Kürzlich war ich auf Sylt. Ich hatte das Buch, das ich gerade las, in München vergessen, betrat eine Buchhandlung und stand vor einem Regal mit Sylt-Krimis: Flammen im Sand von Gisa Pauly, Nah am Wasser von Jörn Ingwersen, Inselkoller von Reinhard Pelte, Der Tote am Hindenburgdamm von Kari Köster-Lösche, Als die Zeit im Sterben lag von Robert Clausen, Frauen lügen von Eva Ehley, Der Tote vom Kliff von Hannes Nygaard, Das Sylt-Virus von Silke Jensen, Totenschleuse von Dietmar Lykk …
Alles Krimis, alle auf Sylt. Und es ist nur eine Auswahl.
Mir wurde unbehaglich. Diese Insel ist doch nicht sehr groß. Anscheinend wird hier an jeder Ecke erschossen und zerstückelt, gekillt und erwürgt, zersägt und erschlagen. Später erzählte mir jemand von einer Studie des örtlichen Bauamtes, der zufolge die Einwohnerzahl Sylts in den kommenden drei Jahrzehnten von 21 500 auf unter 12 000 zurückgehen werde. Das erschien mir nicht unwahrscheinlich, wenn die hiesige Romanproduktion auch nur irgendetwas mit der Lebens- oder, sagen wir, Sterbenswirklichkeit des Eilands zu tun haben sollte.
Einige Tage später reiste ich in den Chiemgau und suchte dort eine Bahnhofsbuchhandlung auf. Was sah ich? Einen Tisch voller Chiemgau-Krimis: Draußen lauert der Tod von Wolfgang Schweiger, Blut und Wasser von Roland Voggenauer, Chiemsee-Blues von Thomas Bogenberger, bitte, das sind auch nur wenige von vielen, Mörderischer Chiemgauvon Günther Butkus nicht zu vergessen, eine Sammlung von Geschichten mehrerer Autoren. Ich las, Tatorte in diesem Buch seien »unter anderem« Aschau, Grassau, Riedering, der Chiemsee, Wasserburg, Wildenwart, Eggstätt, Prien, Traunstein, die Kraut-insel, Gut Immling, Trostberg, Übersee, Bernau, Ruhpolding, Bergen-Bernhaupten, Bergen-Hochfelln.
Das sind praktisch alle Orte im Chiemgau. Die Wahrheit aber ist: Es gibt keine Region mehr in Deutschland, über die sich nicht eine solche Liste anfertigen ließe. Es gibt Braunschweig-Krimis und Freiburg-Krimis, es gibt den Titel Der Ripper von Magdeburg und den Roman Der Ripper von Flensburg, ja, es gibt sogar das Buch Blasenwurst und tote Oma, das sind kulinarische Kurzkrimis mit Rezepten aus Sachsen-Anhalt. Es gibt einen geradezu unfassbaren Boom von Regionalkrimis. Anscheinend wird jeder Autor, der einen deutschen Verlag betritt, sofort aufgefordert, einen Regionalkrimi zu verfassen, den Verlegern fällt überhaupt nichts anderes mehr ein als Regionalkrimis zu verlegen. Sie haben eine Sammlung von Gedichten unter dem Titel Schlundschatten? Gehen Sie, kommen Sie mit einem Regionalkrimi wieder! Ihr Roman soll Die Morgenschmacht des Eichelhähers heißen? Klingt das nicht nach einem Regionalkrimi? Sie möchten Ihre Habilitationsschrift über Besamungsprobleme bei ostfriesischen Nebelrindern veröffentlichen? Machen Sie einen Regionalkrimi draus!
Natürlich hat dieser Trend, wie unschwer zu erkennen, mit der Liebe des Deutschen zu seiner Heimat, mit Wiedererkennungswerten und Identifikationssuche zu tun. Ist es nicht Sicherheit in zerbrechlichen Zeiten, die der Truchtlachinger in Truchtlaching und der Meppener in Meppen sucht? Wie aber soll er diese Sicherheit jeweils finden, wenn hinter der Dorflinde ein Kettensägenkiller, unterm Stammtisch der Gesichtshautabzieher und am Froschteich ein Serienlurch lauert? Nur mal so als Frage.
Ich fürchte, das Schlimmste haben wir noch vor uns. Was ist, falls der deutsche Verleger entdeckt, dass sich nicht nur Krimis regionalisieren lassen? Was wird sein, wenn die Titel der Saison heißen: Das Allgäu schafft sich ab oder Auf eine Knackwurst mit Helmut Schmidt oder Wer bin ich und wenn ja, warum ein Niebüller? Wenn Fifty Shades of Grey im Oberpfälzer Dialekt erscheint?
Ich sage: Erst wenn der letzte deutsche Lehrer und der letzte deutsche Journalist einen Regionalkrimi geschrieben haben werden, werdet ihr merken, dass man’s auch übertreiben kann. Außerdem beantrage ich Titelschutz für Tod auf dem Buchmarkt.
Illustration: Dirk Schmidt