Es wäre gemein, einem einzigen Mann die Schuld an dem Grauen zu geben, aber seien wir jetzt einfach mal gemein: Dieter Tschorn war’s. Gibt er sogar selber zu. Dieter Tschorn hat Halloween zu einem deutschen Fest gemacht – »ich kann Ihnen auch genau sagen, wann das war: am 4. September 1994«. Die Sache war nämlich die: Durch den Irakkrieg 1991 waren Karneval und Fasching ins Wasser gefallen, und die ganze Feier- und Vergnügungsbranche ächzte unter den Umsatzeinbrüchen. Also tagten all die Indianerkostüm-, Pappnasen- und Furzkissenhersteller, die sich zur »Fachgruppe Karneval im Deutschen Verband der Spielwarenindustrie (DVSI)« zusammengefunden hatten, und beschlossen: Ein neues Fest muss her, aber flott, und zwar möglichst eins, das, anders als Karneval, nicht so ärgerlich abhängig vom Kirchenkalender ist – Halloween, der ursprünglich irische, längst aber vornehmlich amerikanische Mummenschanz in der Nacht vor Allerheiligen.
Auf diese Weise ließe sich die Karnevalssaison krisensicher nach vorn verlängern. Und so jagte Dieter Tschorn, der Sprecher der »Fachgruppe Karneval«, Artikel um Artikel an Zeitungsredaktionen raus: wie toll Halloween sei, wie man es fachgerecht feiert, was man dazu anzieht und was man dabei isst. »Es hat vier Jahre gedauert, dann war es Kult.« Der ihm selbst inzwischen ein bisschen unheimlich geworden ist, so scheint es. »Hallowahn«, sagt er und lacht müde.
Von Jahr zu Jahr wird es wahnsinniger. Am 31. Oktober ziehen jetzt nicht nur irrlichternde Kinderbanden in Horrorkostümen von Tür zu Tür, das ganze Land ist schon Wochen zuvor von allen guten Geistern verlassen: Bäckereien voller Spinnwebkekse, Schaufensterpuppen im Vampirlook und monströse Kürbisse mit Fratzengesichtern, wohin man blickt. Tschorn schätzt, dass in Deutschland inzwischen an die 200 Millionen Euro mit Halloween umgesetzt werden. »Für uns ist Halloween nach Weihnachten und Ostern zum drittwichtigsten Ereignis im Jahr geworden«, sagt Torben Erbrath vom Bundesverband der Deutschen Süßwarenindustrie. Auch die deutsche Landwirtschaft müsste Tschorn ein Denkmal bauen, schließlich hat er nicht nur Halloween, sondern auch den Kürbis erfunden: vor einer Generation noch hauptsächlich als Schweinefutter geschätzt, heute ein Modegemüse mit exponentiellen Absatzraten. Und das, obwohl die Dinger in Gewicht, Verarbeitung und Geschmack eine einzige Zumutung sind. Wer je eine Axt an einen ledrigen Kürbis gelegt hat und dann die nächsten Wochen Kürbissuppe essen musste, weiß, dass es kein besseres Wappengemüse für das Horrorfestival Halloween geben konnte.
Ginge es nur um die Frage, warum sich ein amerikanisches Fest wie Halloween so schnell im deutschen Feierkalender breitmachen konnte, wäre das mit der unheiligen Allianz von Dieter Tschorn, Harry Potter und diversen minderjährigen, aber gut gebauten Twilight-Vampiren schnell erklärt. Doch im Schlepptau von Halloween haben sich auch andere angloameri-kanische Sitten eingebürgert: Junggesellinnenabschiede, Babyshowers, aufwendige Geburtstagsfeiern (mit Zauberer!) für Einjährige, Abiturbälle, die mit langen Abendkleidern und Hochsteckfrisuren wie Highschool Proms inszeniert werden, selbst geschriebene Ehegelübde bei Hochzeiten, die neuerdings besonders gern im Freien unter einem Blütenbogen geschlossen werden, am besten gleich von zwei Geistlichen gesegnet – wir können es nicht länger ignorieren: Deutschland ist längst ein Einwanderungsland für amerikanisches Brauchtum.
All das könnte man gelassen hinnehmen, schließlich sind es ja nur harmlose Vergnügungen, was soll daran schon schlimm sein? Macht doch Spaß! Doch ebenso wie sich eingeschleppte Tierarten (der Waschbär, das Grauhörnchen, die Wollhandkrabbe) in fremder Umgebung meist aggressiv ausbreiten und ganze Ökosysteme zusammenbrechen lassen, so scheinen auch die neuen Brauchtümer fatale Konsequenzen zu haben und die dunkelsten Seiten aus den Menschen herauszuholen: Zu Halloween mutieren Kinder, über Jahre angelernt in der hohen Schule des Bettelns und der Erpressung (»Süßes oder Saures!«) zunehmend zu kleinen Monstern, es häufen sich die Anzeigen bei der Polizei. Klingelstreiche? Zahnpasta auf der Türklinke? Das war einmal. Stattdessen Eier- und Ketchup-Attacken, Farbbomben, Brandstiftung, in die Luft gesprengte Briefkästen; im Vorgarten ausgeleerte Mülltonnen sind noch das Harmloseste.
Süßes sonst gibt's Saures!
Die junge Frau heiratet morgen! Toll, und deshalb wird sie von ihren Freundinnen gezwungen, sich für ölige Stripper zu begeistern.
Auch die erwachsene Spielart der marodierenden Horde – der Junggesellen- und, schlimmer noch, Junggesellinnenabschied, adaptiert von der britischamerikanischen »Hen Party« – wird zunehmend zur Landplage. An den Wochenenden ziehen angezwitscherte Frauenbanden in identischen T-Shirts (auf denen in sechzig Prozent der Fälle entweder »Germany’s Next Top Bride« oder »Desperate Housewife« steht, gern garniert mit Gefängnismotiven oder Hundeleinen) durch die Kneipenviertel und verwickeln unschuldige Passanten in erniedrigende Spiele. Im Internet kursieren genaue Gebrauchsanleitungen, wie ein zünftiger Junggesellinnenabschied auszusehen hat. Gern wird zum Beispiel die Braut mit Handschellen an ein Heizungsrohr in einer Herrentoilette gefesselt, wo sie jemanden überzeugen muss, sie bei der Schar grölender Weiber loszukaufen, die bis gestern noch ihre Freundinnen waren. Gesitteter, aber nicht minder nervig sind Babyshowers, Prosecco-trunkene Damenkränzchen zu Ehren einer Schwangeren, wo unter hysterischem Gegacker und rituellem »Gott, wie süß«-Geseufze Kinderausstattung überreicht wird.
Gemeinsam haben die importierten Feiern, dass es immer um das hemmungslose Abgreifen von recht dreist eingeforderten Geschenken geht – und dass die Stimmung aller Beteiligten meistens eher angestrengt ist. Kein Wunder, denn die neuen Rituale sind noch so fremd, dass sich jede Partygesellschaft schnell wie eine Laienspielschar fühlt. Mit gequält guter Laune folgt man einem Skript, das ganz woanders geschrieben wurde, in den Drehbuchstuben von Sex and the City vielleicht oder in amerikanischen Highschools. Die Frage, die dabei in jeder Minute mitschwingt, lautet: Amüsieren wir uns hier so, wie es richtig ist? Haben wir den korrekten Spaß? Die Antwort lautet natürlich: Wenn man sich diese Frage stellen muss, ist man garantiert auf der falschen Party.
Warum also tut man sich das an? Woher kommt das Vergnügen an Peinlichkeit, Nötigung, schierem Terror? Und wieso hat jede amerikanische Vorabendserie offensichtlich die Macht, sofort neue Traditionen zu schaffen? Ist das die Rache für das Oktoberfest, das ja seinerseits ein Exporterfolg ist? Da werden die Soziologen in den nächsten Jahren einiges an Arbeit vor sich haben.
Ganz und gar nicht rätselhaft dagegen ist, wie gruselig erwartbar sich die üblichen Verdächtigen an solche Zeitgeist-Phänomene anzecken. Zu Halloween am 31. Oktober (an dem übrigens eigentlich der Reformationstag gefeiert wird, aber was sind 95 Thesen gegen »Pestsalat« aus schwarzen Nudeln und Hackfleisch?) strahlt RTL die Sendung Das Medium aus. Eine übersinnlich Begabte will dann mit jemandem reden, der seit 23 Jahren keine Interviews mehr gegeben hat: der 1987 in einem Genfer Hotelzimmer gestorbene Uwe Barschel. Seine Witwe Freya, die arme Seele, ist bei der Geisterbeschwörung auch dabei: »Mein verstorbener Mann ist bereit gewesen, mit uns zu sprechen«, sagte sie in einem Vorab-Interview, leider habe das Medium so viel geredet, dass sie selbst gar nicht recht dazu gekommen sei, ihren Uwe all das zu fragen, was ihr auf dem Herzen liege. Irgendein von allen guten Geistern verlassener Programmdirektor wird dafür in die Hölle fahren, so viel ist sicher.
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