es 2014 schon 17,8 Tonnen, fast doppelt so viel. Und dank immer exakter arbeitenden Maschinen ist die Ernte nicht mehr so mühsam.

Doch weil die Pflanzen nun in Massen sterben, wird der Lavendelanbau teurer und komplizierter. Die Bauern müssen große Teile ihrer Plantagen alle fünf Jahre mit neuen, gesunden Setzlingen füllen. »Die Ersten haben aufgegeben und auf Salbei umgestellt«, sagt Eric Chaisse. Auch Insektizide haben bisher nicht geholfen. Und bei einer zu hohen Konzentration an Giftstoffen schlagen die Imker Alarm: Sie können ihren Honig nicht mehr verkaufen, wenn über die Bienen Nervengifte in den Lavendelhonig gelangen.

Chaisse rät den Bauern, ihre Pflanzen mit feuchtem Lehm zu überziehen, um eine mechanische Barriere gegen die Insekten aufzubauen. Chaisses Lieblingslösung wäre aber eine andere: Ein neuer Parasit taucht auf und frisst alle Zikaden. Diesen Parasit gibt es allerdings nur in Chaisses Tagträumen. In der Realität geht es den Glasflügelzikaden prächtig.

Nicht nur in der Provence. Auch in Deutschland macht das Tier den Winzern Sorgen, weil es durch das Phytoplasma-Bakterium auch die Schwarzholzkrankheit überträgt. Das Holz der Reben verfärbt sich schwarz, sie sterben ab. Und je wärmer und trockener die Sommer in den vergangenen Jahren wurden, desto schneller vermehrten sich die Glasflügelzikaden. Dass der Lavendel besonders stark betroffen ist, liegt daran, dass die Glasflügelzikade nicht nur im ausgewachsenen Stadium an seinen Blättern saugt, sondern schon als Larve an den Wurzeln nagt. Außerdem, sagt Chaisse, scheinen die Tiere am liebsten die Wurzeln bereits erkrankter Pflanzen zu fressen. Die Krankheit verbreitet sich so noch schneller. Warum die Insekten kranke Pflanzen bevorzugen, ist unklar: »Wir haben noch sehr viele offene Fragen.«

»Dann verlieren wir unser kulturelles Erbe.«


Der Kampf gegen das Bakterium ist für Eric Chaisse ein biologischer. Doch für den Mann, der Chaisses Forschung finanziert, ist eine Provence ohne Lavendel ein großes betriebswirtschaftliches Problem. Niemand hat in den vergangenen Jahren das Bild von blühenden Lavendelfeldern so direkt in Geld umgesetzt wie Olivier Baussan, der Gründer des Kosmetikkonzerns L’Occitane. Und auch wenn L’Occitane auf dem internationalen Markt den meisten Umsatz mit Verveine, also Eisenkrautprodukten, macht – der Lavendel, sagt Baussan, »ist die Seele des Konzerns«. Die Hälfte des echten Lavendels in der Provence wird von L’Occitane gekauft und in Cremes, Shampoos und Seifen verarbeitet. Der französische Staat begann sich die Förderung für das Forschungsinstitut Crieppam zu sparen, in dem Eric Chaisse arbeitet – da investierte Baussan 55 000 Euro in ein Lavendel-Rettungsprogramm unter der Leitung von Chaisse. Wenn in Frankreich kein Lavendel mehr blüht, implodiert das Marketingkonzept eines Weltkonzerns. Baussan sagt lieber: »Dann verlieren wir unser kulturelles Erbe.«

Olivier Baussan lässt alle seine Produkte in dem 20 000-Einwohner-Städtchen Manosque herstellen. Er ist der größte Arbeitgeber der Region. Doch für ein Gespräch will er sich nicht in seiner Firma treffen. In schwarzer, verwaschener Cordjacke und mit schwanzstummelwedelndem Hund an seiner Seite wartet der 62-jährige Baussan vor einem kleinen Natursteinhaus: dem Olivenöl-Museum. »Hier im Hinterzimmer habe ich in den Siebzigern meine ersten Cremes zusammengerührt«, sagt Baussan und guckt, als würde er dafür gern noch einmal gelobt. Menschen sind Marken, Produkte müssen eine Geschichte erzählen – und da ist ein Mann wie Olivier Baussan ein Geschenk. Als 23-Jähriger brach er sein Literaturstudium ab und wurde, wie er sagt, »zum Hippie«. Er begann, ätherische Öle zu destillieren. Heute verkaufe L’Occitane alle drei Sekunden eine Handcreme, sagt Baussan. Wie das zum Hippie passt? »Für Europäer ist ein Mensch, der Erfolg hat, natürlich immer moralisch verwerflich. Aber meine Firma zerstört die Provence nicht, sie erhält sie.« Auf die Frage, wie viel er mit diesem Erhalt verdient, sagt Baussan: »Sie meinen philosophisch, als Mensch?«

Olivier Baussan lebt genau dort, wo er 1976 anfing, an einem Tapeziertisch seine Öle zu verkaufen: in Forcalquier, eine halbe Autostunde von der L’Occitane-Stadt Manosque entfernt. »Gehen Sie dort mal auf den Markt, da sind immer noch dieselben Babacools wie vor dreißig Jahren.« Der französische Hippie heißt Babacool.

Und wirklich: Montagmittag, 13 Uhr, die ersten Händler packen ihre Stände zusammen. Lavendelhonig wird in Holzkörbe gestellt, selbst gemachte Salami in bunte Tücher gewickelt, und ein Mann mit fusseligem Bart verkauft lose Lavendelblüten direkt aus einem Plastikeimer. Unter einer grünen Markise, mit Blick auf die gotische Dorfkirche, stehen Männer und rauchen, die Gesichter nur noch Falten und Nase, Zigarette links, Rotwein rechts. An den Tischen davor haben junge, schöne Menschen in abgerissenen Klamotten Kinder und Roségläser zum Idyll arrangiert.

Nichts wirkt hier weiter weg als die immer gleichen, immer perfekten L’Occitane-Läden auf den Flughäfen, in denen die Erinnerung an ein naturverbundenes Leben als Last-Minute-Geschenk verkauft wird. Hier würde niemand 56 Euro für eine Gesichtscreme von L’Occitane ausgeben. Doch es ist der Ort, den Baussan meint, wenn er sagt: »Wir verkaufen eine Geschichte.«

Für Thierry Barjot ist diese Art von Geschichte der Arbeitsalltag. »Noch von meinem Schwiegeropa«, sagt er stolz und streicht über den Rand des großen Kessels, in dem er jeden Sommer getrocknete Lavendelbüschel zu ätherischem Öl destilliert. Auch wenn die Felder rund um das Haus und die Destillerie in diesem Restwinter grau statt blau sind, riecht man den Lavendel. Der frische, leicht herbe Duft, der an Omas sauber geordnete Unterhemdenschublade erinnert, hat sich in den Holzbalken festgesetzt. Auf einer kleinen Blechtafel erklärt eine Zeichnung, wie die Duftstoffe über Wasserdampf aus dem Lavendel extrahiert werden. In dritter Generation produzieren sie hier Lavendelöl, seit zehn Jahren lassen sie sich dabei von Touristen zuschauen, im Sommer sind es 300 am Tag. Den Großteil des Öls verkauft Barjot an einen Großkonzern, der Reinigungsprodukte mit Lavendelgeruch herstellt, den Rest kaufen die Touristen. Thierry Barjot hat die Lavendelfelder und die Destillerie vom Vater seiner Frau übernommen. Eigentlich ist Barjot Architekt. Vor vierzehn Jahren, mit dreißig, beschloss Barjot, dass
ihm das Leben auf dem Land lieber ist als sein Büro. »Es ist viel Arbeit, aber dafür bin ich unabhängig.«

Wäre da nicht die Glasflügelzikade. 2005 verlor Barjot dreißig Prozent seiner Lavendelpflanzen an das Phytoplasma. Er stieg auf den robusteren Lavandin um. »Da waren dann im vergangenen Jahr auch die ersten Pflanzen krank« – Barjot lacht. Von seinem Küchenfenster aus sieht er den Mont Ventoux, den Hausberg der Provence. In der Ebene davor lag früher der Großteil seiner Lavendelfelder. Heute pflanzt Barjot in höheren Lagen an. Je höher, desto kälter – und desto langsamer, hofft er, vermehren sich die Insekten. Ob sein Plan aufgeht, wird Barjot erst im Juli wissen, wenn der Lavendel blüht oder eben nicht blüht. Während über der Erde die Lavendelpflanzen noch winterlich struppig sind, beginnen die Larven unter der Erde langsam hochzukriechen, zur Lavendelwurzel. Ende März beenden sie ihre Winterruhe und fangen an zu fressen. Bis Juni müssen sie dick genug sein, um ihre Verwandlung vom Kriech- zum Fliegetier zu beginnen. Im Juli schlüpfen die Zikaden aus der Erde. Wenn Thierry Barjot Pech hat, sind sie dann wieder krank.

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Olivier Baussan
gründete 1976 die Firma L’Occitane, da war er gerade 23. Zunächst verkaufte er selbst gemachte Rosmarin-Shampoos, aber dann entdeckte er den Lavendel für sich, den Baussan heute als »die Seele des Konzerns« bezeichnet. Mittlerweile hat L’Occitane mehr als 2000 Läden in 90 Ländern.
(Foto: L´Occitane)

Illustration: Bella Foster