Es ist dies eine Geschichte, die vom Alleinsein handelt, von der Suche nach ein klein wenig Glück, vom Kampf um Liebe und Zweisamkeit in einer Welt, die nicht für jeden ein gelungenes Leben bereithält. Es ist die Geschichte der Riesenschildkröte George.
George heißt mit ganzem Namen »Lonesome George« und lebt auf den Galapagosinseln tausend Kilometer vor der Küste Ecuadors im Pazifischen Ozean, einer Art Freilandlabor seltener Tier- und Pflanzenarten. Den Namen hat er bekommen, weil ein tragisches Schicksal auf seinen falti-gen Schultern lastet: George ist noch nie in seinem Leben einem Weibchen seiner Rasse begegnet. Seit achtzig Jahren schon erklimmt er Tag für Tag, Woche für Woche felsige Anhöhen, schleppt sich über Lavafelder, durchschwimmt Tümpel, durchforstet Mangrovenbüsche – ohne Erfolg. George ist allein, er kann nicht werben und nicht lieben. Er sieht Menschen mit Rucksäcken, die zeigen mit dem Finger auf ihn, die rufen ihn, die fotografieren ihn, aber ein Schildkrötenweibchen, mit dem er sein Leben teilen könnte, sieht er nicht. George ist der Letzte seiner Art. Wenn er stirbt, wird ein Seitenarm der Evolution ins Nichts laufen, dann wird es auf der Erde nie wieder eine Schildkröte seiner Rasse, dann wird es nie wieder eine Geochelone elephantopus abingdoni geben – wenn, ja, wenn kein Wunder geschieht.
Gerade ist eine Art Biografie über Lonesome George erschienen. Lonesome George – The Life And Loves Of A Conservation Icon heißt das Buch, in dem der britische Journalist Henry Nicholls das Drama der einsamsten Schildkröte der Welt erzählt. Thema sind nicht nur die Nöte des Tieres, sondern auch die der Wissenschaftler, die seit Jahren verzweifelt für den Erhalt seiner Rasse kämpfen. Leider stehen sie immer noch vor einem Berg ungelöster Fragen: Ist George wirklich der Letzte seiner Subspezies? Warum hat er keine Lust auf Sex mit artverwandten Schildkröten? Liegt es am unterschiedlichen Gencode? Oder ist George impotent, krank oder am Ende sogar schwul?
Einige Biologen geben die Hoffnung nicht auf, doch noch irgendwo ein Weibchen der gleichen Rasse für George zu finden, und haben eine weltweite Suchaktion gestartet. Wer ein passendes Exemplar für ihn auftreibt, bekommt 10 000 Dollar Finderlohn. Seitdem wird auf der ganzen Welt nach ei-ner Partnerin für George gefahndet, werden tausende von Schildkröten-DNA-Proben genommen und mit der von George ver-glichen. Versteckt sich doch noch irgendwo ein Frauchen – in einem Nationalpark, in einem Tiergarten oder einer privaten Reptiliensammlung –, kann George eines Tages in seinen Nachkommen weiterleben. Wenn nicht: Längst gibt es Wissenschaftler, die durch Elektroschocks an sein Sperma ge-langen wollen, um ihn wenigstens mit artverwandten Schildkröten von benachbarten Inseln zu kreuzen. Gentechniker gehen sogar noch weiter und träumen davon, Lonesome George zu klonen, um eine Partnerin für ihn zu kreieren. Unromantisch? Stimmt, aber unerlässlich, sollte er wirklich der Letzte seiner Art sein.
Lonesome Georges Heimat, das Galapagos-Archipel, wird von 13 großen und acht kleinen Inseln gebildet. Bevor er auf Pinta, der nördlichsten von ihnen, entdeckt worden war, hielt man seine Rasse seit Anfang des 20. Jahrhunderts für ausgestorben. Doch dann lief George im Jahr 1972 dem Zoo-logen Manuel Cruz in die Arme und die Sensation war perfekt. Sofort wurde er zur Charles Darwin Research Station (CDRS) auf die Insel Santa Cruz gebracht, wo er bis heute unter ständiger Beobachtung steht. 200 Jahre zuvor hatte es noch zehntausende von Elefantenschildkröten auf Pinta gegeben. Doch dann kamen im 19. Jahrhundert erst die Walfänger und lagerten Georges Vorfahren als lebende Fleischkonserven in ihren Schiffsrümpfen, und später die Siedler, deren Ziegen den Schildkröten endgültig Lebensraum und Nahrung wegnahmen. Während auf den anderen Galapagosinseln jeweils mehrere Exemplare einer Rasse überlebten, war George auf Pinta der Einzige. Und jetzt ist er also der Allerletzte, der Highlander unter den Pinta-Elefantenschildkröten, verdammt zu einem einsamen Leben und einem einsamen Sterben.
Was weiß man sonst über George? Er liebt Papaya-Früchte, wiegt 88 Kilo, ist 102 Zentimeter lang und ein Nachfahre der Riesenschildkröten, die vor mehr als 200 Millionen Jahren zusammen mit den Dinosauriern die Erde bevölkerten. Er ist zäh und zeigt trotz seines deprimierenden Schicksals keine suizidalen Tendenzen. Im Gegenteil, er ist nicht kleinzukriegen: 1980 zum Beispiel stürzte er so heftig einen Abhang hinunter, dass auf der Insel das Gerücht umging, er sei an den Folgen des Unglücks gestorben. Auch in den Jahren danach erwies er sich als hart im Nehmen. Er litt der Reihe nach an Übergewicht, einer Schwellung im Nacken, einer hormonellen Störung sowie einer hartnäckigen Verstopfung, nachdem er einen Kaktus gefressen hatte, der in sein Gehege gefallen war. Richtig gefährlich wurde es für George im Jahr 1995, nachdem aus Umweltschutzgründen ein Fangverbot für Seegurken erlassen worden war, die Galapagos-Fischer als Aphrodisiakum nach Ostasien verkaufen. Die Fischer sahen sich ihrer Lebensgrund-lage beraubt und drohten verzweifelt damit, die Charles Darwin Research Station zu stürmen. »Muerte al Solitario George!« – »Tod dem einsamen George!«, riefen sie wütend und schienen dermaßen entschlossen, den Schildkröterich zu kidnappen oder gar zu töten, dass Linda Cayot, die damals an der CDRS für die Reptilien verantwortlich war, George für einige Tage durch eine andere Riesenschildkröte austauschte. Die Fischer hätten den Unterschied sowieso nicht bemerkt. Mit bloßem Auge lässt sich George nicht von artverwandten Tieren unterscheiden.
Um doch noch eine Partnerin für George zu finden, unternahmen Tierschützer mehrere Male Exkursionen auf Georges Heimatinsel Pinta – immer kamen sie mit leeren Händen zurück, zum letzten Mal im Jahr 2003. Nur einmal, im Jahr 1981, stießen sie auf frischen Schildkrötenkot, konnten den Verursacher jedoch bis heute nicht finden. Seit 15 Jahren nun versuchen Biologen George wenn schon nicht zu einer Dame, die er lieben kann, wenigstens zu einer Paarung zu verhelfen. Doch George erweist sich als äußerst widerspenstig:
1992 sperrte Linda Cayot zwei Weibchen der verwandten Rasse Geochelone elephantopus becki von der Vulkaninsel Isabela in sein Gehege. Doch anstatt diese zu beglücken, versteckte George sich vor ihnen. Liefen sich die Tiere doch mal über den Weg, reagierte er äußerst gereizt. Von Lust oder gar Liebe keine Spur. Linda Cayot war enttäuscht, die Reiseagenturen freuten sich und lockten mit der »ältesten schwulen Schildkröte der Welt« weitere Touristen auf die Inselgruppe. Dass George schwul sein könnte, glauben die Wissenschaftler nicht wirklich, der viel wahrscheinlichere Grund für seine Enthaltsamkeit ist, dass er als Kind und Jugendlicher nie Zeuge eines Liebesaktes geworden ist. George weiß einfach nicht, wie es geht. Das stellt er ein Jahr später erneut unter Beweis:
Denn 1993 keimt Hoffnung auf. Sveva Grigioni, eine 27-jährige Biologiestudentin aus der Schweiz, kümmert sich während eines Praktikums an der CDRS intensiv um George. Jeden Tag besucht sie ihn morgens, mittags und abends in seinem Gehege, mit nur einem Ziel: George seinen Samen zu entlocken. Mit einer speziellen Streicheltechnik versucht Grigioni Georges Penis so zu stimulieren, dass dieser Lust auf die beiden Weibchen bekommt oder wenigstens Sperma absondert – ohne Erfolg. Erst reagiert George mit einer Allergie auf Grigionis Latex-Handschuhe; als die mit bloßen Händen ans Werk geht, lässt er die Prozedur zwar über sich ergehen, ist aber nicht bereit, Sperma abzugeben. Das Sonderbare: Andere Schildkröten bringt Sveva Grigioni innerhalb von zehn Minuten zum Orgasmus. Nicht so bei »Lonesome George«. Bei ihm scheitert sie mit ihren Liebeskünsten. »Trotzdem ist er zutraulicher geworden und hat sogar einmal versucht, eines der Weibchen zu besteigen«, erzählt sie. »Leider von der Seite statt von hinten.« Zu einer Eiablage ist es nie gekommen. »Jetzt muss ich fast da-rüber lachen«, sagt Grigioni heute, »aber damals habe ich meine Sache unglaublich ernst genommen. Ich wollte diese Schild-krötenrasse um jeden Preis retten.« Leider lief nach vier Monaten ihr Visum ab und sie musste das Experiment abbrechen. Georges Penis blieb also wieder unberührt, er selbst lustlos. Sogar nachdem man ihn auf Diät gesetzt hatte – eine dänische Studie hatte soeben belegt, dass übergewichtige Männer weniger Spermien produzieren als normalgewichtige –, zeigte er keinerlei Interesse an Sex. Bis heute.
Inzwischen hat Lonesome George sich endgültig zu einer Touristenattraktion entwickelt: Er zierte schon eine Briefmarke, steht im Zoo von San Diego in Bronze gegossen, in den Souvenirshops gibt es ihn in tausendfacher Miniatur-Ausführung zu kaufen. George ist berühmt. Seine Bürde qualifiziert ihn zu einem perfekten Mahnmal für den Artenschutz, zu einer Metapher für den verantwortungsvollen Umgang des Menschen mit der Schöpfung.
Und immer wieder tauchen neue Hoffnungsschimmer auf: So haben Forscher he-rausgefunden, dass George mit den Schildkröten der Insel Española viel näher verwandt ist als mit denen der Insel Isabela. Gerade werden dreißig Riesenschildkröten im Zoo von Quito einem Gentest unter-zogen, regelmäßig geben Sammler aus aller Welt Tiere in der Forschungsstation ab. Seit kurzem weiß man auch, dass Besucher, bevor die Galapagosinseln im Jahr 1959 zum Nationalpark erklärt wurden, junge Schildkröten als Maskottchen mitgenommen haben. Nach diesen wird jetzt auf der ganzen Welt gefahndet. Ist nur ein einziges Weibchen von der Insel Pinta dabei, könnte George sich endlich verlieben und mit einem entschlossen ausgeführten Geschlechtsakt seine Rasse retten. Das Zeug dazu hätte er. Mit seinen achtzig Jahren ist er im Vollbesitz seiner Manneskraft – Riesenschildkröten können bis zu 150 Jahre alt werden.