Nodar Kumaritaschwili ist schon fast ein Jahr tot, aber man kann ihm noch immer beim Sterben zusehen, das Video seines letzten Rennens ist nach wie vor im Netz. Ein dünner Mann in einer Eisrinne, blauschwarzer Anzug, Startnummer 30, ein Mann auf einem Rodelschlitten bei einem Trainingslauf. In Kurve 16 hebt es ihn aus der Bahn, einen kurzen Moment fliegt er, dann stehen da die Eisenträger der Dachkonstruktion. Die Bilder sind verwackelt und lautlos, aber man muss nichts hören, um die Wucht des Aufpralls zu spüren. Während, links im Bild, der Schlitten allein durch die Eisrinne schlittert, regt sich rechts im Bild nichts mehr. Alles reißt und bricht und platzt in einem Menschen, der mit 145 km/h auf ein Hindernis wie dieses geschleudert wird. Die olympische Rodelbahn von Whistler war zu anspruchsvoll für Nodar Kumaritaschwili, den unerfahrenen Rodler aus Georgien. Er starb, 21 Jahre alt, zu einem ungünstigen Zeitpunkt.
Ein paar Stunden später wurden die Olympischen Spiele in Vancouver eröffnet, Milliarden Menschen schauen sich das Fest im Fernsehen an. Die Eröffnungsfeier ist die größte Bühne, die es gibt. Das Olympische Komitee widmete die Feier dem toten Rodler, beim Einmarsch der Nationen trugen die Sportler der georgischen Mannschaft schwarze Schals und schwarze Armbänder, keiner von ihnen winkte ins Publikum, sie lachten nicht, sie gingen nur. Die Eröffnungsfeier war gerade vorbei, da wurde ein offizielles Statement abgegeben: Tragisches Unglück, stand darin, aber der Rodler sei schuld, nicht die Bahn. Man werde das Eis aufrauen, um Tempo rauszunehmen. Man werde Stahlträger abpolstern. Doch man werde die Wettkämpfe wie geplant stattfinden lassen. Die Art, wie man in Vancouver den Tod des Rodlers auszublenden versuchte, lässt einen frösteln, im Abstand von beinahe einem Jahr noch mehr.
Der Bob-Weltverband verpasste einen Maulkorb: Die Sportler sollen nicht bloggen, sie sollen nicht reden über das, was die Show stört. Der Umgang mit Kumaritaschwilis Tod zeigte, welch totalitären Charakter eine Veranstaltung entwickelt, die für sich in Anspruch nimmt, »Spiel« genannt zu werden. The games must go on.
Die Bahn, auf der Kumaritaschwili starb, sollte die schnellste der Welt sein, einzigartig, halsbrecherisch. Deshalb stehen die Stahlträger da, an denen der Rodler zerschellte: Sie tragen das Dach, das sich über die Bahn spannt, denn nur ein Dach sorgt dafür, dass das Eis darunter spiegelglatt und hart wie Glas ist und ein Tempo bis zu 150 km/h ermöglicht. Von alldem stand nichts im Abschlussbericht, den der kanadische Untersuchungsrichter im Oktober vorlegte, nach einem halben Jahr Recherche kam er zu einem Ergebnis, das niemandem wehtat. Verantwortlich für Kumaritaschwilis Tod war niemand, es war eine Verkettung unglücklicher Umstände.
Sie haben ihn in seiner Heimatstadt begraben, Bakuriani, im Kleinen Kaukasus. Das Haus der Familie war Jahre zuvor abgebrannt. Auch deshalb war der einzige Sohn Rodler geworden, mit den Prämien wollte er helfen, das Haus wieder aufzubauen. David Kumaritaschwili, Nodars Vater, weinte bei der Beerdigung, der Staatspräsident hatte versprochen, eine neue Rodelbahn bauen zu lassen, sie sollte Nodar-Kumaritaschwili-Bahn heißen, aber das war dem Vater egal. Er war selber Rodler gewesen, er kennt die Gefahren des Sports. »Solche Geschwindigkeiten dürfen niemals erreicht werden, sind zu viel für unseren Sport.«
Die anderen rasen nun wieder die Todesbahn in Whistler runter, der Weltcup 2010/2011 hat da begonnen. Grundlegend umgebaut wurde die Bahn nicht, immerhin etwas entschärft. Sie soll nicht mehr die schnellste der Welt sein, aber auch nicht langsam. Es gab keine neuen Geschwindigkeitsrekorde. »Was für ein lahmer Auftakt«, sagte Lyndon Rush, der Favorit aus Kanada. Nodar Kumaritaschwili ist noch nicht mal ein Jahr tot, aber viele haben ihn längst vergessen.
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