So viel Soul am Kapitol

Bei Barack Obamas Amtseinführung stellte sich erneut heraus, dass die Musik der Afro-Amerikaner die bedeutendste kulturelle Errungenschaft der USA ist.

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Keine leichte Aufgabe für Aretha Franklin. In bitterer Kälte stand sie auf den Stufen des Kapitol, 1,5 Millionen Menschen vor Augen, und musste ein Lied singen, das definitiv gar nichts mit Soulmusik zu tun hatte. »My Country, 'Tis Of Thee« hieß das sperrige Stück, eine patriotische Hymne aus dem frühen 19. Jahrhundert, voller stolzer Pilger und sterbender Vorväter, mit einer Melodie, die an die britische Nationalhymne angelehnt ist. Aretha war nicht sonderlich gut bei Stimme, aber sie hat sich diese Chance, die US-Kultur endgültig zu soulifizieren, nicht entgehen lassen. Die »Queen of Soul« sang die steife Hymne wie ein schwarzes Spiritual, eine Bluesballade. Mit ihrer einzigartigen stimmlichen Klasse legte sie mehr Gefühl in dieses Stück hinein, als man darin zu vermuten gewagt hätte. So kam zeitgleich mit Barack Obama auch die Musikkultur der Plantagen und Baumwollfelder, der Jazzclubs und Gospelkirchen im Zentrum der Macht an.

Diese Tage in Washington haben meines Erachtens den endgültigen Beweis erbracht, dass die schwarze Musik wohl die wichtigste, einflussreichste und originärste kulturelle Leistung ist, die bisher aus Amerika gekommen ist. Während das nichtssagende Stück des Filmkomponisten John Williams, das vor Barack Obamas Amtseid ertönte, wie ein Abgesang auf die europäische Musiktradition wirkte, lieferte die schwarze Musikkultur die Hymnen, die den Zeitenwandel untermalen.

Das fiel bereits beim großen Obama-Konzert am Sonntag auf, wo Lieder wie »Lean On Me«, »One Love« und »Higher Ground» dominierten und selbst die Rock- und Country-Stars sicherheitshalber Anleihen beim R&B nahmen: Garth Brooks suchte sich mit »Shout« von den Isley Brothers eine lupenreine Gospelnummer aus, um die Massen in Stimmung zu bringen. Und Jon Bon Jovi wagte sich in grandioser Selbstüberschätzung an Sam Cookes Klassiker »A Change Is Gonna Come«, nur um von der Soulsängerin Bettye Lavette mühelos an die Wand gesungen zu werden.

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Einzig Bruce Springsteen, der seinen Auftritt ebenfalls durch Rückgriff auf eine kräftige Musikkultur vitalisierte, konnte mithalten. Er sang zusammen mit Pete Seeger, dem Urvater der amerikanischen Folkmusik, Woody Guthries Song »This Land Is Your Land«. In den Dreißigern verfasst, gibt dieses Lied dennoch punktgenau den Geist dieser Tage in Washington wieder. Wann schreiben lebende Künstler Songs, die die Kraft dieser alten Lieder entfalten? Ich hoffe, bald.