Das Münchner Büro der Boston Consulting Group, der größte deutsche Standort der Unternehmensberatung, ist nach unerwarteten Grundsätzen gestaltet. Auf den ersten Blick erfüllt die Betriebsorganisation natürlich jeden Anspruch auf Mobilität und Flexibilität. Es gibt, mit Ausnahme der Sekretariate, keine festen Arbeitsplätze mehr für die 500 Mitarbeiter; die geräumigen, voll verglasten Doppelbüros mit dunklem Parkett und unabschließbarer Schiebetür sind vielmehr für alle Berater einer Abteilung benutzbar. Die Schnittstelle fürs Notebook hängt fast demonstrativ aus der Elektronikleiste der unbesetzten Schreibtische, wie eine Ikone der modernen Arbeitswelt; jeder Mitarbeiter hat zudem einen persönlichen Anmeldecode für den Telefonapparat, der automatisch auch als eigene Rufnummer gilt. In Sekundenschnelle lässt sich ein anonymer Arbeitsplatz in einen individuellen verwandeln.
Doch das ist nur die eine Seite der Büroorganisation in der Konzernzentrale in der Münchner Ludwigstraße. Auf die andere Seite weist das merkwürdige Vokabular hin, mit dem bei Boston Consulting über den eigenen Betrieb gesprochen wird. Die 13 Abteilungen in der Münchner Niederlassung heißen »Dörfer«: eine Terminologie, die von allen Mitarbeitern streng befolgt wird. Innerhalb dieser Dörfer gibt es, zumindest im Sprachgebrauch des Büroleiters Georg Sticher, jeweils einen »Dorfhäuptling«, der für die harmonische Arbeitsatmosphäre seines Abschnitts Verantwortung trägt. Das Prinzip der Namensgebung wird im ganzen Bürogebäude durchgehalten: Die großen Konferenzräume heißen nach Münchner Hausbergen, die Büros für Bewerbungsgespräche nach bayerischen Seen, und die mondäne Eingangshalle des Unternehmens, in der die Cafeteria und die Poststelle untergebracht sind, wird von allen »der Marktplatz« genannt.
In dieser Kombination von Mobilität und Territorialität, von hochabstrakter Arbeitswelt und einer konsequenten Metaphorik des Ländlichen zeigt sich, wie komplex Büroorganisation im Jahr 2010 in fortschrittlichen Unternehmen gedacht wird.
Als die Boston Consulting Group vor acht Jahren ihre neuen Münchner Räume bezog, war zeitgemäße Arbeitskultur gleichbedeutend mit größtmöglicher Flexibilität. Das »Hotelling«-Konzept hatte sich in amerikanischen Unternehmen gerade etabliert und wurde auch in Europa populär: Am Empfang gibt es eine Art Check-in, an dem sich die Mitarbeiter jeden Morgen aufs Neue einen freien Arbeitsplatz zuweisen lassen. Alles, was an privaten Gegenständen nötig ist für den Angestellten, passt in einen kleinen Rollcontainer, der Tag für Tag an einen neuen Schreibtisch gezogen und abends in einem Vorraum abgestellt wird. »Hotelling« oder »Desk Sharing« gilt gerade in Unternehmen, in denen viele Mitarbeiter regelmäßig unterwegs sind, als effizientes und kostensparendes Betriebsmodell.
Die Boston Consulting Group entschied sich nach dem Umzug gegen dieses »extrem anonyme Konzept«, wie Georg Sticher sagt. Dem Faktor der »Flächeneffizienz« (er spricht das Wort fast verächtlich aus) setzt das »Dorf«-Modell eine großzügige, heimelige Raumgestaltung entgegen, mit offenen Kaffeeküchen in der Mitte der langen Flure. Das viel beschworene Mantra bei Boston Consulting lautet dagegen »Kommunikation«: Deshalb werden in den Dörfern Berater vereint, die sich nicht ohnehin schon durch gemeinsame Projekte oder übereinstimmende Arbeitsfelder kennen, um eine übermäßige Clusterbildung im Unternehmen zu verhindern.
Die Büroorganisation der Boston Consulting Group – so genau reflektiert, dass in den Konzept-Papieren sogar die erwarteten Laufwege der Mitarbeiter berechnet wurden – ist die jüngste Variante einer Entwicklung, die vor genau hundert Jahren begonnen hat. Am Anfang der wissenschaftlichen Analyse von Arbeitsabläufen steht Frederick Winslow Taylors berühmte Schrift über Scientific Management von 1911 und sein Kampf gegen die »Vergeudung menschlicher Arbeitskraft«: ein Ansinnen, dessen überwältigender Erfolg schon daran erkennbar ist, dass sich für besonders straff organisierte Betriebsführungen rasch der Begriff des »Taylorismus« einbürgert. Seit den Dreißigerjahren werden die Rationalisierungsmaßnahmen, die Taylor und wenig später Henry Ford für den Fabrikraum durchgesetzt haben, zunehmend auf die Büroorganisation übertragen.
Ein zentrales Element dieser Rationalisierung ist das Aufkommen der Großraumbüros, nach dem Krieg verfeinert im Modell der »Bürolandschaft«, mit Stellwänden, großen Topfpflanzen und Besprechungsarealen, wie es bis in die Achtzigerjahre hinein in den großen Unternehmen Deutschlands Standard war.
Das grenzenlose Büro
Dass Büroarbeit im 20. Jahrhundert immer häufiger im Großraum stattfindet, hängt vor allem mit der effektiveren Disziplinierung der Mitarbeiter zusammen; es ist unmöglich, nichts zu tun, wenn alle anderen Kollegen in direkter Nachbarschaft platziert sind. Mit dem Aufkommen des digitalisierten Büros, der verlässlichen Erfassung von Arbeitsleistung auf elektronischem Weg, ist die gegenseitige Kontrolle im Großraum obsolet geworden. Körperliche Präsenz spielt keine Rolle mehr für einen Großteil der Büroorganisation, spätestens seit der selbstverständlichen Nutzung des Internets. Ein Effekt dieser Entwicklung ist das »Home Office«, eine der meistdiskutierten Tendenzen der Betriebsführung in den letzten Jahren.
In der Kölner Niederlassung von Microsoft etwa, im Herbst 2008 eröffnet und seither immer wieder als modernstes Bürogebäude Europas gewürdigt, ist die Bedeutung dieses Konzepts überall spürbar. Von den 310 Angestellten arbeiten 78 ganz von zu Hause aus. Sie sind »im Home Office«, wie es der Niederlassungsleiter Paul Meier formuliert, vielleicht um sprachlich jene Eingebundenheit in die Arbeitsgemeinschaft zu betonen, die faktisch gerade nicht mehr besteht. Doch auch von den restlichen Angestellten in Köln sind die meisten regelmäßig unterwegs, sodass laut Meier mehr als achtzig Prozent der internen Besprechungen mittlerweile virtuell geführt werden.
Neben den eleganten, spärlich besetzten Großraumbüros am Rheinufer (ein Einzelzimmer hat nur der Betriebsrat) gibt es daher zahlreiche Räume für Telefon- und Videokonferenzen, ausgestattet mit einer neuen Microsoft-Technik namens »RoundTable«, deren 360-Grad-Kamera das bislang so holprige Medium Videokonferenz professionalisiert hat.
Das Kölner Büro stellt die Betriebsorganisation demnächst auf freie Arbeitsplatzwahl in den Abteilungen um. Bislang hat Paul Meier noch einen eigenen Bereich in der Etage der leitenden Angestellten. Während er die ökonomischen Vorteile des neuen Systems referiert, steht er vor seinem Schreibtisch, der Blick fällt auf drei große Kinderzeichnungen, die neben dem Computer hängen, die typischen Bilder mit Strichmännchen, einem Haus und einer dreieckigen Sonne am oberen Rand. Was denn mit diesen Blättern geschehe, wenn er jeden Tag woanders sitzt? »Tja«, sagt Meier, und der wortgewandte Büroleiter, ein früherer Weltklasse-Zehnkämpfer, wird zum einzigen Mal schweigsam, fast verlegen. »Das sind die jüngsten Werke meiner Tochter. Die haben dann wohl keinen richtigen Platz mehr.« Er wird sie nach der Umstellung mit nach Hause nehmen.
In konventionellen Büros haben diese Identitätszeichen von jeher die Funktion, dem neutralen Ort einen persönlichen Anstrich zu verleihen, jene Familienfotos, Ansichtskarten und Witzschilder, die man bis heute an den Pinwänden in städtischen Behörden oder Polizeipräsidien sieht. In der Welt des Desk Sharing sind diese Identitätszeichen nicht mehr vorgesehen, allenfalls in Gestalt von Bildschirmhintergründen auf Notebooks und Mobiltelefonen.
Der veränderten Raumstruktur in avancierten Konzernen entspricht eine neue Organisation der Arbeitszeit. Im Kölner Microsoft-Büro etwa wird Anwesenheit nicht mehr erfasst; jeder Mitarbeiter kann seine Zeit frei einteilen, solange er die vereinbarten Aufgaben termingerecht und zuverlässig erfüllt. Das alte, sprichwörtliche »Nine to five«-Modell, mit seinen Ausdehnungen wie »Gleitzeit« oder »Kernarbeitszeit«, ist einem ganz anderen Unternehmenskonzept gewichen.
Es geht nicht mehr um eine festgelegte, für alle vorgegebene Zeitspanne, die durch körperliche Anwesenheit im Büro abgegolten wird, angefüllt mit mehr oder weniger fokussierter Tätigkeit. Betrieblich organisierte Arbeitszeit wird vielmehr ersetzt durch persönlich organisierte Arbeitsintensität. Paul Meier selbst sagt dazu den schönen Satz: »Seit ich bei Microsoft bin, nehme ich Staus auf der Autobahn nicht mehr als Problem wahr.« Er nutzt diese Stunden nun für konzentrierte Telefongespräche, zu denen er im Büro nicht kommt.
Die Grenzen zwischen beruflicher und privater Existenz lösen sich in einer Unternehmensstruktur wie bei Microsoft zunehmend auf. In der Lebenswelt der Mitarbeiter wiederholt sich, was die transparenten Bauten mit ihren Panoramafenstern bereits architektonisch vermitteln: dass es im zeitgemäßen Büro in erster Linie um den Abbau von Schwellen geht, zwischen Räumen genauso wie zwischen Zeitabschnitten.
Diese Entwicklung hat zunächst definitiv ein befreiendes Moment. Man darf nicht vergessen, dass viele der knapp zwanzig Millionen Büroangestellten in Deutschland weiterhin in strikt reglementierten Betrieben arbeiten, in denen private Telefongespräche oder der Gebrauch des Internets untersagt sind und bereits das Aufladen des Handy-Akkus in einer Konzernsteckdose als Kündigungsgrund gilt.
Der Angestellte ist sein eigenes Büro - aber nicht ohne Konsequenzen
Dennoch führt die neue Selbstverantwortung zu Schwierigkeiten – zu Schwierigkeiten, die der alten marxistischen Kritik von der »Entfremdung« des Arbeitnehmers gerade entgegengesetzt sind. Es geht immer häufiger um die problematischen Konsequenzen übermäßiger Identifikation. Die steile Karriere des Begriffs »Work-Life-Balance« macht diese Verschiebung deutlich. Solange die Schwellen zwischen Büro- und Privatleben nicht eingeebnet waren, gab es diese Bedrohung nicht. In der jüngsten Vergangenheit ist das Ausbalancieren der eigenen Existenz jedoch eine derart massive Herausforderung geworden, dass ein Konzern wie Microsoft jedes Jahr den sogenannten Workgroup Health Index seiner Mitarbeiter erhebt.
Aufschlussreich ist, dass sich Anwesenheitskontrolle in Unternehmen grund-sätzlich nicht mehr auf die Entlarvung von Drückebergern zu konzentrieren scheint. Bei Taylor war das noch eines der wichtigsten Anliegen: ein Modell zu erfinden, das die Faulheit des Einzelnen systematisch eliminiert. Wenn man heute in einem Großkonzern wie der Allianz zu Gast ist, mit 11 000 Mitarbeitern allein in München, dann wird die Frage nach der Zeiterfassung vielmehr mit dem Hinweis beantwortet, dies geschehe nur noch, um Überarbeitung zu verhindern.
Ganz ähnlich äußert sich Paul Meier: »Der Freiraum bei uns führt dazu«, sagt er, »dass man eher mehr als weniger tut«, und er bekennt, dass er das Laisser-faire-Prinzip seiner Betriebsführung nur dann korrigiert, wenn ein Kollege dauerhaft nach 22 Uhr E-Mails schreibt. Was in der Soziologie neuerdings unter dem Stichwort des »emotionalen Kapitalismus« verhandelt wird, der unauflöslichen Verschränkung von ökonomischer Logik und persönlicher Ambition im Umgang der Menschen, ist auf dem Feld der Bürokultur besonders deutlich wahrnehmbar.
Die neuen Angestellten sind keine passive, fremdbestimmte Masse mehr, eingemauert in Büroparzellen, wie sie das frühe 20. Jahrhundert beschrieben hat. Sie sind vielmehr Virtuosen des Selbstmanagements, flexibel und hochmotiviert. Ihre Unfreiheit äußert sich als Drama der Übererfüllung, Burn-out-Syndrom statt Entfremdung.
So arbeitet das Büro im traditionellen Sinn konsequent an seiner eigenen Auflösung. Und vielleicht ist es gerade vor diesem Hintergrund zu verstehen, warum eine thematisch eher abseitige Fernsehserie wie Mad Men in den letzten drei Jahren zu einem solchen Welterfolg werden konnte, leidenschaftlich verehrt von jungen Berufstätigen in Metropolen zwischen Los Angeles, Berlin und Tokio. Denn die in aller historischen Akkuratesse erzählte Geschichte einer New Yorker Werbeagentur um 1960 entwickelt ihre Sogkraft gerade aus der Geschlossenheit des dargestellten Milieus.
Es ist die Feier des Kosmos »Büro«, als manchmal banale, manchmal intrigante, aber letztlich identitätsstiftende Gemeinschaft mit all ihren Ritualen: von der beiläufigen Geste, mit der die Sekretärin morgens den Mantel ihres Vorgesetzten abnimmt, bis zum Griff zur Whisky-Karaffe bei einer Besprechung, vom bereitliegenden frischen Hemd in der Schreibtischschublade, nach einer Nacht im fremden Bett, bis zur gemeinsamen Arbeit an einem neuen Slogan, die im Hin und Her der Assoziationen fruchtbarer ist als das Nachdenken allein.
Wie märchenhaft die Inszenierung dieses Büroalltags auch sein mag, mit Superhelden wie Don Draper und Überfrauen wie Joan Holloway: Ihr wahrer Sehnsuchtskern besteht für die heutigen Desk-Sharing- und Rollcontainer-Existenzen in der Darstellung eines Büros als Gemeinschaft, als Ort im emphatischen Sinn.
Das halbe Jahrhundert, das seitdem vergangen ist, hat alles unternommen, um diesen Ort auszuhöhlen, um ihn zu einem möglichst durchlässigen, mobilen Nicht-Ort zu machen. Es scheint jedoch, als hätten die avanciertesten Konzepte der letzten Jahre erkannt, dass diese Aushöhlung an ein Ende gekommen ist. Das Büro der Zukunft wird, wenn der Eindruck nicht trügt, wieder verstärkt als erfahrbarer Raum gestaltet werden.
Fotos: Iwan Baan, Shannon McGrath, Maurice Mentjens, Udo Meinel