»Die Vernunft wird vollkommen überschätzt«

Das sagt ausgerechnet ein Nobelpreisträger für Wirtschaft. Auch zu Elterngeld und Mehrwertsteuer vertritt Reinhard Selten eher unorthodoxe Ansichten.

Reinhard Selten, 76, ist Ökonom an der Universität Bonn und erhielt 1994 als bisher einziger Deutscher den Nobelpreis für Wirtschaft. Er beschäftigt sich mit der Verhaltensökonomie und ist überzeugt, dass der Mensch sich in wirtschaftlichen Angelegenheiten nicht so rational verhält, wie es die Theorie vorsieht. In seinem Labor für experimentelle Wirtschaftsforschung studiert er, welche Motive den Menschen – abgesehen vom Gewinnstreben – noch antreiben und wie diese Motive sein Handeln beeinflussen.

SZ-Magazin: Vor einem Jahr hatten wir in Deutschland fünf Millionen Arbeitslose, nun sind es vier Millionen. Wem haben wir diesen Schwund zu verdanken – Gerhard Schröder oder Angela Merkel?
Reinhard Selten:
Ich bin kein Konjunkturforscher, aber ich denke, dass für diese Entwicklung vor allem ein Faktor entscheidend ist: der Abbau des Überaufwands. In vielen Unternehmen – und erst recht in den Behörden – wächst mit der Zeit die Tendenz, dass die Beschäftigten sich Ressourcen aneignen, die eigentlich der Organisation gehören. Gleichzeitig arbeiten sie ineffizienter. Es wird mehr privat telefoniert, was die Arbeitszeit verringert und die Kosten für das Unternehmen erhöht. Führungskräfte erhalten vom Unternehmen zum Beispiel Netzkarten für die Bahn, obwohl sie die meiste Zeit mit dem Firmenauto fahren oder gleich fliegen – natürlich First oder Business Class. Der Überaufwand zeigt sich nicht nur in Privilegien aller Art, sondern auch in höheren Löhnen. Damit meine ich nicht so sehr die Höhe an sich, sondern das Phänomen, dass in größeren Unternehmen generell höhere Löhne gezahlt werden.

Warum ist das so? In jedem größeren Unternehmen entsteht auf allen Ebenen Überaufwand. Der Überaufwand eines Vorgesetzten wird von seinen unmittelbaren Mitarbeitern beobachtet. Er muss ihnen deshalb auch einen gewissen Überaufwand gestatten. Auf diese Weise verbreitet sich der Überaufwand von oben nach unten.

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Sie kritisieren, viele Lehrsätze der Ökonomie seien weltfremd. Was sagt denn die Wirtschaftstheorie zum Überaufwand? Das Phänomen kommt dort kaum vor. Die Mikrotheorie besagt, dass ein Unternehmen den Gewinn maximiert und die Kosten minimiert. In der Realität sieht man, dass Unternehmen, die in die Krise geraten sind, ihre Kosten sehr wohl senken können.

Darf man aus Ihren Aussagen folgern: Weder Merkel noch Schröder können sich den momentanen Aufschwung auf die Fahnen schreiben, sondern in erster Linie die Unternehmen selbst? Das würde ich so sehen, ja, ohne es empirisch belegen zu können. Aber die Produktivität ist in Deutschland in den letzten Jahren wieder stark gestiegen. Und das lag nur zu einem geringen Teil am technischen Fortschritt. Durch den Abbau des Überaufwands sind die Unternehmen international wettbewerbsfähiger geworden. Das zeigt sich auch an den Arbeitskosten, die im weltweiten Vergleich nicht mehr die höchsten sind.

Also haben die Arbeitnehmer recht, wenn sie nach 15 Jahren stagnierender Einkommen Lohnerhöhungen fordern? Vorsicht! Die jetzt gewonnene Wettbewerbsfähigkeit ist ständig in Gefahr, denn die internationalen Lohnunterschiede sind nach wie vor gewaltig und die Technikkenntnisse in Ländern wie Indien oder China nehmen schnell zu. Das übt einen enormen Druck auf deutsche Unternehmen aus.

Die Mitarbeiter sollen sich damit abfinden, dass die Firmen florieren, sie selber aber kaum davon profitieren? Eine einzelne Firma kann natürlich ihre Mitarbeiter am Gewinn teilhaben lassen und einen Teil davon an sie ausschütten.

Als Einmal-Zahlung am Jahresende? Warum nicht? Diese Vorschläge gibt es ja schon länger. Nur die Gewerkschaften waren immer dagegen. Schließlich würde eine Gewinnbeteiligung dazu führen, dass die Mitarbeiter näher an die Unternehmer rücken und die Gewerkschaften an Einfluss verlieren. Aber das tun sie ohnehin.

Vielleicht nicht mehr lange. Oder glauben Sie, die Deutschen werden es noch lange hinnehmen, dass selbst hochrentable Unternehmen Stellen abbauen? Ich verstehe die Empörung, aber man muss auch sehen, dass viele Unternehmen ihre Gewinne vorwiegend im Ausland machen, wo sie Produktionsstätten und Niederlassungen aufgebaut haben. Generell sind die Gewinne einfach nötig, sonst sinkt der Aktienkurs und die Firmen laufen Gefahr, übernommen zu werden. Das war vor 15 Jahren noch nicht der Fall.

Was hat sich verändert? Nehmen Sie die deutschen Großbanken: Die waren auch im internationalen Vergleich groß. Heute sind sie eher klein und potenzielles Ziel einer Übernahme. Damals war der Wert der Aktien im Depot der Deutschen Bank größer als der Wert der Deutschen Bank auf dem Aktienmarkt selbst. Die Deutsche Bank erhielt mehr Dividende aus diesen Aktien, als sie selbst ausschüttete. Das war in gewisser Hinsicht grotesk, denn die Eigentümer bekamen offensichtlich nur einen kleinen Teil des Gewinns ab, der dort anfiel. Daher waren die Kurse der Deutschen Bank relativ niedrig. Das brauchte die Deutsche Bank damals nicht zu kümmern, weil niemand versucht hätte, sie aufzukaufen. Heute ist das anders. Und das führt dazu, dass sie mehr Dividende ausschüttet; davon profitiert natürlich auch der Aktienkurs. Der Druck auf die Effizienz der Firmen wächst also, ebenso der Druck, mehr von den Gewinnen auszuschütten.

Wäre dieser Gewinn in den Händen der hiesigen Mitarbeiter nicht besser aufgehoben? Damit der Binnenmarkt wieder in Schwung kommt? Die Studien der meisten Ökonomen legen nahe, dass für das Wachstum einer Volkswirtschaft das Kaufkraftargument nicht so zentral ist. Ich kann die Klage über unser relativ geringes Wachstum ohnehin nicht verstehen. Unser Problem ist in erster Linie die Arbeitslosigkeit.

Bedingt nicht das eine auch das andere? Ich glaube nicht. Man sieht ja, dass durch den Abbau des Überaufwands erst Leute entlassen werden. Das führt wieder zu mehr Einkommen bei den Unternehmen, mehr Investitionen und mehr Arbeitsplätzen, auch weil wir wieder mehr exportieren. Wir können uns also auch ohne große Wachstums-sprünge wirtschaftlich erholen, wenn die Realeinkommen nicht zu stark steigen.

Ganz allgemein: Welche wirtschaftspolitischen Maßnahmen der jüngeren Vergangenheit erscheinen Ihnen sinnvoll? Gewisse Veränderungen im Steuerrecht natürlich, etwa die Senkung der Unternehmenssteuern. Hartz IV war im Kern sinnvoll, auch wenn es nicht das gebracht hat, was man sich davon versprochen hat.

Haben Sie eine Erklärung dafür? Das Ganze ist halt sehr bürokratisch. Da gibt es Zuschüsse für Miete, Strom oder Ähnliches, wobei man nachweisen muss, dass man kein eigenes Vermögen hat. Und das muss wieder kontrolliert werden. So schafft man schon Arbeit, aber in erster Linie für die Bürokratie. Je mehr Regeln, desto schwieriger die Kontrolle. Die Betroffenen finden immer Möglichkeiten, Regeln zu umgehen. Deshalb bin ich auch für eine radikale Steuerreform, wie sie Paul Kirchhof vorgeschlagen hat: ein übersichtliches System, das wenige Anreize zur Umgehung bietet.

Der Professor aus Heidelberg ist gescheitert, weil die meisten Deutschen sein System als ungerecht empfinden. Erst recht in einer Zeit, in der die Kluft zwischen Arm und Reich stark zunimmt. Das Argument greift zu kurz. Unser komplexes Steuersystem mit seinen unzähligen Ausnahmen ermöglicht gerade den Reichen, keine Steuern zu zahlen. Die größte Last tragen Menschen mit mittleren Einkommen. Ist das gerecht? Das würde sich ändern, wenn man einen Einheitssatz für alle Einkommen einführte. Wobei natürlich ein gewisser Teil steuerfrei bliebe.

Aber wer mehr verdient, sollte auch mehr zum Allgemeinwohl beitragen. Das wäre in Kirchhofs Modell sehr wohl der Fall, in absoluten Zahlen jedenfalls. Außerdem gibt es immer die Möglichkeit, durch indirekte Steuern Gerechtigkeit zu fördern. Das geschieht ja bereits. Auf Lebensmittel zahlt man bei uns nur sieben Prozent Mehrwertsteuer – das begünstigt vor allem Menschen, in deren Budget dieser Posten eine größere Rolle spielt.

Was halten Sie von einer Regelung wie in Österreich, wo man – etwa beim Autokauf – 30 Prozent Luxussteuer zahlt? Ich habe nichts dagegen, solche Steuern auf gehobene Konsumartikel zu erheben.

Dann haben Sie auch kein Problem mit der Mehrwertsteuererhöhung? Die meisten Leute sind dagegen, ich weiß. Aber wenn man sie einführt, dann in Zeiten des Aufschwungs – wie jetzt. Und nicht, wenn es bergab geht. So wie es im Moment aussieht, behindert die Erhöhung den positiven Trend nicht. Insofern ist es eine günstige Steuererhöhung, auch weil sie nur im Inland anfällt und unsere Wettbewerbsfähigkeit nicht belastet. Eine gewisse Steuererhöhung muss sein, damit die Gemeinden wieder investieren können. Außerdem haben wir bekanntlich zu viel Schulden.

Sehen Sie die Gesundheitsreform ähnlich positiv? Zu dieser Frage möchte ich mich zurückhaltend äußern. Der derzeit so heftig diskutierte Gesundheitsfonds betrifft ja nur das Verhältnis von Zahlungen der Versicherten und Einnahmen der Krankenkassen. Die Zahlungen der Versicherten sollen weiter vom Einkommen abhängen, aber die Kassen erhalten für jeden Versicherten den gleichen Betrag. Wenn eine Kasse mehr braucht, zahlt das der Versicherte voll. Wenn sie mit weniger auskommt, kommt ihm die Differenz voll zugute. Selbst dann, wenn er wenig verdient und deshalb viel weniger einzahlt, als die Kasse für ihn aus dem Fonds erhält. Es lohnt sich also gerade auch für die Versicherten mit niedrigem Einkommen, eine ihren Bedürfnissen entsprechende Kasse zu wählen. Daraus könnte ein stärkerer Wettbewerb zwischen den Kassen entstehen, was sicher wünschenswert ist, weil dann Überaufwand abgebaut würde. Das Gesundheitswesen ist aber sehr komplex, das Verhältnis von Zahlungen der Versicherten und Kasseneinnahmen nur ein Aspekt von vielen.

Welche Aspekte erscheinen Ihnen noch wichtig? Die Bezahlung der Ärzte natürlich. In meinem Labor liefen zu dieser Frage einige Experimente. Es gibt ja zwei Extreme: die Leistungsvergütung – jede ärztliche Leistung wird zu einem festen Tarif bezahlt. Und die Pauschalvergütung – der Arzt erhält für jeden Patienten einen festen Betrag. Das Problem besteht dann darin, dass der Arzt selbst bestimmt, welche Leistungen er im Einzelfall erbringt. Die Theorie sagt, dass unter der Leistungsvergütung mehr Leistungen erbracht werden, als für den Patienten nützlich sind, und unter der Pauschalvergütung weniger, als für den Patienten nötig sind.

Wie sieht die Praxis aus? Unsere Experimente zeigen, dass der Effekt tatsächlich eintritt, aber wesentlich schwächer ist, als theoretisch erwartet. Ärzte werden eben nicht nur durch monetäre, sondern auch durch idealistische Motive geleitet.

Rechtfertigen diese Erkenntnisse tatsächlich Ihre aufwändigen Experimente? Aus Sicht der Wirtschaftsforschung unbedingt. In den Lehrbüchern heißt es bisher, der Mensch handle streng rational, wenn es ums Geld geht. Diesen voll rationalen Menschen gibt es aber nicht, weder in der Arztpraxis noch sonstwo. Wir handeln vielmehr eingeschränkt rational. Unser Alltag wäre viel zu komplex, wenn wir bei jeder wirtschaftlichen Entscheidung alle Kosten und Nutzen abwägen müssten. Intuition oder Erfahrung spielen eine weit größere Rolle, als die Theorie das einräumt.

Sie haben kürzlich beklagt, die klassische Wirtschaftstheorie greife auch in anderen Bereichen um sich, und sprachen von »ökonomischem Imperialismus«. Woran dachten Sie dabei? Etwa an die Soziologie. Dort steht zunehmend die Motivation des Einzelnen im Vordergrund. Früher hat man die Gesellschaft als Ganzes betrachtet. Man spricht heute auch vom Wettbewerb der Religionen, weniger bei uns, aber in Amerika, wo es viele Glaubensgemeinschaften gibt: Jede Religion müsse sich intensiv um die Klienten bemühen, sonst laufe sie Gefahr, sie an die Konkurrenz zu verlieren.

Halten Sie das für so abwegig? Natürlich gibt es einen Wettbewerb in allen möglichen Bereichen. Aber ich halte es für falsch, ein Modell aus der Wirtschaft komplett auf andere Bereiche zu übertragen. Wie auf die Frage, wie viele Kinder die Menschen in einer Gesellschaft bekommen.

Sie spielen auf das Elterngeld an. Auch hier gilt: Geld kann höchstens ein Faktor sein, wird aber die Menschen nicht unbedingt dazu bringen, mehr Kinder zu bekommen. Man darf nie vergessen: Selbst in der Ökonomie funktioniert die ökonomische Theorie nicht so recht.

Gibt es überhaupt Sätze in der Ökonomie, denen Sie uneingeschränkt zustimmen? Natürlich! Einen Großteil der Theorie will ich gar nicht bestreiten. Ich halte es nur für falsch, dass die Rationalität des Menschen so überbetont wird. Übrigens auch der Egoismus. Das führt dazu, dass die Leute glauben, sie müssten egoistisch sein, sonst handelten sie nicht wirtschaftlich-rational. Einer meiner früheren Assistenten hat in einer Studie gezeigt, dass Studenten nach einer Vorlesung in Wirtschaftstheorie anders denken als zuvor: egoistischer. Man muss also den Studenten mehr vermitteln, dass die Wirtschaftstheorie eben nicht sagt, sie sollen nicht anständig handeln. Selbst wenn es den Gewinn fördert: Ein Manager muss den Geschäftspartner nicht übers Ohr hauen oder bestechen.