Ganz normal: Aelita Andre malt gern bunte Bilder. Weniger normal: Sammler zahlen dafür sehr viel Geld. Ist die Kleine ein Wunderkind? Oder nur ein Produkt von Eltern, die ihren Nachwuchs für etwas ganz Besonderes halten?
Aelita Andre reckt mir ihr Engelsgesicht entgegen, als wolle sie ihre Nase an meine Brillengläser pressen. Doch dann entschließt sie sich, lieber mit ihren klebrigen Fingern draufzupatschen. Das geht ja gut los. Ich habe fünfjährige Kinder gebadet und angezogen, getröstet und bespaßt, aber noch nie eines interviewt. Und mir nie darüber Gedanken machen müssen, ob ich es vielleicht falsch zitiere.
Dabei ist Aelita längst eine Medienveteranin. Sie hat ihre eigene Webseite, einen Wikipedia-Eintrag, mehr Google-Treffer und Youtube-Videos als manche erwachsene Prominente. Die New York Times, der Guardian, die BBC und andere Fernsehsender haben über sie berichtet, und das Time Magazine fragte letztes Jahr auf seiner Webseite: »Ist diese Vierjährige ein neuer Picasso?«
Im Juni 2011, da war Aelita vier Jahre alt, hatte sie ihre erste Einzelausstellung in der New Yorker Agora Gallery. Alle ausgestellten Arbeiten wurden verkauft, für zusammen rund 190 000 Euro. Auch für die Käufer kann sich Aelitas Kunst, die wechselweise dem »Abstrakten Expressionismus« oder dem »Surrealismus« zugerechnet wird, durchaus lohnen. Jüngst hat jemand eines ihrer Frühwerke namens »Mir-Station in Kirschblüten«, das er für 650 Euro erstand, an einen Kunstfreund in Hongkong veräußert – für das Dreißigfache. Im Juni wird es in der Agora Gallery in New York eine weitere Aelita-Ausstellung geben, vielleicht fliegen auch dann wieder Sammler aus Kalifornien mit dem Privatjet ein wie beim letzten Mal.
Als ich Aelita im bescheidenen Haus ihrer Eltern in einem Vorort von Melbourne besuche, trägt sie ein sehr kindliches Kaugummipink. Unsere Begegnung findet an jenem Ort statt, an dem ihre Kunst entsteht – eine wilde Kreuzung von Atelier und Kinderzimmer. Auf dem Boden ausgepresste Farbtuben und Pinsel, dazwischen ein Kinderschlagzeug, Stofftiere, Barbiepuppen und eine Herde Plastikponys. Ganz hinten in der Ecke sitzen an einem kleinen Tisch, auf dem ein Samowar zischt, ihre sie abgöttisch liebenden Eltern.
Aelitas russischstämmige Mutter Nikka Kalashnikova, die ihr Alter mit »ungefähr vierzig« angibt, hat in Sankt Petersburg Musik studiert, ehe sie vor zwanzig Jahren nach Australien auswanderte und Michael Andre, 49, kennenlernte und heiratete, einen Filmemacher und Sohn russischer Immigranten. Zusammen betreibt das Paar eine Filmproduktion namens »2 Mad Russians«, der allerdings noch kein Kassenknüller gelungen ist.
Längst ist Aelita zum wichtigsten kreativen Projekt ihrer Eltern geworden. Stolz erzählen sie, dass der Kurator einer Kunstbiennale in der Toskana sie als »Genie« bezeichnete und unbedingt in seiner Show haben wollte und dass sich Galerien in Russland und Malaysia um Ausstellungen bemühen.
Unterdessen benimmt sich Aelita so hibbelig wie jede gesunde Fünfjährige. Sie kämmt ihrer Mutter mit einem Puppenkamm die Haare, will mit einem Plastiknetz im Planschbecken im Garten fischen, stibitzt sich aus einem Karton, der eigentlich nicht für sie gedacht war, einen Schokoladenfrosch. Wenn man ihr im Action-Modus zusieht, fragt man sich, wie sie wohl lange genug stillhalten kann, um anderthalb Quadratmeter große Gemälde zu erschaffen.
Doch vielleicht ist diese unbändige Energie die Erklärung für jenen Produktivitätsausbruch, bei dem während eines dreiwöchigen Florida-Urlaubs bei Verwandten gleich 16 neue Aelitas entstanden. »Es war brüllend heiß, die Moskitos stachen wie verrückt, aber sie wollte unbedingt malen«, erzählt Kalashnikova. »Selbst nach Sonnenuntergang machte sie weiter, Taschenlampe in der einen, Pinsel in der anderen Hand. Es war unglaublich!«
Angela Di Bello, Leiterin der New Yorker Agora Gallery, hält ihre neueste Errungenschaft (»der jüngste professionelle Künstler der Welt«) für »außergewöhnlich begabt« und mit einem großen Verständnis für Farbe, Komposition und Textur gesegnet. Ihrer Auffassung nach werden die Käufer von Aelitas Arbeiten nicht vom Hype, sondern durchaus von der Kraft ihrer Kunst angezogen.
Noah Horowitz, Autor eines Buches über den globalen Kunstmarkt, vermutete in einer Besprechung in der New York Times, dass der Erfolg des Mädchens zum Teil ein Internet-Phänomen ist, beurteilte dessen Kunst aber bemerkenswert nachsichtig: »Ihre Arbeiten tun niemandem weh und sind zweifelsohne ›künstlerisch‹ – sie ähneln dem, was wir weltweit in Hotels, Wartebereichen von Unternehmen und Wohnzimmern zu sehen bekommen. Vermutlich können sich die meisten Menschen darauf einigen, dass das hübsch ist.«
Auch der Kunstkritiker Robert Nelson glaubt nicht, dass hinter Aelitas Aufstieg dunkle Absichten stehen, erkennt in ihrem Werk aber eine unverwechselbar erwachsene Ästhetik. »Die Mutter wird nicht müde, die Urheberschaft ihrer Tochter zu betonen, aber in den Bildern sieht man viele elterliche Einflüsse«, sagt er. »Sie malt zum Beispiel bis in die Ecken, was für ein Kind dieses Alters unüblich ist. Die Farbkomposition ist sehr ausgereift, mit einem zentralen Motiv in der Mitte des Bildes und einem zweiten in einer Ecke. Es ist ziemlich offenkundig, dass während des Malens eine Form von Betreuung stattfindet.«
Ohne Überwachungskameras in Aelitas Atelier sind wir diesbezüglich auf die Auskünfte der Eltern angewiesen. Sie haben über Aelita ein Video mit dem Titel Ein Wunderkind der Farbe gedreht, auf dem man zum Klang von Windspielen und klassischer Musik beobachten kann, wie sie mit Farbe hantiert, aber man sieht sie kein einziges Mal ein Bild von Anfang bis Ende malen. Von Aelitas Beispiel befeuert, hat eine Mutter aus New Jersey ihr eigenes Winderkind-Video über ihren zweijährigen Sohn gedreht und ins Internet gestellt – eine einzige ungeschnittene Sequenz, damit niemand Zweifel daran haben kann, dass es sich bei dem matschigen Klecks, den der Junge produziert, um dessen eigenes Werk handelt. Manchmal entscheidet eben das Wissen, wann man aufhören muss, darüber, ob man Kunst erhält oder bloß eine verdorbene Leinwand – umso mehr bei einem Kind, das sich leicht zu einem Farbenrausch hinreißen lässt.
Greifen Andre und Kalashnikova jemals ein, um Aelitas Bilder vor ihrem Schaffensdrang zu retten? »Das würde die Reinheit des Ausdrucks zerstören«, widerspricht Andre mit einem Anflug von Empörung. Schlagen sie ihr Farben, Techniken vor? »Wir gehen mit ihr in den Künstlerbedarfsladen, sie sucht sich die Farben aus. Unsere Rolle ist es, sie zu unterstützen. Mehr machen wir nicht.«
Kalashnikova und Andre verhandeln über Galerieverträge, legen die Preise für Aelitas Hervorbringungen fest, verwalten ihre Termine mit den Medien und betreuen ihre Webseite. Aber vor allem warten sie darauf, dass die Muse sich einstellt. »Wir können nicht sagen, wie und wann es geschieht«, sagt Kalashnikova. »Aber wenn Aelita sagt, dass sie malen will, lassen wir alles fallen und stellen zwei Kameras an. Wie sie arbeitet, ist einfach unglaublich. Wenn sie eine Inspiration hat, malt sie.«
»Warum malst du so gern?«, frage ich. »Sag ich dir nicht«, antwortet sie
Michael Andre räumt immerhin ein, dass er für die Titelfindung von Aelitas Frühwerken verantwortlich ist. »Ich schaute, ob etwas auf ihren Bildern mir etwas sagte oder ob ich irgendwelche Objekte identifizieren konnte.« Mittlerweile, insistiert er, tauft Aelita ihre Bilder selbst. Manche von ihnen tragen beruhigend kindgerechte Titel – Pferd, Die Blaue Katze oder Drachen – andere prunken mit Frühreife: Von einem Kind ihres Alters erwartet man nicht unbedingt, dass es seine Bilder Drei Spaziergänger und ein tanzender Clown oder Freiheitstanz nennt. Die Nebula-Serie – interplanetarische Wolken aus Staub und Gas – kündet augenscheinlich von Aelitas Interesse an Weltraum-Fernsehdokus. Michael Andre: »Sie guckt sich das an und hört aufmerksam zu, und hinterher nennt sie ein Bild ›Schmetterlingsnebel‹, aber es kommt vor, dass es später anders heißt, ›Sponge-Bob-Hose‹ oder so. Kinder verstehen ja noch nicht, dass Namen etwas für immer sind.«
Mir gegenüber jedenfalls erwähnt Aelita die Astronomie nicht, und als Kalashnikova die Rede darauf bringen will, bockt sie: »Kate hat dich nach Schwerkraft gefragt. Was weißt du darüber?« Aelita: »Weißt du doch selber, du hast es mir doch selbst erklärt.« Ein ähnlich irritierender Augenblick stellt sich ein, als Kalashnikova nach Aelitas Lieblingsmaler fragt. »Marc Chagall«, lautet die prompte Antwort. Wieso?, will Mama wissen. »Weiß ich nicht. Manche mag ich. Manche mag ich nicht. Jeder Maler ist mein Lieblingsmaler.« Kalashnikova erzählt, dass ihre Tochter von Picasso fasziniert sei. »Ganz erstaunlich«, bemerkt sie. »Sie ist wirklich sehr entschieden in ihren Meinungen.«
Aelita drückt sich bemerkenswert intelligent aus, aber die Auffassungen und Absichten, die ihre Eltern ihr zutrauen, übersteigen bei Weitem den Horizont einer Fünfjährigen. Manchmal liegen die beiden in ihren Interpretationen über Kreuz. »Chaos gehört zu Aelitas Stil«, sagt Andre. »Aber für sie ist es kein Chaos, sondern Ordnung«, widerspricht Kalashnikova. Andre: »Erwachsene neigen dazu, in allem, was sie sehen, eine Ordnung zu wittern, egal wie chaotisch es erscheint. Für mich liegt die Schönheit dessen, was Aelita malt, darin, dass es chaotisch ist, aber dass dieses Stück Chaos seine eigene Form und Kontur hat.«
Von Aelita selbst Auskunft über ihr Schaffen zu erhalten gestaltet sich mühsam. »Warum malst du so gern?«, frage ich. »Sag ich dir nicht«, antwortet sie: »Das ist mein Geheimnis, und nur Mami und Papi dürfen meine Geheimnisse wissen.« Irgendwo habe ich gelesen, dass Gelb ihre Lieblingsfarbe sei, und frage sie nach dem Grund. Aelita: »Weil Gelb eine berühmte Farbe ist. Sehr berühmt.«
Zum ersten Mal ans Licht der Öffentlichkeit trat das Wunderkind im Januar 2009. Kalashnikova hatte in Melbourne eine Galerie gemietet, vorgeblich, um zusammen mit einer befreundeten Fotografin namens Julia Palenov eigene Werke auszustellen, und in den Wochen davor dem Galeriebesitzer Mark Jamieson einige Bilder gezeigt, von denen sie sagte, sie stammten von einer Russin. Er mochte, was er zu sehen bekam, und war einverstanden damit, sie in die Ausstellung aufzunehmen. Am Tag vor der Vernissage rief Kalashnikova bei einer Tageszeitung an, um ihren Coup zu landen.
Jamieson kann sich noch lebhaft an seine Verwunderung erinnern, als er den Anruf eines Journalisten erhielt, der ihn um eine Stellungnahme bat. Bis dahin hatte er von Aelitas Alter nicht die leiseste Ahnung gehabt. Am Morgen nach der Ausstellungseröffnung baten auf seiner Mailbox fünfzig Anrufer aus aller Welt um Rückruf, und vor der Galerie hatte sich ein Kamerateam aufgepflanzt.
Julia Palenov, jene Fotografin, der ihre Freundin nur gesagt hatte, sie wolle zwei oder drei Bilder Aelitas unter ihre eigenen Arbeiten mischen, hat unterdessen jeden Kontakt zu Kalashnikova abgebrochen. »Sie hat die ganze Ausstellung ruiniert«, sagt sie immer noch verärgert. »Nikka wollte sogar Arbeiten von Aelita kaufen, um für Publicity zu sorgen. Ich musste ihr erst klarmachen, dass so etwas nicht ehrlich ist.« Auf das Mädchen selbst lässt sie nichts kommen: »Ich wünsche Aelita nur das Allerbeste.«
Michael Andre hat an der La Trobe University in Melbourne Film studiert und arbeitet von zu Hause aus als freier Videoproduzent. Er lernte seine Frau kennen, als er für sie ein Musikvideo drehte. In den ersten zehn Jahren ihrer Ehe schufen sie zusammen eine Reihe von Low-Budget-Filmen und 2006 ihren ersten Spielfilm – einen »psychosexuellen Thriller« namens Jupiter Love, bei dem die beiden für das Buch, die Regie, die Kamera und die Hauptrollen sorgten. In den Kinos floppte der Film, doch immerhin wurde er beim Melbourner »Underground Film Festival« mit einer Auszeichnung für die »besten überflüssigen Sexszenen« bedacht.
Als ich Andre frage, mit wem in der Filmindustrie ich über die beiden sprechen könnte, verspricht er mir einen Rückruf. Stattdessen kommt eine SMS von Kalashnikova. »Ich würde gern Aelitas Kunst und das Berufsleben von Michael und mir so weit wie möglich auseinanderhalten, um keinen Anlass für das Missverständnis zu geben, dass wir im Windschatten von Aelitas Erfolg die Werbetrommel für uns rühren wollen.« Vom Ruhm ihrer Tochter profitieren zu wollen ist noch einer der milderen Vorwürfe, die ihnen entgegenschlagen. Wie allen Eltern von Wunderkindern wird ihnen sehr viel häufiger nachgesagt, dass sie das Talent ihres Kindes ausbeuten wollen. Am hitzigsten war die Debatte im Internet, schon weil dort jeder seine Meinung anonym loswerden kann. Andre ist immer noch von jenem Zeitgenossen schockiert, der sie wissen ließ: »Ich hoffe, ihr bekommt beide Aids und sterbt.« Und auf der Webseite der Agora Gallery hinterließ jemand folgenden Tadel: »Mein Kind (ebenfalls das Kind zweier Künstler) hat mit 22 Monaten in einer kommerziellen Galerie ausgestellt und ist mit demselben Talent gesegnet, erstaunliche Kunst zu erschaffen. Wir haben uns allerdings dafür entschieden, dieses Talent nicht auszubeuten, indem wir die von ihm geschaffenen Werke als etwas anderes ausgeben, als sie sind – die spielerische Antwort eines Kindes, das die Gelegenheit bekommt, mit Materialien und Farben herumzukleckern.«
Bei meinen Gesprächen mit Kalashnikova und Andre hatte ich nie den Eindruck, dass sie ihre Tochter auspressen wollen. Mir kam es eher so vor, dass sie wie die meisten Eltern völlig verschossen in ihr Kind und deswegen zu seinen Dienern geworden sind. Mittlerweile haben sie kaum noch für etwas anderes Zeit, als um Aelita zu kreisen und das Management jener Legende zu betreiben, die sie in die Welt gesetzt haben.
Andre: »Ich finde es einfach herzlos, dass die meisten Kinder damit abgespeist werden, dass man ihnen ein paar Blätter Papier und Farbstifte in die Hand drückt. Stellen Sie sich vor, wir hätten noch das Zeug, das Picasso in seiner Kindheit gemalt hat. Das würde doch heute ganz sicher im MoMA hängen. Warum traut man Kindern nicht zu, Kunst schaffen zu können? Für mich besteht die Leistung Aelitas darin, dass sie für die Kunst von Kindern eine Position im öffentlichen kommerziellen Raum erobert hat, wo sie hingehört.«
Andre gibt zu, dass er enttäuscht wäre, wenn Aelitas kostbares Talent verschwände oder wenn sie ihren Geist auf weltlichere Dinge lenken sollte. »Ich wäre unehrlich, wenn ich behaupten würde, dass mich das nicht bekümmern würde. Definitiv hätte ich gern, dass sie weitermacht.« Jetzt aber ist sie noch der ganze Stolz ihres Vaters, ein fröhliches, quirliges Mädchen – und eine Künstlerin. Kurz vor meinem Aufbruch schnappt sie sich ein Stück Kreide und nimmt sich des Kaninchens an, das auf einer Tafel vorgemalt ist: »Ich male ihr einen Busen«, kichert sie, »ich mal ihr den Busen bunt an.«
Bei meinem Abschied frage ich Aelita, was sie werden will, wenn sie einmal groß ist. »Prinzessin«, sagt sie, natürlich. Sie hat größere Chancen, eine berühmte Künstlerin zu werden. Aber diesen Punkt in ihrem Lebenslauf hat sie schon abgehakt. Und sie ist gerade erst fünf geworden.
Fotos: dpa