Wie bitte, die Flugmango ist aus? Die Produktvielfalt in unseren Supermärkten ist für uns zur Selbstverständlichkeit geworden.
Wir wissen schon lange, sehr lange, dass es so nicht ewig weitergehen kann. Mit der Umwelt. Mit den Schulden. Mit dem Wachstum. Es war der Club of Rome, der bereits vor vierzig Jahren darauf hinwies, dass unser Wachstumsglaube irgendwann an natürliche Grenzen stoßen wird. Uns ist längst klar, dass Wachstumswirtschaften die Hauptverantwortung für die Übernutzung der natürlichen Ressourcen und den Klimawandel tragen. Wir wissen, dass unser Wohlstand auf dem Vertrauen in immer noch mehr Wachstum aufbaut. So haben die Industrienationen zig Billionen Dollar von Staatsschulden aufgetürmt, in der Hoffnung, dass die kommenden Generationen das irgendwie zurückzahlen werden.
Umweltminister Norbert Röttgen hat kürzlich ein schönes Wort gefunden für die Rücksichtslosigkeit, mit der wir einfach weitermachen wie bisher, er nennt es »Gegenwartsegoismus«. Das Problem ist erkannt und benannt. Und doch wagt keiner, Wachstum als Prinzip ernsthaft infrage zu stellen, denn man würde damit automatisch die geläufigen Verkehrsformen der Geld- und Kreditwirtschaft - und damit den Kapitalismus und die Welt, die zu ihm gehört - infrage stellen. Es ist, als rühre man an ein Naturgesetz. Auch jetzt, wo der Euro bröckelt und die Welt erneut vor einer Wirtschaftskrise steht, glauben die Experten immer noch, dass Schulden am besten mit noch mehr Schulden zu bekämpfen sind. Steckt dahinter nur Ignoranz, oder ist da etwas in unseren Köpfen, was uns blind macht?
Wachstum als wirtschaftliche Leitvorstellung, das Glaubensbekenntnis aller lebenden Politiker und Wirtschaftsweisen, die Zivilreligion aller Industrienationen, ist nicht vom Himmel gefallen. Sie ist gerade mal zwei Generationen alt. Zur ökonomischen Leitwährung wurde das Wachstumsdenken erst im Kalten Krieg, weil man ja irgendwie messen musste, ob nun Kommunismus oder Kapitalismus das sportlichere System war. In den westlichen Gesellschaften der Nachkriegszeit war Wachstum das Instrument des sozialen Ausgleichs: Wenn die Wirtschaft nur ordentlich wächst, gibt es für alle, auch für die Arbeiter, mehr zu verdienen und damit ein besseres Leben.
Der Wachstumsgedanke steckt schon in den Vorstellungen über uns selbst. Nur: Wie ist er dort hineingekommen? So etwas wie eine Biografie, ein selbst gestaltbarer Lebenslauf, war für Menschen vor der industriellen Revolution ein Luxus, den sich nur wenige leisten konnten. Unter vormodernen Verhältnissen herrschten göttlicher Wille und fest gefügte Ordnung. Das Leben der meisten Menschen verlief in vorgezeichneten Bahnen: Man lebt, arbeitet, heiratet und stirbt so, wie es von Geburt festgelegt ist; erst mit dem massenhaften Arbeitskräftebedarf der neu entstehenden Industrien im 19. Jahrhundert wird die Loslösung aus der Vorbestimmung möglich: Die Menschen werden »frei, ihre Haut zu Markte zu tragen«, wie Karl Marx gesagt hat. Erst damit werden sie verantwortlich für ihre eigene Biografie. Zu dieser Zeit entsteht auch erstmals eine Pädagogik, die von der Vorstellung getragen ist, dass die »Anlagen« der Kinder unter bestimmten Bedingungen besser oder schlechter »entwickelt« werden können. Der Mensch ist jetzt nicht mehr, wie er eben ist, sondern kann etwas aus sich machen. Er wird seines Glückes Schmied. Er kann sich bilden, sich entfalten, etwas erreichen. Ich wachse, also bin ich.
Obwohl wir das heute als selbstverständlich erachten, bedurfte es erst einer Geschichte der Disziplinierung, bis man als Mensch tatsächlich jene Eigenschaften haben wollte, die eine Industriegesellschaft zum Funktionieren braucht. Pünktlichkeit, Selbstdisziplin, Verlässlichkeit und Berechenbarkeit sind notwendig, wenn Schornsteine rauchen und Fließbänder laufen sollen, besonders dann, wenn der Warenverkehr Liefertermine vorsieht. Noch während des 19. Jahrhunderts werden Arbeiter mit der Peitsche dazu angehalten, ihre zwölf Stunden in der Fabrik abzuleisten. Wer am »blauen Montag« nicht zur Arbeit erscheint, wird oft regelrecht dahin geprügelt.
Erst mit dem Kampf um die Arbeitszeit wird der heutige Achtstundendreiklang aus Schlafen, Arbeiten, Erholen zur scheinbar natürlichen Zeitnorm, in die alle Gesellschaftsmitglieder, vom Kleinkind bis zur Oma, eingetaktet sind. Heute ist nicht mehr die Verkürzung der Arbeitszeit, sondern der Besitz von Arbeit der selbstverständliche Zweck aller Anstrengung - einem Arbeiter des 19. Jahrhunderts, der das Arbeiten noch als fremdbestimmte Zumutung empfand, wäre das ziemlich pervers vorgekommen. In Zeiten permanenter Online-Erreichbarkeit ist das Recht auf Müßiggang nichts als eine bizarre Vergangenheit.
Die Verwandlung der Außenwelt durch die industrielle Revolution ging einher mit der Verwandlung der Innenwelt. Die Werte Selbstverantwortung, Disziplin, Wille werden nun schon für den Heranwachsenden bedeutsam, denn er kann nicht nur »etwas aus sich machen« - er muss. Wilhelm von Humboldt nennt es »in sich selbst so viel Welt als möglich zu ergreifen« - und dieser nach innen verlegte Maximalismus erzeugt einen wachsenden Druck, auch mit sich selbst und seinem Leben ökonomisch umzugehen. Das Leben kann jetzt mehr oder weniger erfolgreich »geführt« werden, so wie man ein Unternehmen führt, und solche Lebensführung erfordert Kontrolle, Maß und Beobachtung.
So wird das Selbst zu einer permanenten Entwicklungsaufgabe mit festgelegten Stufen und Zielen. Zeit wird zur entscheidenden Kategorie: Mache ich genug aus mir? Was kann, was muss ich herausholen aus meiner Lebenszeit? Lag die durchschnittliche Lebenserwartung der Weltbevölkerung um 1800 bei 30 Jahren, betrug sie im Jahr 2000 bereits 67 Jahre, mit deutlichen Ausschlägen nach oben in den Industriegesellschaften. Der immer weiter hinausgeschobene Horizont der Lebenszeit befördert die Vorstellung, auch diese bestehe in einem Prozess beständigen Anwachsens. Wer seiner eigenen Lebenszeit das Maximale abgewinnen muss, sieht sich nicht mehr in einen Generationenzusammenhang eingebunden, in dem die eigene Lebenszeit nur eine Episode in aufeinanderfolgenden und aneinandergebundenen Leben ist, sondern hat nur noch sein eigenes, einzelnes Leben. Auch darum gilt es, möglichst viel aus der verfügbaren Lebenszeit zu machen, möglichst viel Zeit zu sparen, zu nutzen, zu akkumulieren. Das Leben ist zum Wettlauf geworden, zur Hatz nach der besten Option.
Kultur des permanenten Vorspiels
Vor allem verändert sich der Charakter der Arbeit: Dem vorindustriellen Handwerker wie dem Künstler ging es, ebenso wie ihrem Auftrageber, um die Erstellung eines bestimmten Gegenstandes oder Werkes. Mit seiner Fertigstellung war die Arbeit beendet, und für das fertige Stück gab es Geld. In der industriellen Produktion geht es dagegen schon lange nicht mehr nur um die Herstellung von Produkten und um Arbeit als Mittel zur Erreichung dieses Zwecks, sondern um ein System, in dem unablässig gearbeitet werden muss, um eine unendliche Menge von Produkten herzustellen. Das schöpft Mehrwert und damit investives Kapital, das sofort wieder in die Verbesserung der Produktion oder Erweiterung der Produktpalette gesteckt wird, um den Unendlichkeitshorizont noch weiter hinauszuschieben. Nichts ist jemals fertig, die Arbeit hört niemals auf. Das nächste Update wartet schon. Hier liegt die Wurzel nicht nur des grenzenlosen Wachstumsglaubens, sondern auch der Vorstellung eines niemals fertigen, eines immer wachsenden Menschen. Das Wachstum als Wert ist längst in unsere Mentalität eingegangen.
Das Ergebnis ist die erstaunliche Verwandlung von Substanziellem in bloße Durchlaufzustände: Jeder Herstellungsvorgang ist nur der Vorläufer des nächsten, jedes Produkt der Vorgänger des folgenden, jeder Arbeitsgang nur der vorläufige Akt in einer unendlichen Kette von Wiederholungen. Und exakt so geht Arbeit in die ökonomische Theorie ein: als eine in sich unbegrenzte endlose Tätigkeit, die kein Ziel an sich hat, sondern der unablässigen Schöpfung von Wert dient - und das ist die irdische Unendlichkeit. So wie die Arbeit unaufhörlich wird, so wird jeder Augenblick im Leben, jede Stufe im Lebenslauf, jeder Euro auf dem Konto lediglich zur Vorstufe jedes nächsten Abschnitts, jedes weiteren Euro. Und jede Stufe einer Biografie ist immer nur Vorstufe eines Selbst, das irgendetwas Nächstes zu erreichen hat. So wird das Leben zur permanenten Bringschuld.
Eine Wirtschaft ohne Wachstum ist das exakte Gegenteil davon, daher gänzlich undenkbar - sie wird sofort mit Stillstand in der Wohlstandsentwicklung gleichgesetzt. Und wer sich persönlich nicht ständig weiterentwickelt, der gilt eben als »stehen geblieben«. Das findet sich in der Norm des »lebenslangen Lernens« und des »produktiven Alterns« ebenso wieder wie in den esoterischen Selbstfindungssuchen nach dem »wahren Ich«, dem »positiven Leben«, die systematisch genauso wenig jemals an ein Ende kommen können wie der Selbstausbeutungsfetischismus der Laptopmänner, die alle Züge, Flugzeuge und Wartelounges dieser Welt bevölkern: Alle werden niemals fertig.
Wir existieren in einer Kultur des permanenten Vorspiels für ein fiktives nächstes Stadium. Den Sinn dazu liefert Konsum. Es gilt als Freizeitbeschäftigung, »shoppen« zu gehen, und nicht zufällig werden viele Produkte, die in den reichen Gesellschaften gekauft werden, gar nicht mehr konsumiert. Schätzungen gehen davon aus, dass in den USA mehr als vierzig Prozent aller gekauften Nahrungsmittel weggeworfen werden; in den reichen westeuropäischen Gesellschaften ist es nicht viel weniger. Wenn die Dinge nicht mehr konsumiert werden, die man kauft, wird der Kaufakt selbst zur sinnstiftenden Handlung - übrigens auch zunehmend zur gemeinschaftsstiftenden: Warenhäuser vom Typ Zara sind soziale Orte, an denen insbesondere Jugendliche gemeinsam Kleidungsstücke und Rollen ausprobieren und sich darin gegenseitig kommentieren; auf der anderen Seite des Konsumentenspektrums bieten solche Gemeinschaftserlebnisse die gehobenen Produktwelten vom Typ Manufactum - wo es sie zwar noch gibt, die »guten Dinge«, aber nur die wenigsten sich fragen, ob man sie auch wirklich braucht.
Die Nachhaltigkeitsindustrie produziert dazu unermüdlich Berechnungen und Labels von »carbon footprints«, »ökologischen Rucksäcken«, »virtuellem Wasser« und übersieht dabei völlig, dass all dieses längst in Produkte eingeht, die gar nicht mehr konsumiert, sondern nur noch gekauft werden, weil man denkt, dass man sie braucht. Oder schlimmer: weil man glaubt, damit die Welt zu retten. So funktionieren die Abfallerfindungsmaschinen vom Typ Nespresso. Erst setzt sich die absurde Strategie am Markt durch, pro Tasse Kaffee eine aufwendige Kunststoffkapsel mitzuverkaufen und das Produkt so mit einem exorbitanten Preis und einem noch grandioseren Müllfaktor zu versehen. Folgerichtig fällt dann irgendjemandem, zum Beispiel einem ehemaligen Nespresso-Chef, auf, dass hier eine veritable Ökoschweinerei vorliegt, und er beginnt, Ökokaffeekapseln für die Kapselkaffeemaschinen herzustellen. Schwups ist ein Produkt als umweltfreundlich geadelt, das es vor Kurzem noch gar nicht gab und das aufgrund seiner Inexistenz tatsächlich umweltfreundlich war.
Das ist Wachstum: etwas, was paradoxerweise desto wichtiger wird, je weiter die materielle Sättigung vorangeschritten ist und je besser die vitalen Bedürfnisse abgedeckt sind. Ohne Wachstum besteht keine Chance, die Staatsschulden jemals zurückzubezahlen. Darin liegt die innere Grenzenlosigkeit der Wachstumsgesellschaften und ihrer Bewohner: Sie können nur dann an ein Ende kommen, wenn es nichts mehr zu konsumieren gibt, weil alle Ressourcen verbraucht sind. Der Gradmesser dieser Kultur der Verschwendung ist der Konsumklimaindex, der uns jeden Monat verrät, wie es um die Kauflaune bestellt ist und also um den psychischen Motor, der all das am Laufen hält. Das passende Glaubensbekenntnis liefert die Postbank in schönem Doppelsinn, jeden Abend, kurz vor der Tagesschau: »Unterm Strich zähl ich.«
Nicht dass wir die Hoffnung aufgeben würden: Schon fordern ein paar Aufgeweckte die Entkoppelung des Wirtschaftswachstums vom Ressourcenverbrauch. Wir schauen nach Bhutan, wo man dem Bruttosozialglück mehr Bedeutung einräumt als dem Bruttosozialprodukt. Wir hoffen nach wie vor, dass man nur ein paar Stellschrauben nachjustieren muss, um die negativen Umweltfolgen des Wirtschaftswachstums zu mindern. Ansonsten soll aber bitte alles so bleiben, wie es ist.
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