Der Kolumnist sollte, wenn er schreibt, mehr wissen als die meisten seiner Leser. Äußert er sich über gelbliche Schleimpilze, sollte er aus diesem Bereich eine Nachricht parat haben, die der Leserschaft neu ist. Im besten Fall sollte er Gedanken oder wenigstens originelle Phantasien über gelbliche Schleimpilze und ihre Bedeutung für unseren Alltag entwickeln, die auch Schleimpilzkundlern in der Abgeschiedenheit ihrer Labore noch nicht gekommen sind. So dass auch sie mit Interesse diese Seite studieren.
Vor einer Woche stand hier ein Text über die Fähigkeit des Schleimpilzes Physarum polycephalu, mit Hilfe von Haferflocken den Netzplan der Tokioter U-Bahn nachzubilden. Man dachte: Schön und gut, aber weiß der Mann nicht, dass es in Tokio zur Zeit ein paar andere Probleme…?
Nein, er wusste es nicht. Der Kolumnist schreibt seinen Text neun Tage, bevor er erscheint. Mittwochs sitzt er da, freitags in einer Woche liegt das Magazin in der Zeitung. Das geht nicht anders (technische Gründe!), es macht meistens auch nichts. Was soll in neun Tagen auf dem Sektor „gelbliche Schleimpilze“ oder in der Tokioter U-Bahn Grundlegendes passieren? Da gibt es allenfalls ein gewisses, ähem: Restrisiko.
In diesem Fall kamen ein Erdbeben, ein Tsunami und ein atomarer Super-GAU dazwischen.
Nun sitzt der Kolumnist wieder am Schreibtisch. Es ist Mittwoch. Gerade hat er in der Zeitung gelesen, warum es unmöglich ist, dass aus dem Atomkraftwerk Fukushima Radioaktivität ins Trinkwasser gelangt, da erscheint auf dem Bildschirm die Zeile „Havariertes AKW Fukushima: Radioaktivität jetzt auch im Trinkwasser“.
Er hat bis nachts um halb zwei das Fernsehen verfolgt: immer neue Filme über schwimmende Autos, unter dem Wasserdruck zerberstende Häuser, Menschen in Turnhallen, Menschen im Müllgebirge. Ihm schwirrt der Kopf von Becquerel, Millisievert und den Ereignissen in den Reaktoren eins, zwei, drei, vier. Er kramt in Erinnerungen an März, April, Mai 1986, als – im Abstand von fünf Wochen – zuerst sein ältester Sohn zur Welt kam, dann der Reaktor von Tschernobyl in die Luft flog. Als die Kinder nicht mehr in den Sandkasten durften und wir die Schuhe vor der Haustür stehen ließen, damit kein Cäsium in die Wohnung kam. Als wir Jodtabletten auf Vorrat kauften. Als der Umweltminister vor laufender Kamera Molkepulver in sich hinein löffelte und sagte: „Des tut mir nix.“
Es gab fast keine Bilder damals. Der Fotograf Igor Kostin flog mit dem Hubschrauber über Tschernobyl, er machte ein grobkörniges Bild, dann öffnete er ein Fenster, um besser fotografieren zu können; die Radioaktivität löschte alles weitere, das er aufnahm. Im Fernsehen sah man Bilder von Aufmärschen zum 1. Mai in der Sowjetunion. Später, viel später: Fotos von geborstenem Beton, verlassenen Orten, blühenden Landschaften. Alles verstrahlt.
Nun sitzt der Kolumnist vor einem Stapel von Fotos, die er aus Zeitungen geschnitten hat: Hunderte von Autos, die das abfließende Meer wie Steinchen zu einem Muster geordnet hat; die Müllwüste, die von der Stadt Otsuchi geblieben ist; die junge Frau, die wegen einer Strahlenkon-tamination isoliert wurde und nun hinter einer Glasscheibe steht, auf der anderen Seite ihre Mutter, Zentimeter von ihr entfernt. Sie sehen sich sehr ähnlich. Es ist, als betrachtete die Mutter sich in einem Spiegel selbst als junge Frau.
Im Fernsehen war nachts ein alter Mann zu sehen, auf der Suche nach seiner Frau. Eine Helferin sagte, sie könne ihm nichts sagen und ihm nicht helfen, sie müsse sich um die anderen hier kümmern. Sie berührte ihn hilfloströstend am Arm. Er ging allein ein Treppenhaus hinunter, ein leichtes Beben im Gesicht, kein Weinen. Es war aber, als weinte er hinter diesem Gesicht.
Mittwoch. In neun Tagen wird dies hier zu lesen sein. Der Kolumnist weiß nicht, was in neun Tagen in Japan geschehen sein wird. Er würde am liebsten nichts schreiben, aber das ist nicht seine Aufgabe. Er würde gerne über etwas anderes schreiben, aber bitte: WAS? Also schreibt er dies hier. Es ist nicht wichtig angesichts dessen, was in neun Tagen hoffentlich nicht geschehen sein wird.
Illustration: Dirk Schmidt